Neubeginn

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„Was heißt, fürs Erste?“, schaltete Adrian sich sofort ein und verengte die Augen.

„Der Chief stellt mich sozusagen in Probezeit ein“, versuchte Hope das offensichtliche Misstrauen des Polizeichefs in ihre Fähigkeiten mit netten Worten zu kaschieren.

Adrian schüttelte verständnislos den Kopf. „Das kann ja wohl nicht sein Ernst sein! Es war allen immer klar, dass du Harpers Nachfolge antreten wirst. Das ist wirklich das Letzte.“

Hope rückte unruhig auf ihrem Stuhl. Detective Adrian Glover war ein sehr guter Freund und absolut loyal gegenüber seinem Team, aber dennoch war es in dieser Situation angebracht, den Mund zu halten und abzuwarten. Sie stand unter ständiger Beobachtung, das hatte der Chief ihr deutlich zu verstehen gegeben und Hope wollte auf keinen Fall, dass ihre Freunde Schwierigkeiten bekamen, weil sie sich zu sehr hinter sie und damit gegen die Führungsebene stellten. „Es ist schon okay“, versuchte sie die Sache abzuschwächen. „Ich denke, es ist auch für Chief Rice eine außergewöhnliche Situation, mit der er nicht recht umzugehen weiß. Wir sollten uns allen etwas Zeit geben.“ Das war gelogen. Chief Rice würde seine Meinung bezüglich Frauen in Männerberufen niemals ändern. „Wir sollten uns jetzt erst einmal auf die nächsten Tage konzentrieren“, schlug Hope vor. „In der Hoffnung, dass die bösen Buben Shreveports uns ein paar Stunden Galgenfrist gewähren, bevor sie wieder zuschlagen, wäre es mir ein Anliegen, dass wir uns als Truppe neu zusammenfinden. Wir haben zwei Kollegen verloren. Keiner von uns hätte jemals für möglich gehalten, dass in Bertram ein so versessener, kranker Geist schlummert.“ Das zustimmende Nicken ermutigte Hope, weiterzusprechen. Du machst das gut, spornte sie sich an. Die richtigen Worte kommen automatisch. „Conrad“, sie holte tief Luft und blinzelte ein paar forsche Tränen weg. „Er wird uns sehr fehlen.“ Er fehlt mir! „Ich… werde niemals seinen Platz ausfüllen können, wie er es getan hat. Aber ich gebe dennoch mein Bestes.“

Nach einem kurzen Schweigen, in dem wohl jeder noch einmal für sich Abschied von ihrem langjährigen, hochgeschätzten Captain nahm, stellte Adrian klar: „Du bist ab sofort der Boss, du sagst, was gemacht wird, Hope. Und du weißt, dass wir alle immer hinter dir und deinen Entscheidungen stehen werden!“

„Wir unterstützen dich, wo wir können“, pflichtete Marc ihm bei. „Hey, wir sind doch ein Team! Und wenn wir ehrlich sind, warst du doch schon die letzten Jahre stets die Besonnene, die Denkerin und Planerin. Conrad hat sich voll und ganz auf dich verlassen. Du wirst einen prima Job machen!“

Grace stand auf und schlang ihre Arme um Hope, die vor Rührung nur noch verschwommen durch den Tränenfilm ihrer Augen sehen konnte, und versicherte ihr: „Wir schaffen das. Du bist unser neuer Captain, auch wenn du diesen Titel nicht von offizieller Seite hast und wir dich nicht so nennen dürfen.“

„Bleiben wir bei Hope“, schniefte Hope und nahm dankbar das von Marc angebotene Taschentuch entgegen. „Wir schaffen das“, wiederholte sie dann und fühlte sich unglaublich wohl, so gute Freunde zu haben.

Montag, 02. November, 15.30 Uhr

„Herein.“ Hope war überhaupt nicht darauf vorbereitet, dass jemand an ihrem ersten Arbeitstag in neuer Position an ihre Tür klopfte. Eigentlich hatte sie gehofft, die erste Woche ruhig angehen zu können. Schonfrist sozusagen. Ließen das nicht sogar Straftäter neuen Gefängnisleitern zukommen?

Adrian, Marc und Grace schrieben die Berichte des letzten Falls, um zumindest auf sachlich-korrekter Ebene mit dem, was geschehen war, abzuschließen. Hope selbst befand sich noch immer im Zwiespalt mit sich selbst darüber, ob sie Conrads Büro zu ihrem eigenen umgestalten oder einfach so belassen sollte, wie es war. Was sie definitiv benötigte, war ihr Computer. Conrads Maschine war aus dem vorigen Jahrhundert und dementsprechend laut und langsam. Damit endete jedoch ihre Entschlussfreudigkeit.

