Verrat der Intellektuellen

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Bronnen, der Intellektuelle, verrät den Intellektuellen, indem er seine Autonomie als Intellektueller preisgibt. In seinem Selbstverhör »Arnolt Bronnen gibt zu Protokoll« beschreibt Bronnen eindrucksvoll seinen mehrfachen Meinungs- und Gesinnungswechsel. Dabei fragt er nach den Gründen. Bronnens Selbstdiagnose: Er sieht sich als gespaltene Persönlichkeit, als »zutiefst unmoralischen egoistischen Menschen«34. Als Narziß also, dem wichtiger als seine Meinungen und Ansichten er selbst ist. In diese seelische Lage gebracht habe ihn, so stellt er es dar, seine Sozialisation: Früh beginnender und lang andauernder »Krieg« mit dem Vater – einem Wiener Dramatiker und Burgtheaterdirektor – habe diese Ambivalenz in ihm ausgeprägt. Was von außen betrachtet, ob zu recht oder zu unrecht, als Verrat gilt, hat in der Innendimension, im Verhalten des »Verräters«, nicht selten familiäre und psychologische Verursachermechanismen – wie bei Bronnen. Durch Sozialisation und Erziehung begünstigte Persönlichkeitsspaltung, Ambivalenz, Doppelgängertum – sie leben sich narzißtisch aus. Der narzißtische Blick in den Spiegel zeigt ein Doppelgesicht, zum Beispiel das von Dr. Jekyll und Mr. Hyde. Die Publizistin Margret Boveri spricht angesichts dieses Doppelspiels, das sie auch an sich beobachtet hat, von »Koinzidenz der Gegensätze in mir«. Margret Boveri: »Ich fühle mich fähig, entgegengesetzte Elemente in mir zu beherbergen und jedem zu seinem Recht zu verhelfen. Der Preis dafür ist, daß ich auf die Frage, ob ich links oder rechts, konservativ, liberal oder revolutionär sei, keine Antwort weiß. Die Koinzidenz der Gegensätze ist mir als eine immer neu zu bewältigende Aufgabe klargeworden. Wenn ich mich zu einer Partei bekennen soll, dann zu der, die nicht das Entweder-Oder, sondern das Sowohl-Als-auch bejaht. Das ist nicht die Bereitschaft zu einer Abfolge von faulen Kompromissen. Es entspringt der Überzeugung, daß wir im Ausharren der Polarität der Gegensätze die unauflösliche Tragik des menschlichen Lebens erfahren können, die nicht mit gutem Willen und nicht mit dem Verstand aufzulösen ist, in der wir aber, sofern wir sie anerkennen, wenn auch noch so selten einmal den Schlüssel finden mögen, der die Gegensätze bindet und löst.«35 Diese Ambivalenz Margret Boveris oder der narzißtisch grundierte, chamäleonartige Gesinnungs-Wechsel von Arnolt Bronnen sind zu allen Zeiten anzutreffen. Ambivalenz und Ambiguität indes ermöglichen auch Verstehen des Widersprüchlichen. Martin Walser kleidet das lapidar-nonchalant in seinen Aphorismenstenogrammen »Meßmers Reisen« in das elegant formulierte Aperçu: »Mehr Erfahrung als auf einen Standpunkt geht, macht man schnell.«36 Nur: sind nicht auch Entscheidungen notwendig? Damit nicht alles zur ewigen Nichtfestlegung und ständigen Wechselbereitschaft erstarrt?

Ist andererseits, wer in seinen Meinungen, Ansichten und Handlungen »stets als ein und derselbe auftritt«, immer und vorbehaltlos »wahrhaft groß«? Zum Beispiel in der ehemaligen DDR? Viele hofften zu Anfang auf einen gesellschaftlichen Neubeginn. Endlich etwas anderes, als bewußter Gegenentwurf zum Nationalsozialismus: eine sozialistische Demokratie, in der die Macht der wirtschaftlich Stärksten und Größten (wie in den Westzonen ebenso 1947 im Ahlener CDU-Programm formuliert) gebrochen wird. Aus der Emigration zurück kamen deshalb etliche nicht in die Bundesrepublik – Adenauer zeigte kein Interesse an den Exilanten und ließ keine einzige Aufforderung zur Rückkehr ergehen –, sondern in die »Ostzone«/DDR: Bert Brecht, Paul Dessau, Ernst Bloch, Stephan Hermlin, Hans Mayer, Anna Seghers, Arnold Zweig et alii. Auch der 1933 geborene Reiner Kunze, von 1955 bis 1959 wissenschaftlicher Assistent an der Fakultät für Journalistik der Karl-Marx-Universität Leipzig, erklärte sich vehement für das neue Gesellschaftsmodell DDR. Kunze entpuppte sich schließlich als fanatischer Stalinist. So daß Wolf Biermann in der »Zeit« feststellte: »Kunze wurde als brutaler stalinistischer Einpeitscher von den besseren Studenten gefürchtet.«37

