Verrat der Intellektuellen

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6. Galionsfigur der Neuen Rechten





Ernst Jünger, geadelt von Ernst Nolte, Karl Heinz Bohrer, Botho Strauß und Frank Schirrmacher, wurde in der Bundesrepublik zur Galionsfigur der Rechten, und er ist es noch immer. In der Wochenzeitung »Junge Freiheit«, dem wichtigsten Publikationsorgan der Neuen Rechten, spielt er die Rolle eines Säulenheiligen. Mit Jüngers Foto in einer ganzseitigen Anzeige warb sie zu dessen hundertstem Geburtstag.

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 Neben dem »wehrhaften« Jünger stellt Götz Kubitschek, Redakteur der Sonderbeilage, in magisch-mythischer Beschwörung den mythisch-magischen Denker der Gegenaufklärung in den Vordergrund: »Ernst Jünger spricht aus, was wir ahnen: das Vorhandensein eines nicht faßbaren Hintergrundes, den man nie ›haben‹ kann, sondern höchstens ab und zu berühren.«

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 Diesen angeblich »nicht faßbaren« »Hintergrund« beschreibt der rechte Historiker Karlheinz Weißmann als Wahrnehmen von Transzendenz: »Jünger war ein Nationalist, aber er war von vornherein und immer mehr als das … Zu Jüngers Botschaft gehörte immer, daß es gut bleibt, ›zu ahnen, daß hinter den dynamischen Übermaßen unserer Zeit ein unbewegliches Zentrum verborgen ist‹«.

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 Was unter Jüngers »Zentrum« zu verstehen ist, erklärt Roland Bubik, Redakteur der »Jungen Freiheit«, zur Grundmeinung des Konservativen von heute: »Die kulturelle Formierung einer Gesellschaft, getragen durch Volk, Staat und Religion, ist der Mechanismus zur Konstituierung der konkreten ›Würde‹ des einzelnen Menschen … Der Konservative … hat von jeher die Würde des Menschen als nur in der Partikularität einer kulturellen Identität erlebbar begriffen.«

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 »Partikularität einer kulturellen Identität« – das bedeutet die »Besonderheit« des Deutschen, den deutschen Sonderweg. Nur dies zählt. Horst Seferens hat 1998 in seiner Jüngerstudie »Leute von übermorgen und von vorgestern« dargestellt, wie sich ein konservatives Netzwerk von Autoren und Zeitschriften hinter Ernst Jünger zusammengefunden hat. Ihn verklärt es zum »weitsichtigen Prognostiker und Diagnostiker des Endes der Moderne« und zum »sinnstiftenden Propheten einer hoffnungsvollen Zukunftsperspektive«.

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 Ist das eine hoffnungsvolle Zukunftsperspektive, wenn ausdrücklich im Namen Jüngers im rechten Theorieorgan »Der Pfahl« Autoren wie Günter Maschke, Hartmut Lange, Axel Matthes und Gerd Bergfleth für das Ende von Aufklärung und offener Gesellschaft plädieren? »Reif zum Untergang«, so Gerd Bergfleth, sei die Bundesrepublik mit ihrem »Emanzipationswahn« und »Menschenrechtsgeklingel«.

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 Anthropozentrisches Denken solle ersetzt werden durch mythisch-geozentrisches. Endlich anerkannt werden solle die »Oberhoheit« von Erde und Natur. Mit Jünger solle deshalb gelten: Wollen, »was die Erde will«. Das heißt doch wohl: Erde – das meint erzkonservativ auch Blut und Boden. »Menschenrechtsgeklingel« – das bedeutet Absage an die Menschenrechte Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit.



Schulterschlüsse zwischen der konservativen, rechtsradikalen Szene und Ernst Jünger stellt auch der »Welt«-Redakteur Heimo Schwilk, Jüngers »Eckermann«, her als Herausgeber der Festschriften zu Jüngers 95. und 100. Geburtstag sowie des Sammelbandes »Die selbstbewußte Nation«. Cantus firmus bildet dabei die kulturkritische Klage über die moderne Zivilisation und ihre vermeintliche Zerstörung transzendierender Sinnstiftung. Jüngers konservative kulturkritische Publizistik der Weimarer Republik wird heute von der Neuen Rechten wiederbelebt.