Die Tür fiel auf und das erste, was Hope entgegenströmte, war eine dichte Wolke süßlichen Parfums, welches offenbar über den abgestandenen Zigarettenrauch hinwegtäuschen sollte, der unterschwellig mitschwang.

Hope blinzelte und erkannte die in Nerz ummantelte Dame erst, als sie unmittelbar vor ihrem Schreibtisch zum Stehen kam. „Was haben Sie im Büro meines Mannes zu suchen?“, keifte die Frau ohne Umschweife und warf dabei ihre künstlich zurechtgemachte Dauerwelle in den Nacken.

Hope legte langsam und mit Bedacht den Stift zurück auf den Schreibtisch, den sie kurz zuvor aufgenommen hatte, um die Initialen C.H. näher zu betrachten, die am oberen Ende in vornehm geschwungener Schreibschrift eingraviert waren. Conrad Harper. Ging man die Sache jedoch von hinten nach vorn an, so ließe sich auch problemlos ein Cromworth, Hope hineingeheimnissen. „Mrs. Harper, ich wusste nicht, dass Sie heute vorbeikämen, um die Sachen Ihres Mannes abzuholen“, entschied Hope sich für einen diplomatischen Weg ohne Gegenangriff. „Sie hatten sich nicht bei mir angemeldet, oder?“

„Bei Ihnen?!“ Mrs. Harpers Stimme schien Purzelbäume zu schlagen, so dass sich Hope unwillkürlich ein Vergleich zu Mozarts berühmter Figur der Königin der Nacht aufdrängen wollte. „Nein. Niemals. Das ist das Zimmer meines Mannes und ich werde mich zu keiner Zeit bei Ihnen anmelden oder gar um Ihre Erlaubnis betteln, wenn ich die Habseligkeiten meines liebsten Conrad hier abholen möchte.“ So bist du mei-ne Toch-ter ni-mme-er-mehr. Hahahaha-hahaha. Hahahaha-hahaha. Hahaha-ha. Haha. Haha-haa. Mrs. Harper presste sich bei der Erwähnung ihres verstorbenen Ehemannes eine Träne aus dem mit übertrieben blauen Lidschatten angepinselten Auge und wischte diese sogleich theatralisch mit einem bestickten Seidentaschentüchlein ab, bevor der Mascara verschwimmen und ihr Aussehen ruinieren konnte. Fühlt nicht durch dich – Sarastro Todesschmerzen. Sarastro Todesschmerzen…

Hope hob die Brauen. Hörte das denn heute überhaupt nicht mehr auf? Nur Anfeindungen und Geringschätzungen. Was hatten nur alle gegen sie? Habe ich was verpasst? Steht auf meiner Stirn: Bitte mach mich fertig, das gefällt mir!?

„Nun, genau genommen ist das jetzt mein Büro…“, versuchte Hope freundlich zu erklären und sich dabei den ausladenden Mantel als weitschweifenden, an einen abendlichen Horizont erinnernden, sternbesetzten Umhang aus Der Zauberflöte vorzustellen. An Mrs. Harper war eine bilderbuchreife, arrogante Diva verloren gegangen. Dafür hätte sie definitiv großes Talent aufgebracht.

Mrs. Harper zog eine Grimasse. „Nun, genau genommen“, wiederholte sie dreist, „glaube ich das nicht. Jedenfalls nicht nachdem, was man so hört…“

Hope war nahe daran, in die Luft zu gehen und die düstere Königin in den Abgrund zu stürzen. Oder besser noch, in das gleißende Licht der Mittagssonne… Mit mühevoll unterdrücktem Zorn sagte sie drohend: „Verlassen Sie sofort dieses Büro. Und wenn Sie das nächste Mal planen, die Habseligkeiten Ihres Mannes heimzuholen, dann vereinbaren Sie vorher einen Termin mit mir!“

Die farbkastenroten Lippen verzogen sich zu einem noch breiteren Grinsen und Mrs. Harper blieb fest an ihrem Platz stehen. „Ich denke nicht, dass ich mir das von einem Flittchen wie Ihnen sagen lassen werde. Wie oft mussten Sie mit meinem Mann schlafen, bis Sie diesen Posten bekommen haben, hm? Zweimal die Woche? Täglich?“

Hope fiel vor Erschütterung der Unterkiefer herab. Sie war sprachlos ob dieser bodenlosen Frechheit. Regelrecht entsetzt. Sie spürte, wie ihre Zunge Worte zu formen versuchte, doch ihr Gehirn war zu blockiert, um entsprechende inhaltliche Informationen auszusenden, und ihr Innerstes zu sehr damit beschäftigt, Tränen der Resignation zurückzudrängen. Schließlich bracht sie mit bebenden Lippen hervor: „Was maßen Sie sich an, mich derart zu beleidigen? Raus hier. Sofort!“ Mit einer entschlossenen Bewegung war Hope in der Höhe und stampfte mit ausladenden, wütenden Schritten zur Tür, um sie aufzureißen und dieser unverschämten Person den Ausgang zu weisen. „Raus!“, wiederholte sie noch einmal, so fest sie nur konnte.