Aber dann korrigierte sich Kunze. Seinen ›Gesinnungswechsel‹ dokumentierte er selbst in seinem 1993 veröffentlichten Tagebuch »Am Sonnenhang«, indem er aus seiner Stasiakte zitierte: »In dieser Zeit« (1955 bis 1959) »vollzog sich bei Kunze eine politisch-ideologische Wandlung und eine Abkehr vom Marxismus-Leninismus.«38 Dergleichen Wechsel von Meinungen, Ansichten, Überzeugungen, Weltanschauungen sind in der Regel – handelt es sich um Irrtümer oder dogmatische Weltbilder – aller Ehren wert. Korrektur also von falschen Dogmen, Fanatismen, Fehlansichten ist kein Verrat.

Auch in der (westdeutschen) Demokratie war und ist Meinungs-Korrektur keineswegs von vornherein Verrat. Wenn zum Beispiel Franz Xaver Kroetz, 1946 in München geboren, 1972 als Sechsundzwanzigjähriger der DKP beitritt, im Landesvorstand seiner Partei sich in die Programm-Kommission wählen läßt und 1980 wieder austritt, ist das zwar in den Augen seiner Genossen Verrat. Tatsächlich aber ist es bessere Einsicht. Warum wurde der »bekannteste Kommunist Bayerns« DKP-Mitglied? Kroetz, dessen Vater Nazi war: »Ich hätte meine Eltern mit zwei Sachen treffen können: Wenn ich schwul geworden wäre oder Kommunist. Schwul ging nicht, also wurde ich Kommunist. Sicher aus Protest.«39 – Wie aber ist der Fall des Hamburger Schriftstellers Peter Schütt zu beurteilen, der 1968 in Hamburg die DKP mitbegründete, Mitglied des DKP-Parteivorstandes und Bundessekretär des DKP-nahen »Demokratischen Kulturbundes« wurde? Als Schütt, der »DKP-Hofdichter«, sich zu Gorbatschows Reformkurs bekannte, schloß ihn die DKP-Spitze im September 1988 aus dem Parteivorstand aus, woraufhin er kurz darauf aus der Partei austrat. Verrat oder bessere Einsicht? Bessere Einsicht. Aber war dem nicht auch ein Anflug von Renegatentum beigemischt, wenn Schütt sich nun als Forum für seinen Wechsel-Bericht ausgerechnet die »FAZ« aussuchte? Und dort sein Wechselbekenntnis drucken ließ: »Ich wurde nach Vietnam eingeladen und schrieb daraufhin mein erstes richtiges Buch. Die Schreckensbilder dieses Krieges haben lange nachgewirkt und mich in jenem Schwarzweißdenken bestärkt, das mich so lange blind gemacht hat gegenüber der Verbrechensgeschichte des eigenen Lagers. Für mich war der Kapitalismus das Reich des Bösen, verantwortlich für Auschwitz und My Lai, und im Kommunismus sah ich den einzigen Weg, die Menschheit von allen Weltübeln zu erlösen. In den kalten Zeiten des Ost-West-Konflikts gab mir die Partei zugleich Nestwärme und das stolze Gefühl, auf der richtigen Seite zu sein, komme, was da kommen mag. Eine Zeitlang war ich so etwas wie der Liebling der Partei, und ich habe den Beifall der Genossen auch genossen.«40 Einfachaufteilung der Welt in Schwarz und Weiß und Suche nach Nestwärme aus Naivität und Narzißmus – ein intellektuelles Verratssyndrom?