7. Gegenaufklärung: Botho Strauß‘ »Anschwellender Bocksgesang« I





Den spektakulärsten Schulterschluß mit Jüngers gegenaufklärerischem Weltbild stellte 1993 im »Spiegel« Botho Strauß in seinem »Anschwellenden Bocksgesang« her. Strauß erklärte darin das Zeitalter des »kritischen« (als solches angeblich nur der oberflächlichen Erscheinungswelt verpflichteten) Bewußtseins für beendet und rief mit seinem »Leitbild-Wechsel« eine Trendwende nach rechts aus. Seine nebulöse, keineswegs kristallin klare Wendeformel: »Der, der in den Verbindungen steht, löst den Subversiv-Radikalen, den jakobinisch-›hölderlinischen‹ Zeit-Heros ab.« Unter dem verschwommenen Wort »Verbindungen« versteht Botho Strauß: »Rechts zu sein … von ganzem Wesen, das ist, die Übermacht einer Erinnerung zu erleben; die den Menschen ergreift, weniger die Staatsbürger … Es handelt sich um einen … Akt der Auflehnung gegen die Totalherrschaft der Gegenwart, die dem Individuum jede Anwesenheit von unaufgeklärter Vergangenheit, von geschichtlichem Gewordensein, von mythischer Zeit rauben und ausmerzen will. Anders als die linke … sucht« die rechte »Phantasie« »den Wiederanschluß an die lange Zeit, die unbewegte, ist ihrem Wesen nach Tiefenerinnerung und insofern eine religiöse … Initiation.«

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 Nicht alles »Tiefe« ist notwendig religiös initiiert. Auch Aufklärung und Humanität sind »Verbindung«, »Wiederanschluß« und können »Tiefe« haben. Gleichwohl: Strauß vollzieht wie Jünger und dessen Jünger »Tiefenerinnerung« als Aktivierung der Kritik am Emanzipations- und Freiheitsversprechen der Aufklärung, an ihrem, so Strauß, »faulen Befreiungszauber« und am sie weitertragenden Liberalismus, an den »Spöttern, Atheisten und frivolen Insurgenten«. In ihr Recht gesetzt werden müsse dagegen die »Gegenaufklärung« als »Hüter des Unbefragbaren, der Tabus und der Scheu«. Die Agenten des »kritischen Bewußtseins« sind laut Strauß schuld an der gegenwärtigen Krise: An der »Hypokrisie der öffentlichen Moral, die jederzeit tolerierte – wo nicht betrieb –: die Verhöhnung des Eros, die Verhöhnung des Soldaten, die Verhöhnung von Kirche, Tradition und Autorität, sie« dürfen »sich nicht wundern, wenn die Worte in der Not kein Gewicht mehr haben.«

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 Soldat, Kirche, Tradition, Autorität – Straußens Argumentationskette, die in der Prophezeiung »Es wird Krieg geben« mündet, läßt sich in Jüngers Wort- und Wertewelt ebenso nahtlos einfügen wie sich Karl Heinz Bohrers Ruf nach militärischer »Härte und Entschlossenheit« aus ihr ableiten läßt – oder Bohrers Klage über die »saturierte Gemeinschaft« von bloßen »Konsumenten«, feige und risikounwillig gemacht durch bloße Händler- und »Sozialhelfermentalität«. Aber ist das brillant, Sozialhelfer (in den achtziger Jahren ein beliebtes Spottobjekt auch der »Frankfurter Allgemeinen Zeitung«) zu diskriminieren als »Händler« und »Krämer«? Was denn ist an einem Sozialhelfer der Krämer? Und damit sich Patriotismus und Gemeinsinn besser entfalten können, darf es auch im Sinne von Karl Heinz Bohrer ab und zu auch wieder Krieg geben. Schon während des Falklandkrieges 1982 ergoß Bohrer in der »FAZ« mit Vorliebe Spottkübel auf die in seinen Augen provinzielle, jedes Risiko scheuende »Händlergesinnung« der Bundesdeutschen. Er verkaufte sich clever als frecher Kulturkritiker. Und empfahl als Remedium: »Die nationale Identität als das große Über-Ich, ja sogar das mystische Element der Ehre – auf einen Begriff gebracht: Spiritualität«