„Ich denke ja gar nicht daran, dieses Zimmer zu verlassen. Nicht ehe ich die Sachen meines Mannes zusammengepackt habe“, erwiderte Mrs. Harper ruhig und sichtlich erheitert über Hopes aufgebrachte Reaktion.

Hope bebte vor Wut über ihre eigene Hilflosigkeit. Eine solch dreiste Frau war ihr noch selten untergekommen. Am liebsten hätte sie ihre Pistole gezückt und die verwöhnte, hochnäsige Dame damit nach draußen befördert. Doch das wäre mit Sicherheit bereits das erste Fehlverhalten gewesen, auf das Chief Solomon Rice geradezu fanatisch wartete. Ob er Mrs. Harper sogar persönlich hergeschickt hatte, um sie zu provozieren?

In diesem Moment tauchte vom Flur her Adrian auf. „Gibt es hier ein Problem?“, fragte er mit seiner sonoren, ruhigen Stimme.

Hope schluckte, um sich zu sammeln. „In der Tat“, bestätigte sie dann mühevoll beherrscht. „Mrs. Harper weigert sich trotz mehrfacher, deutlicher Aufforderung, mein Büro zu verlassen.“

Adrian runzelte die Stirn und schien die Reichweite des Unausgesprochenen abzuschätzen. Schließlich wandte er sich an die Lady in Pelz und sagte mit freundlicher Schärfe: „Mrs. Harper, wir alle bedauern Ihren Verlust zutiefst und sicher können wir alle nicht im Mindesten nachfühlen, wie Ihnen nach dem Tod Ihres Gatten zumute ist. Doch ich muss Sie dennoch leider bitten, jetzt zu gehen. Selbstverständlich können Sie jederzeit mit Detective Cromworth oder mit mir einen neuen Termin vereinbaren, damit wir Sie auch gebührender empfangen können als unter den momentanen Turbulenzen, die hier im Präsidium Einzug gehalten haben. Es tut uns sehr leid, aber Sie sehen ja, dass bei uns auch einiges neu geordnet werden muss und dass Ihr Mann auch hier eine große Leere hinterlassen hat.“

 

Mrs. Harper schürzte die Lippen und machte auf ihrem hochhackigen Absatz kehrt. Langsam und gemächlich stöckelte sie auf die beiden zu, musterte Hope vom tiefschwarzen Haaransatz bis zu den uneleganten Sneakern und sagte dann mit unverhohlener Geringschätzung: „In der Tat. Das sehe ich.“ Dann warf sie sich den Nerz fester um die Schultern und stolzierte hoch erhobenen Hauptes davon, ohne noch einen Blick zurückzuwerfen.

„Alles in Ordnung?“, fragte Adrian, nachdem Mrs. Harper um die Ecke gebogen war und lediglich noch der Duft nach diesem schrecklich süßen Parfum an ihren Auftritt erinnerte.

Hope nickte. Sie fühlte sich elend und zittrig, aber sie war erleichtert, dass Adrians autoritäres Auftreten den unliebsamen Gast verscheucht hatte.

„Du bist ganz blass“, stellte Adrian fest und in seinen grauen Augen lag Besorgnis.

Hope wankte mit unsicheren Schritten zurück ins Büro und ließ sich auf dem nächstbesten Stuhl nieder. „Sie hat mich als Flittchen bezeichnet“, sagte sie noch immer verständnislos. „Nach allem, was man so hört, hüpft sie mit jedem Kerl ins Bett und nennt mich ein Flittchen. Mich!“ Sie spürte heiße Tränen in den Augen brennen und brach abrupt ab, bevor sich ihre Stimme überschlug. Wieso ärgerte es sie sehr, was diese Frau dachte? Hope wusste, dass sie sich nichts vorzuwerfen hatte. Ihr Verhältnis zu Conrad war niemals ein derartiges gewesen.