Auch der Wechsel der Mitgliedschaft in einer Partei – obwohl auch hier die Vokabel »Verrat« schnell auf der Zunge liegt – ist nicht von vornherein Verrat. Wenn zum Beispiel »Grünen«-Mitgründer Otto Schily sein Parteibuch zurückgibt und zur SPD wechselt, ist das nicht Verrat. Darf nicht gewechselt werden in eine andere Partei – so wie es etliche getan haben – Wehner, Brandt, Heinemann, Lafontaine (dem Müntefering ein sattes »Verräter« nachrief)? Aber riecht es nicht doch nach Gedanken-Verrat, wenn der grüne »Überläufer« Otto Schily sich als Innenminister der neoliberalen Schröder-SPD von 1998 bis 2005 in seine neue Rolle geradezu hineinsteigert: nämlich den unbeugsamen Sheriff spielt, mit grimmiger Miene und vor Entschlossenheit schneidender Befehls-Stimme? Und dabei gewöhnungsbedürftige Unionshardliner wie Bayerns damaligen Innenminister Günther Beckstein noch rechts überholt? Nach dem 11. September gab Otto Schily markige Worte am Fließband von sich. Ihr Tenor: Staat und Safety first. In seltener Militanz forderte Schily bei der Abwehr des Terrorismus die vorbeugende Sicherheitshaft ohne Tatverdacht und sogar das Recht auf präventive Tötung: »Wenn ihr den Tod so liebt, dann könnt ihr ihn haben.«41 Verlangte Auffanglager für nordafrikanische Flüchtlinge in Nordafrika. Drängte auf ein Luftsicherheitsgesetz, damit der Staat, in der Hoffnung, andere zu retten, unschuldige Bürger in einem entführten Flugzeug abschießen dürfe. Bis das Bundesverfassungsgericht den geplanten Abschußparagraphen für nichtig erklärte und Schily auf die Verfassung verwies, auf den Kantischen Grundsatz der Menschenwürde: Nie dürfe der Mensch Mittel zum Zweck sein, auch wenn der Zweck als gut erscheint: »So entsetzlich die Bedrohung auch sei, wie heftig al-Quaida auch an der gewohnten Weltordnung rüttele, Verfassung bleibe Verfassung«, kommentierte die »Zeit«42. Der in seinem Innen-Ministerium wegen seines Führungsstils als cholerischer »Kotzbrocken«43 Titulierte absolvierte eine verblüffende Verratskarriere: vom linken Radikaldemokraten zum rechten Law-and-order-Apostel. Kein Verrat? Nur intelligentes Gegensteuern aus besserer Einsicht? Oder ganz gewöhnlicher Opportunismus sowie notwendige politische Überlebensflexibilität?

Und ist es nicht doch auch Verrat, wenn der ehemalige Sozialist Manès Sperber44 1983 in seiner Dankesrede zum Friedenspreis des Deutschen Buchhandels zur atomaren Selbstverteidigung des freien Europa gegen die Sowjetunion aufruft – gegen das »Reich des Bösen«? Atomar? War, ist das besonnen oder gar klug? Und Sperbers Rundumschimpfe auf die Achtundsechziger als fünfter Kolonne Moskaus – war das »groß« und fair? Sperber zeigte sich dabei, wie ihm der Freiburger Publizist Ludger Lütkehaus zu Recht entgegnete45, in »selbstgewählter Verblendung« als »Prototyp eines Renegaten«. War das nicht intellektueller Verrat, wenn Sperber erklärte: »Wir müssen leider selbst gefährlich werden, um den Frieden zu wahren«? Gefährlich werden mit dem Einsatz von Atomwaffen? Die um ein Mehrfaches grausamer sind als die von Hiroshima und Nagasaki? Sperber heizte emotional an, statt Gebrauch von seiner Vernunft zu machen.

 

Verrat liegt auch vor, wenn der einst enge Weggefährte und Freund Dutschkes Bernd Rabehl, Lehrbeauftragter am Otto-Suhr-Institut der Freien Universität Berlin, sich in einem Interview mit der NPD-Zeitung »Deutsche Stimme« zur NPD und zu deren völkisch-nationalistischen Gedanken bekennt.46 Oder schlimmer Verrat ist es auch, wenn Horst Mahler, einst als irrender leninistischer Kader ideologischer Scharfmacher und danach Mitbegründer der RAF, überwechselt auf den rechten Außenrand und Vordenker der »Freien Kameradschaften« und der NPD sowie deren Anwalt wird.