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. Mit Lust an provokativer Polemik beklagte der spirituelle »nationalen Identitäts«- und »Ehren«-Protége – dulce et decorum est pro patria mori – die »notorische Fettästhetik« und das mangelnde nationale Selbstbewußtsein des in der Bundesrepublik in seinen Augen zur Macht gelangten Mittel- und Kleinbürgerstandes. Ein von »Ängstlichen« und »Kleinkarierten« bewohntes Land – so borgte sich der Ernst Jünger-Experte Jüngers (wohlfeile, demokratie-defizitäre) Bürger-, Klein- und Spießbürger-Schelte aus –, »dem nur an Geschäft und Rendite liege und jeder Wille zur Selbstbehauptung, zu militärischer Einsatzbereitschaft« fehle: »Es gibt keine Nation auf Erden, nicht einmal die sprichwörtlichen Levantiner, die so ausschließlich von ökonomischen Argumenten beherrscht wären wie die Westdeutschen. Sie sind die neuen Phönizier, das heißt, sie erkaufen sich alles, selbst den russischen Frieden, so wie die karthagischen Kaufleute selbst nicht gegen die Römer kämpften, sondern Söldnerheere schickten. Die westdeutsche Händlergesinnung enthält im Unterschied zu Karthago allerdings kein Staatsbewußtsein mehr, keine Staatssymbolik, sondern bloß das harmlose Bild föderativer, fettprangender Provinzen zwischen Karneval und Weinernten. Mit Metzgereien ausstaffiert wie mit Boutiquen und so übersättigt, verängstigt, eingekauft ist diese westdeutsche Händlernation, daß sie nur andere für sich kämpfen lassen könnte, oder es bräche eine Massenhysterie aus … Da sie das nicht offen zugeben kann, tabuisiert sie den Kampf überhaupt oder rationalisiert sie ihre Angst davor mit pragmatischer Vernunft, das heißt mit wirtschaftlichen Zwängen wie der Ertragslage der Schiffbauindustrie oder Erdgasgeschäften. Wie verräterisch! Alles geht, denn alles beweist das Ende aller Kriege im Zeichen der händlerischen Vernunft.«

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Bloße »Händlergesinnung«, die feige das Sichbehaupten in Kampf und Krieg verlernt habe und deshalb tabuisiere – fast bis in die Wortwahl hinein folgte Bohrer mit solch säbelrassender geistiger Aufrüstung und Kriegerei seinem Männlichkeitsidol Ernst Jünger. Und schlug zugleich als intellektueller Netzwerker die Brücke zum reaktionären Theorieorgan »Junge Freiheit«, zu Filbingers »Studienzentrum Weikersheim«, zu im »Coburger Konvent« organisierten nationalen Studentenverbindungen. Und auch zu Manfred Pohls, Hans-Olaf Henkels, Roland Bergers »Konvent für Deutschland«. Bohrer den Heinrich-Mann-Preis zu verleihen, wie es 2007 geschah, ist so, als erhielte Präsident Bush oder dessen Gedichte verfassender Justizminister John Ashcroft den Friedensnobelpreis.

 








8. Journalistenbeschimpfung als Sündenbocksuche





Als Ausgeburt und Inbegriff des Krämergeistes und »händlerischer Vernunft« werden heute mit Vorliebe diskriminiert Jüngers »Schreiberlinge«, die Vertreter der »vierten« Gewalt der Demokratie: Journalisten. Karl Heinz Bohrer: »Wenn diese händlerische Vernunft in den seriösen Medien so überdimensioniert widergespiegelt ist, dann liegt das auch an der Psyche eines Berufsstandes: Journalisten, liberal, wie sie mehrheitlich sind, haben die händlerische Vernunft mit Löffeln gefressen. Opportunistisch und voyeuristisch, verstehen sie nicht die Symbole des Ernstfalls. Letztlich Unbeteiligte, verwandeln sie den Ernstfall immer in einen Verhandlungsfall und diesen dann in einen moralisch-modernen Vorwurf gegen solche, die den Ernstfall begriffen und akzeptiert haben.«