Adrian gab ein verächtliches „Pah“ von sich. „Solch eine Frechheit. Du könntest Anzeige wegen Beamtenbeleidigung erstatten. Oder wegen Verleumdung, da sind die Strafen höher gesteckt. Was bildet diese Frau sich überhaupt ein? Plustert sich auf wie eine Gräfin, und in Wirklichkeit ist sie die einzige, die Conrad keine ehrliche Träne hinterherweint.“

In diesem Punkt konnte Hope ihrem Kollegen nur zustimmen. „Danke“, flüsterte sie schließlich.

„Ach, schon gut.“ Adrian winkte ab. „Ich bin sicher, du wärst auch alleine mit ihr fertig geworden.“

Hope musste unwillkürlich grinsen. „Ich war drauf und dran, sie mit meiner Waffe durchs gesamte Haus zu scheuchen.“

Adrian lachte. „Na, das hätte ich gern gesehen. Nächstes Mal schalte ich mich nicht ein.“

Hope atmete tief ein und wurde wieder ernst. „Vielleicht doch“, sagte sie. „Bei dem kleinsten Fehltritt wird Chief Rice mich in die Wüste schicken. Er wartet nur darauf, dass ich versage.“ Sie schwiegen einige Augenblicke und in Hope keimte wieder der Gedanke, welch ungeheures Glück Samantha Carrington hatte, Adrian Glover ihren Freund nennen zu dürfen. Verlobten, verbesserte sie sich mit Erinnerung an den Ring an dem Finger der jungen Brünetten, den sie bei Conrads Beerdigung stolz getragen hatte. Samantha war im letzten Jahr zu einer wirklich guten Freundin geworden und Hope war nicht der Typ Frau, der davon unzählige besaß. Sie war äußerst vorsichtig in der Auswahl ihrer Vertrauenspersonen. Sie gönnte den beiden Verliebten ihr Glück von Herzen, doch ihre unbeschwerte Fröhlichkeit führte Hope stets die Leere in ihrem eigenen eintönigen Leben vor Augen. Diesen Platz in ihrem Herzen, den noch niemals jemand auszufüllen vermocht hatte. Ob es tatsächlich für jeden Topf einen passenden Deckel gab?

„Hope, ich würde heute gerne etwas früher gehen. Sam hat ihre Präsentationsprüfung und ich möchte sie mit einem selbst gekochten Abendessen überraschen.“ Was für ein verflucht gut aussehender Traummann, der auch noch wusste, was Frauen wollen! Das Leben war einfach ungerecht…

„Selbstverständlich.“ Hope räusperte sich, um mit ihren Gedanken in das Hier und Jetzt zurückzukehren. „Ach Adrian, eines noch. Ich habe hier die Akten der zwei neuen Kollegen, die uns zugeteilt wurden. Sie werden unser Team ab nächster Woche komplettieren.“

Adrian nickte. „Okay“, sagte er langsam. „Und wo liegt das Problem?“ Er war wirklich extrem aufmerksam.

„Einer der beiden ist bereits länger dabei“, begann Hope umständlich. „Detective Christian Taylor. Versetzung. Aber der andere scheint ein echter Frischling zu sein. Ich selbst sehe mich nicht in der Lagen, mich seiner Einführung zu widmen, weil ich das alles selbst erst auf die Reihe kriegen muss. Grace ist mir aber noch zu jung; ich habe Angst, es könnte sie überfordern, einen Neuling als Partner zu haben.“

„Verstehe“, sagte Adrian. „Es ist für Marc und mich kein Problem, für einige Zeit andere Partner zu haben, falls es das ist, was du mir mitteilen möchtest. Schließlich sind wir nicht verheiratet“, fügte er augenzwinkernd hinzu.

Hope atmete erleichtert aus. „Ich danke dir.“

Adrian schüttelte abwehrend den Kopf. „Nun komm schon, Hope. Wir sind doch ein Team. Einer für alle – Alle für einen. Außerdem gibt Marc bestimmt einen guten Ausbilder ab. Der wird mit unserem Frischling schon fertig. Oberlehrer sein, wird ihm Spaß machen. Und Grace und ich kommen auch prima miteinander klar. Mach dir nicht so viele unnötige Sorgen. Das wird schon alles. Du hast viel zu wenig Selbstvertrauen. Du wirst Conrads Platz perfekt ausfüllen. Captain!“

Hope schmunzelte unter einem plötzlichen Anfall von Optimismus und Tatendrang. „Ich kriege diesen Titel! Ob es dem Chief passt oder nicht.“

„Das ist die richtige Einstellung!“, stimmte Adrian ihr zu. „Wir lassen uns hier nicht unterkriegen. Von keinem!“

Mittwoch, 04. November, 8.30 Uhr

Nach dem ersten Erfolgserlebnis mit der neuen Wohnung, dem Glücksgriff einer Vermieterin wie Mrs. Weyler und einer gehörigen Portion Schlaf, war Chris guter Dinge, auch eine geeignete Vorschule für seine Tochter zu finden. Es war Mittwoch und für kommenden Montag war sein erster Arbeitstag festgelegt. Demnach war es höchste Zeit, eine Betreuungsinstitution für Elise ausfindig zu machen.

Auf dem Weg zwischen Finn Street und Texas Avenue, in der sich das Shreveport Police Department befand, gab es drei Einrichtungen, die über Betreuungsangebote für Kinder im Alter von drei bis fünf Jahren verfügten: das Rainbow-House, den Little People’s Kindergarten und die Villa Sunshine, die zwar sämtliche Verbindungen zur Holy Church of Scientology abstritt, sich gegenteilige Meinungen jedoch hartnäckig hielten. Chris setzte die Villa Sunshine deshalb vorsichtshalber auf den letzten Platz der möglichen Optionen. Zwischen den beiden anderen ließ er seine Tochter wählen und anhand der Bilder, die er für Elise auf sein Tablet zauberte, entschied sich das Mädchen für das farbenfrohe Gebäude des Rainbow-House.

„Ich will aber das rote Kleid anziehen!“, schimpfte Elise und verschränkte die Arme vor der Brust.

„Aber das ist viel zu dünn“, erklärte Chris mit Blick auf die Uhr. In einer knappen Stunde war er mit der Leiterin des Rainbow-House verabredet. „Für ein leichtes Sommerkleidchen ist es heute zu kalt. Was hältst du von dem grünen, wenn es unbedingt ein Kleid sein muss?“

„Ich hasse grün!“, schmollte Elise und stampfte mit dem Fuß auf.

Chris verdrehte die Augen. Frauen waren also schon als kleine Mädchen so schwierig, wenn es um die Auswahl des geeigneten Outfits ging. „Ich könnte dir grüne Bänder ins Haar flechten“, schlug er vor.

Noch vor wenigen Monaten hätte er jeden anderen Mann belächelt, der die Fertigkeit besaß, für Männerhände ungeeignete Frisuren zu kreieren. Männlich war das jedenfalls nicht. Er seufzte. „Elli“, bat er, doch das kleine Mädchen blieb eisern.

„Wir haben auch rosa Haargummis“, hielt sie dagegen und schob trotzig das Kinn vor.

Wie ihre Mutter…

Chris wehrte den Gedanken sofort ab. „Dann eben rosa und rot“, gab er sich geschlagen und kramte in Elises Kinderkoffer nach einem weißen Wolljäckchen, das neben den üblichen Rüschen-verspielten Verzierungen über jede Menge bunter Flecken verfügte, die jedem Waschmittel standhaft trotzten. „Aber plus Jacke“, sagte er etwas strenger. „Deal?“

Elise überlegte. „Deal“, willigte sie schließlich ein und schlüpfte in Kleid und Jäckchen.

Chris setzte Neue-Klamotten-kaufen als einen Punkt auf seine imaginäre To-Do-Liste, von der er gerade das Stichwort Wohnung-finden gestrichen hatte. Zwei Wochen zwischen dem Ende des einen und dem Beginn eines neuen Vollzeitjobs waren einfach nicht genug. Insbesondere dann nicht, wenn man seine gesamte Vergangenheit zurückließ.

„Gibt es dort jeden Tag einen Regenbogen?“, fragte Elise, während sie sich umständlich in eine Strumpfhose quälte.

Es dauerte einige Augenblicke, bis Chris begriff, wovon sie sprach. „Im Rainbow-House?“, fragte er nach. „Bestimmt.“

Elise strahlte. „Wohnt der Regenbogen dort?“

Chris lachte. „Wahrscheinlich, ja. Oh je, Süße, du hast die Strumpfhose verkehrt herum. Zieh sie nochmal aus.“ Die Kunst des Strumpfhosen-Anziehens gehörte ebenfalls nicht zu den Eigenschaften, über die ein Mann verfügte. Wie hatten die feinen Kerle im Mittelalter das nur ausgehalten?