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 Breit gemacht habe sich im westdeutschen Medien- und Kulturbetrieb, so Bohrer, das »Gelabere«: »Sein verräterisches Wort heißt ›Vermittlung‹. Dadurch ist die schwierige intellektuelle und politische Opposition, ist der Konflikt geistig aufgehoben, alles ist auf dem Wege, sozusagen im Prozeß, und wenn das nicht hilft, dann hilft immer der furchterregende, weil tabuschüttelnde Hinweis auf das durch Carl Schmitt ein für allemal angeblich desavouierte ›Freund-Feind-Denken‹.«

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 Bohrer unterschlägt, daß Wörter wie »Vermittlung« und »Kompromiß« Wesenselemente demokratischer Prozeduren sind, und er revitalisiert Carl Schmitts undemokratisches Freund-Feind-Denken. »Souverän ist, wer über den Ausnahmezustand entscheidet« – mit dieser griffigen Grobformel reduzierte Carl Schmitt, Jüngers langjähriger Briefpartner und ideologischer Mitstreiter, in seiner »Politischen Theologie« von 1922 alles Politische auf ein existentielles Freund-Feind-Verhältnis – eine gedankliche Militarisierung, mit der der ›Kronjurist‹ des »Dritten Reiches« bereits in den Zwanziger Jahren das ideelle Geschäft der Nazis betrieb. Nicht um Abbau, sondern um Steigerung des Intensitätsgrades von Konflikten ging es damit Schmitt und Jünger, um Freisetzung national-revolutionärer Energie – vom »Schicksal«, von der Geschichte zugespielt.



Die Verachtung und Beschimpfung der »Schmierfinken«, der Journalisten, setzt sich fort in der – bei Botho Strauß, Martin Walser, Peter Handke et alii – üblich gewordenen gnadenlosen Schelte auf die Medien. Auch der Rundfunkjournalist Burkhard Müller-Ullrich holt in seinem Pamphlet »Medienmärchen. Gesinnungstäter im Journalismus« zum modischen Rundumschlag gegen seine eigene Zunft aus. Verantwortlich für die Verbreitung der Lüge im Journalismus ist für Müller-Ullrich der »Gesinnungsjournalist«. Der verstehe sich nämlich, so Müller-Ullrich ganz im Klischeejargon der Walser, Strauß, Bohrer, Handke »als Vorkämpfer des Guten in der Welt«

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 sowie als »Abgeordneter einer höheren Moral« und übe so, in gefährlichem »Puritanismus« und »totalitärem Wahrheitspathos« einen »linksökologischen, multikulturellen Meinungsterror« aus. Allzu viele »Friedensforscher, Menschenrechtler und Umweltschützer« tummelten sich in einem Metier, das eigentlich etwas »für Zyniker, Rauhbauze und Sprachgenies« sei und betätigten sich als »Zeitgeistverstärker ohne eigenen Intelligenz-Input« und ließen es an journalistischen Tugenden wie Zweifel und Willen zur Transparenz fehlen. Einige der von Müller-Ullrich angeführten vermeintlichen Beispiele zeigen, wie sehr er selbst ein Opfer seiner rechtsideologischen, reaktionären Kontaminierung wird. So führt er an, daß das Waldsterben nur ein »journalistischer Wahn«, ein bloßes Rauschen im Blätterwald sei. Die »volle Wahrheit« vielmehr sei: daß die Öffentlichkeit zehn Jahre lang »mit apokalyptischen Artikeln« in einer »einzigen morbiden Orgie deutschen Gesinnungskitsches« »irregemacht«

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 worden sei, um das »politische Empörungsmaterial« zu steigern. Der neue offizielle Schadensbericht sagt das Gegenteil. Nach Müller-Ullrichs Darstellung haben »die Medien« im Falle der Reaktorkatastrophe von Tschernobyl die Bevölkerung aus »Katastrophenlust« »zielstrebig und konsequent hysterisiert«

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. 1996, zehn Jahre nach dem Unfall, erweckt er den Eindruck, als ob es weder unmittelbare Strahlenopfer, noch Spätfolgen, noch überhaupt eine atomare Fallout-Wolke gegeben habe. Tschernobyl – ein »Mediengau« von »professionellen ›Aufbauschern‹ der Wirkungen von ionisierender Strahlung«