Elise gehorchte und überließ es ihrem Daddy, die Sache in Ordnung zu bringen. „Wenn das stimmt“, überlegte sie laut, während Chris sich abmühte, das enge, gummiartige Kleidungsstück über ihre kleinen Füße und Beine zu stülpen, „dann bringe ich dir den Goldschatz mit. Dann können wir uns ganz viele Süßigkeiten kaufen. Und du musst nicht mehr arbeiten gehen.“

Da hätte ich definitiv nichts dagegen… „So ein Topf voll Gold wäre wirklich prima“, sagte Chris und gab den Versuch auf, die Strumpfhose vollkommen frei von Falten zu kriegen. „Aber zuerst sollten wir dafür sorgen, dass wir nicht zu spät kommen.“

Mittwoch, 04. November, 09.30 Uhr

Das Rainbow-House in der Milam Street machte seinem Namen alle Ehre. Die Außenfassade war in frohem, strahlendem Gelb gestrichen, das Dach mit karmesinroten Ziegeln gedeckt. Die Eingangstür himmelblau, die Fensterrahmen waren von einem saftigen, dunklen Grün. In grellem Orange strahlten die beiden Säulen, die das kleine Vordach trugen und gleich zwei Zinnsoldaten den Eingang flankierten, und in lila Lettern prangte in comicähnlicher Schrift ‚Welcome to Rainbow-House‘. Einzig ein Lebkuchenhaus hätte womöglich noch als größerer Anzugsmagnet für Kinder wirken können.

Elise stand mit weit aufgerissenen Augen und offenem Mund staunend auf dem Gehsteig. „Was steht da, Daddy“, fragte sie, mit ausgestrecktem Arm auf den Schriftzug zeigend.

„Herzlich Willkommen im Rainbow-House“, las Chris.

Die Tür war verschlossen und auf sein Läuten hin erfolgte zunächst keine Reaktion. Elise trat bereits unruhig von einem Fuß auf den anderen und wollte gerade anfangen, zu nörgeln, als eine Frau mittleren Alters mit knallpinkem Kostüm und lustiger Hochsteckfrisur an die Tür kam und von innen öffnete. Ihr Lächeln sprühte vor Lebensfreude. „Sie müssen die Taylors sein“, sagte sie strahlend. „Herzlich Willkommen im Rainbow-House.“ Sie reichte Chris die Hand, ging dann in die Hocke, um auf Augenhöhe mit Elise zu sein, und begrüßte auch sie mit Händedruck. „Du bist also Elise? Ich finde deinen Namen wunderschön. Ich bin Maya.“

„Hallo Maya“, sagte Elise weniger schüchtern als Chris vermutet hatte.

„Na, dann kommt doch erst einmal herein“, schlug Maya vor und führte Vater und Tochter durch einen schmalen Gang, von dem zu beiden Seiten verschiedenfarbige Türen abgingen. An den hellbeige getünchten Wänden hatte sich eine Vielzahl Kinder durch bunte Abdrücke ihrer kleinen Hände verewigt.

„Unser Kindergarten hat drei Gruppen“, begann Maya zu berichten. „Die Blue Birds, die Red Rabbits und die Green Guyneas. Das ist die Gruppe, in der ich einen Platz für dich habe“, erklärte Maya und wies auf eine grüne Tür mit einem großen Bild eines Meerschweinchens. „Das gelbe Zimmer dort hinten ist mein Büro. Ich würde vorschlagen, dass ich dich zuerst in deiner Gruppe vorstelle und du dich dort umschaust. Währenddessen kann ich mit deinem Vater noch ein paar langweilige Erwachsenendinge besprechen und danach holt er dich wieder hier ab. Megan ist sehr nett. Sie und ich betreuen die Green Guyneas.“

Elise warf ihrem Vater einen fragenden Blick zu, der offenbar heißen sollte: Ist das okay, was Maya vorschlägt? Chris nickte beruhigend. „Es dauert auch bestimmt nicht lange“, versprach er und hielt sich im Hintergrund, während Maya die grüne Tür öffnete und mit Elise an der Hand in eine lärmende Gruppe Kinder trat.

Der Gruppenraum war größer als er von außen den Anschein hatte und verfügte über einen riesigen Mal- und Basteltisch, eine Puppenkuschelecke, eine Baunische, eine Lesecouch und über jede Menge weiterer Spielsachen. Ein absolutes Traumparadies, das jedes Kinderherz schneller schlagen ließ. Über allem dominierte ein gigantischer Regenbogen, aus klitzekleinen Mosaiksteinchen zusammengeklebt, die Decke und spannte sich über zwei gegenüberliegende Wände bis zum Boden. Wow, staunte Chris und hob beeindruckt die Brauen. Hier steckte so viel Liebe und Hingabe in jedem Detail, dass das Große und Ganze wirklich atemberaubend war.

 

Während er noch immer fasziniert die Aufmachung des Gruppenzimmers begutachtete, hatte Elise es sich bereits, an der Hand eines anderen Mädchens, mit ein paar Plastikzootieren in der Bauecke bequem gemacht.

Eine Frau mit blonder Kurzfrisur und lila Haarspitzen winkte ihm lachend zu. Megan, kombinierte Chris und winkte vorsichtig zurück.

Die beiden Erzieherinnen besprachen sich kurz, dann kam Maya zurück und schloss die Tür hinter sich. Schlagartig war der Lärm gedämmt und Chris fühlte sich, als ob er gerade aus einer laut beschallten Diskothek ins Freie getreten wäre.

„Folgen Sie mir, Mr. Taylor“, forderte Maya ihn auf und ging zielstrebig auf die kanariengelbe Tür zu, hinter der sich ein kleines Büro voll farbenfroher Regale, Möbel und Ordner auftat.

„Ihr Haus macht seinem Namen wirklich alle Ehre“, stellte Chris fest, während er sich auf einem roten Stuhl niederließ.

Maya nickte stolz. „Farben sind unheimlich wichtig. Sie bringen Abwechslung und Fröhlichkeit in unser Leben. Aber kommen wir zum Formellen. Sie sagten am Telefon, Sie seien alleinerziehend?“

Chris nickte. „Ja, das stimmt.“ Mit der folgenden Pause versuchte Maya wohl zu bezwecken, dass er ihr weitere Details zu dieser Situation preisgab, doch Chris konnte solche unausgesprochenen Andeutungen meisterhaft ignorieren.

Als die Pause zu lange zu werden drohte, räusperte sich Maya und fuhr fort: „Und ich nehme an, Sie sind berufstätig?“

„Richtig. Ich arbeite bei der Polizei.“

Ein „Oh“ in zweideutigem Tonfall. „Das bedeutet, Sie arbeiten Schicht?“

„Ich hoffe nicht“, sagte Chris. Er konnte auf eine Standpauke verzichten, die ihm ins Gewissen reden sollte, dass er als alleinige Bezugsperson für seine Tochter auch noch unregelmäßige Arbeitszeiten hatte. „Jedenfalls nicht regelmäßig“, fügte er vorsichtshalber hinzu.

Maya zog die Stirn kraus, gab sich aber mit der Aussage zufrieden. „Unsere Betreuungszeiten dauern von sieben Uhr früh bis fünf am Abend. Freitags ist bereits um halb zwei Schluss. Im August und im Dezember ist das Rainbow-House für jeweils drei Wochen geschlossen.“

„Das passt“, sagte Chris und verteilte im Kopf bereits seinen Jahresurlaub.

„Prima. Zum finanziellen Teil… Unser Haus ist geringfügig teurer als die umliegenden Einrichtungen. Das rührt daher, dass…“

„Wenn es Elise hier gefällt, dann werde ich sie anmelden“, versuchte Chris eine lange Sache kurz zu machen. Geld spielte in Bezug auf seine Tochter keine Rolle.

„Na dann“, sagte Maya abschließend. „Ich gebe Ihnen die Anmeldedokumente mit. Wir können Ihre Tochter gemeinsam abholen und Sie besprechen das in aller Ruhe zu Hause mit ihr. Ich warte dann morgen auf Ihren Anruf.“

Freitag, 06. November, 13.30 Uhr

Es gab noch so vieles zu erledigen und die Zeit raste. Chris hatte zwar bereits den kürzesten Weg zum Supermarkt und eine preisgünstige Tankstelle mit Imbiss in der Nähe gefunden. Es gab zwei Spielplätze, die für Kinder in Elises Alter geeignet waren; bei keinem von ihnen würde er sie jedoch unbeaufsichtigt spielen lassen. Ein Frisör bot seine Dienste direkt in der Finn Street und nur drei Häuser entfernt an, so dass er sich am Morgen noch einen neuen Haarschnitt gegönnt hatte, bevor er nach dem Wochenende seinen neuen Job begann. Die Wartezeiten auf den Ämtern hatten ihm täglich einen Strich durch die straffe Planung gemacht, doch mit dem Ende der Woche waren Elise, er und sogar das Auto erfolgreich umgemeldet. Christian Taylor und seine Tochter waren nun offizielle Bürger der Stadt Shreveport.

Der wichtigste Punkt, der für dieses Wochenende noch anstand, lautete: einen Taco-Bell finden, denn Elise liebte die mexikanischen Köstlichkeiten, die diese Fastfoodkette anbot.