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? Medien – einen bequemeren Sündenbock gibt‘s nicht. Obwohl die Freiheit der Presse und der Meinungsäußerung sowie Gedankenfreiheit leidvoll erstrittene kerndemokratische Elemente sind. Und neben Legislative, Exekutive und Justiz als sogenannte vierte Gewalt Selbstausdruck der Demokratie sind. Müller-Ullrich freilich weist den Anspruch, »vierte Gewalt« zu sein, als Anmaßung zurück. »In Wahrheit steuern die modernen Massenkommunikationsmittel zum allgemeinen Erkenntnisfortschritt ziemlich wenig bei, weil sie von Nonsense total verseucht sind. Das gilt nicht nur für das ›Nullmedium‹ Fernsehen (um Hans Magnus Enzensbergers wunderhübschen Ausdruck zu gebrauchen), sondern auch für die dem Logos mehr verpflichteten Formen des Journalismus im Radio und in der Presse.«

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 Richtiger ist: Auch in den seriösen Instituten von Fernsehen, Rundfunk und Presse ist das dem Logos verpflichtete Qualitätsangebot durchaus vorhanden. Unverzichtbar ist die im Grundgesetz festgelegte und vom Bundesverfassungsgericht mehrfach bestätigte »Grundversorgung« mit Information, Kultur und Bildung.

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Der Zeitgeist sagt: Wir brauchen Männer, die notfalls mit ihrem Leben einstehen, nicht das »Gelabere« (Bohrer) der Journalisten und Medien. Nicht ohne Verständnis zitierte deshalb Joachim Fest 1993 in seiner Jüngeriade »Die schwierige Freiheit« die zynische Bemerkung von Francis Fukuyama, daß »eine liberale Demokratie, die alle 20 Jahre einen kurzen, entschlossenen Krieg zur Verteidigung ihrer Freiheit und Unabhängigkeit führen könnte, bei weitem gesünder und zufriedener wäre als eine Demokratie, die in dauerhaftem Frieden lebt«

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. Wobei wir wieder bei Jüngers »Stahlgewittern«, bei »Feuer und Blut« wären. Der Krieg als Vater aller Dinge. Alle zwanzig Jahre ein neues Abenteuer namens Krieg?








9. Zerfetzte Gesichter oder eine neue Ästhetik des Schreckens





Jüngers martialische Kriegsprosa gilt im Rahmen solch geistiger Wiederaufrüstung als vorbildhaft. So reklamierte – da heute angeblich wieder Bedarf bestehe nach der Darstellung des Grauens – unter der Schlagzeile »Zerfetzte Gesichter. Die Ästhetik des Schreckens hat es hierzulande schwer« Thomas Medicus in der »Frankfurter Rundschau«

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 Jüngers Darstellung kriegerischer Gewalt als »durchaus so etwas wie ein auf anthropologische Tiefenschichten zielendes ästhetisches Erkenntnismittel«. Wie bitte? Zu befreien sei dies »ästhetische Erkenntnismittel« nur von Jüngers ideologischer Kontaminierung. Das muß man zweimal lesen. Blut, ideologisch gereinigt, soll doch bitte schön ästhetisch gelungen auf Buchseiten fließen? Welcher Zynismus, welche Abwesenheit von humaner Sensibilität, angesichts der in der Vergangenheit doch längst auselaborierten Ästhetik des Kriegsgrauens nach ganz frischer Kriegsgräuelästhetik zu verlangen.








10. Demokratische Offenheit für Sinnangebote wird mißverstanden als orientie rungslose Beliebigkeit: Joachim Fest, Arnulf Baring et alii