Als Chris sein glückliches, blondes Mädchen nach Kindergartenende abholte, kam ihm in den Sinn, dass sie ihm einiges voraus hatte. Sein anstehender Neubeginn beim Shreveport Police Department lag ihm schwer im Magen. Während Elise diese Hürde mit Leichtigkeit genommen hatte, bereitete Chris allein der Gedanke an neue Kollegen, neue Fälle, neue Vorgesetzte Bauchschmerzen. Ein neuer Partner…

Es war nicht einfach, jemanden zu finden, bei dem die Chemie stimmte, das Ganze harmonierte, so dass man über Jahre hinweg den Großteil des Tages mit ihm verbringen konnte. In Milwaukee hatte Chris damals großes Glück gehabt. Auf eine solch glückliche Wiederholung konnte er wohl nicht hoffen.

„Wir haben heute gebacken, Daddy“, erzählte Elise in kindlicher Aufregung. „Einen Regenbogenkuchen. Der hatte alle Farben. Rot, gelb, lila, blau, grün… Sogar orange!“

Chris grinste. Lebensmittelfarbe… aber wenn es die Kleinen nun einmal glücklich machte. Skittles waren auch nicht gesünder und diese Bonbons aß er für sein Leben gern.

„Habt ihr dafür extra einen Regenbogen vom Himmel geholt?“, fragte Chris in vorbildhafter Vatermanier.

„Ne-in!“, sagte Elise und schlug sich die Hand an die Stirn. „Ach Daddy. Du weißt ja gar nichts.“

Er lachte. „Dann wirst du es mir wohl erklären müsse. Aber zuerst musst du mir verraten, ob der Kuchen dich so satt gemacht hat, dass du heute keine Lust mehr auf Taco-Bell hast.“ Vorsorglich hatte er den Gilbert Drive bereits ins Navigationssystem seines Wagens eingespeichert. „Und ein paar neue Klamotten müssen wir dir auch noch besorgen. Was hältst du von einem lustigen Vater-Tochter-Tag?“

Elises Augen strahlten noch heller als zuvor. „Juhu! Taco-Bell!“, jubelte sie.

Freitag, 06. November, 17.55 Uhr

Eine Woche voll Höhen und Tiefen lag hinter ihr und als Hope sich auf ihr weiches, weißes Kuschelsofa fallen ließ, fühlte sie sich erschöpfter als nach einer Woche voller Nachtschichten. Sie schloss die Augen und lauschte der Stille.

Wenn man davon absah, dass der pubertierende Marvin aus der Nachbarwohnung seine Stereoanlage wieder einmal auf Schwerhörigkeitsmodus eingestellt hatte, war es in dem großen Mehrfamilienhaus tatsächlich ruhig. Noch zu früh für lautes Fernsehprogramm, aber bereits zu spät zum Bohren oder Staubsaugen.

Noch zwei Tage zum Vorbereiten auf den großen Tag am Montag. Es war die erste, richtige Prüfung, die Hope zu bestehen hatte: die Einführung zweier neuer Kollegen. Und sie war die Chefin, der Boss, der Captain ohne Titel. Ihr Team wusste ihre Leistungen zu schätzen, doch bei den beiden Neuen würde sie sich ihren Status erst verdienen müssen. Dabei bereitete ihr der Frischling weniger Kopfzerbrechen als der gestandene Cop mit der frisierten Akte. Er war älter als sie und ganz sicher würde er sie nicht einfach so als Vorgesetzte akzeptieren, wie sie das von einem jüngeren Kollegen erwartete. Hoffentlich ist er wenigstens nicht so ein chauvinistisches Arschloch wie Rice…

Das erste, lautere Geräusch, das an ihr Ohr drang, war das Knurren ihres eigenen, hungrigen Magens. Hope überlegte, dass sie viel zu müde und viel zu faul dafür war, sich selbst an den Herd zu stellen. Ein Anruf beim China-Restaurant würde zu einem leckereren Abendessen führen als eine Stunde ihrer eigenen mittelmäßigen Kochkünste. Darüber hinaus hatte sie auch kaum Vorräte im Kühlschrank. Ihre Mutter hätte die Hände über dem Kopf zusammengeschlagen.

Hope setzte sich auf und blätterte durch die Post der vergangenen Tage, die sie allesamt unbesehen auf dem Wohnzimmertisch gesammelt hatte. Dabei war auch ein Faltblatt ihres Lieblingschinesen gewesen… Neben diverser Rechnungen, fiel ihr ein Brief in die Hände, der die Absenderadresse eines Notariats vorwies. Hope runzelte die Stirn und schließlich siegte ihre Neugier über den Hunger. Mit den Fingern riss sie ungeschickt den Umschlag auf, so dass die Briefmarke in Mitleidenschaft gezogen wurde, was jedem Philatelist das Herz gebrochen hätte.