Gedankliche Schulterschlüsse mit Ernst Jünger vollzogen und vollziehen nicht nur Ernst Nolte, die Autoren der »Jungen Freiheit« oder Botho Strauß und Karl Heinz Bohrer, sondern auch einflußreiche konservative Historiker und Publizisten wie Joachim Fest und Arnulf Baring. Die prinzipielle Offenheit der westlichen Demokratie für gewaltfreie Sinnangebote und damit die Praktizierung von Toleranz wird von ihnen mißverstanden als orientierungslose Beliebigkeit. Gleichgültigkeit gegenüber der Sinnfrage, so schreibt der einstige »FAZ«-Herausgeber Joachim Fest 1993 in seinem Essay »Die schwierige Freiheit. Über die offene Flanke der offenen Gesellschaft«, sei das Krebsübel der Demokratie. Und warum? »… es ist der große, gleichsam angeborene Mangel liberaler Gesellschaften, daß sie keinen greifbaren, die Leiden und Ängste der Menschen rechtfertigenden Lebenssinn vermitteln. Auch halten sie keinen mobilisierenden Zukunftsprospekt bereit und werfen den Einzelnen auf lediglich das zurück, was er als individuelle Erfüllung begreift. Jene Postmoderne, die das Lebensgefühl der fortgeschrittenen Industriegesellschaften ausmacht, ist im Grunde nichts anderes als der wiewohl verzerrte Ausdruck der auf den eigenen Begriff gekommenen, ihm jedenfalls nahegerückten offenen Gesellschaft: eine Welt, in der auch die moralischen Horizonte offen sind, wo alles geht und das heißt zugleich, nichts wirklich wichtig ist; in der … eine Generation von Erben mit dem Vermächtnis mühsam erworbener Prinzipien ein fröhlich-verzweifeltes Feuerwerk veranstaltet, dessen Glut die Reichtümer wie die Wahrheiten dahinschmelzen läßt.«

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 Fests und Barings altjüngersche, urkonservative Dauerklage: Allgemein verbindliche Normen und Werte schmölzen angeblich dahin, Freiheit werde im Namen der Freiheit überdehnt.



Ausgeblendet wird, daß religiöse, kulturelle Freiheit nicht Relativität der Werte bedeutet. Sie bildet vielmehr einerseits den »Rahmen«, so der Freiburger Politologe Dieter Oberndörfer

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 für die »von den Bürgern immer neu zu führende Auseinandersetzung über die maßgeblichen Orientierungen ihres Handelns«

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; andererseits sind Rahmen und Inhalte dieser ständigen Auseinandersetzung niedergelegt in den Artikeln der Verfassung, im »normativen Fundament der Republiken«

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. Die Verfassung ist Seele, Herz und Kopf der Bundesrepublik. Das Bestehen auf alle tragender und alles einender Ganzheit sowie verbindlicher metaphysischer Sinnstiftung dagegen ist dem Geist der Moderne (und der Deklaration der Menschenrechte sowie der – demokratischen – Verfassung) entgegengesetzt: widerspricht der Toleranz und Akzeptanz des Anderen, des Unterschiedlichen, der Differenz, dem Aushalten von nicht auflösbaren Widersprüchen, dem Klima des Zweifelnkönnens und -sollens. Fests und Barings konservative Kulturkritik ignoriert, daß Gegenstand der Verfassung durchaus »die Reichtümer wie die Wahrheiten« (Dieter Oberndörfer) menschlichen Zusammenlebens sind. Insofern liegt dort, in der Formulierung der Grund- und Menschenrechte, das ideelle Zentrum, das den Einzelnen und die Gesellschaft sinnstiftend zusammenschließt. Dafür fehlt Baring, Fest, Herzinger et alii offenbar jeder Sinn. Oder? Sie blenden aus, daß »Verfassungspatriotismus«, das Praktizieren zum Beispiel des der Aufklärung verpflichteten Menschenrechtskataloges mitsamt seines aufklärerischen Toleranzgebotes, der bessere Patriotismus ist. Besser und humaner allemal als jener, der mit dem andere ausgrenzenden Partikularsystem »deutsche Leitkultur« den (zu Recht) gescheiterten deutschen Sonderweg noch immer in irgendwelchen verdrucksten Restformen im Marschgepäck trägt. Tun das nur noch wenige oder doch eher noch etliche? Und vielleicht noch immer viel zu viele? Susan Sontag hat noch kurz vor ihrem Tod am 28. Dezember 2004

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 jene, die sich aufgrund ihres Andere und Anderes einschließenden Wahrnehmungsvermögens als »Unruhestifter, als Stimmen des Gewissens« zu erkennen geben, aufgefordert, denen entgegenzutreten, »deren Vorstellung von Erziehung und Kultur auf die Einimpfung von Ideen (›Idealen‹) wie etwa der Liebe zur Nation oder zum eigenen Stamm hinausläuft«. Davon gibt es viele zwischen Flensburg und Freiburg, zwischen Kamenz und Koblenz. Laut und unentwegt rufen sie nach

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