Noch immer hat das Wort »Verrat« einen scharfen Beiklang. Es dient als Totschlagvokabel. Mit einem Wort ist scheinbar alles gesagt. So stellen heute Neonazis wieder »Verräter-Listen« ins Netz. Und noch immer sieht selbst ein Demokrat wie Helmut Kohl, sozialisiert im rauhen Klima des Kalten Krieges an der Hand des groben Überlebensrasters vom Freund-Feind-Denken, gleichsam »Verrat« am Werk, wenn er im Vollzug der Mehrheitsmeinungsbildung demokratischer Kritik an seiner Person ausgesetzt ist. Aber ist es wirklich Verrat, wenn Kohl seinem langjährigen Arbeitsminister Norbert Blüm quasi »Verrat« vorwirft, nur weil der nicht akzeptierte, daß Kohl sein »Ehrenwort« gegenüber anonymen Spendern über Recht und Gesetz stellte? Oder wenn Kohl Richard von Weizsäcker mit dem Geruch des Verräters stigmatisiert, nur weil er als Bundespräsident – der er dank Kohls Hilfe geworden war (Kohl hatte sich seiner Nominierung nicht widersetzt) – das »System Kohl« des »Aussitzens« gegen Ende der achtziger Jahre kritisierte? Kohl über Weizsäcker im zweiten Band seiner »Erinnerungen«: »Richard von Weizsäcker hielt es für notwendig, mich aus dem Amt zu entfernen … Natürlich wagte er es nicht, dies in irgendeiner Form offen zu bekennen … Doch am wärmenden offenen Kamin im Bundespräsidialamt war er Ratgeber für diejenigen, denen es um meinen Sturz ging.«47 Ein normaler demokratischer Vorgang wurde stilisiert zur Verschwörung von »Umstürzlern«48 und von Kohl mit der Kapitelüberschrift versehen: »Gescheiterter Putsch«49. Natürlich waren Blüm und Weizsäcker keine Verräter. Sie hatten nur Gebrauch gemacht von ihrem Wahrnehmungs- und Urteilsvermögen.

Es ist auch kein Verrat, wenn die »New York Times« im Dezember 2005 über gesetzeswidrige Abhöraktionen des US-Geheimdienstes NSA berichtet und Präsident George W. Bush daraufhin diese Enthüllung brandmarkt als »Verrat von Geheimnissen« und »schändliche Tat« der Presse.50 Oder wenn der Pentagon-Mitarbeiter Daniel Ellsberg 1971 die streng geheimen Seiten der »Pentagon Papers« – die intern dokumentierten, daß der Vietnamkrieg für die USA nicht mehr zu gewinnen war – der »New York Times« zuspielt. Ebensowenig wie 1963 der die »Spiegel«-Affäre auslösende Bericht über das »Fallex«-Manöver ein – so Adenauer damals – »Abgrund von Landesverrat« gewesen ist. Im Gegenteil: Die Realisierung der Pressefreiheit durch Veröffentlichung von tatsächlichen oder angeblichen »Geheimnissen« dient in der Regel der Stärkung und Bewahrung der Demokratie. Das gilt auch heute: Es sei, erklärt zum Beispiel der US-Ökonom Daniel Ellsberg, Preisträger des alternativen Nobelpreises 2006, angesichts der US-Pläne hinsichtlich des Einsatzes sogenannter bunkerbrechender A-Bomben, »höchste Zeit, Verrat zu begehen«, und er fordert US-Beamte und Militärs auf, Geheimdokumente zu »verraten«.51

Fälle dieser Art gab und gibt es zahlreiche und wird es immer wieder geben: Eine oder mehrere Personen, eine Behörde, ein Geheimdienst oder eine Regierung brechen Recht aus Fehleinschätzung, Arroganz der Macht, purem Egoismus oder um eines vermeintlich höheren Gutes willen und stigmatisieren den zum Verräter, der Licht ins Dunkel zu bringen versucht. Um Zeit zu gewinnen und fürs erste Entlastung zu schaffen, erst einmal der Gegenangriff. Und dabei das generelle Argumentationsmuster: Schuld hat natürlich der Bote, der Überbringer der schlechten Nachricht, der, der sie mitteilt sowie die Medien, die sie verbreiten, nicht ihr Verursacher. Der oder das Verurteilenswerte sind – so zum Beispiel Martin Walser – nicht die Brandstifter von Hoyerswerda, sondern Fernsehreporter, die solche Bilder zeigen. Oder schädlicher fürs Ansehen als der Skinhead in Brandenburg oder Berlin-Lichtenhagen ist nach Meinung von Innenminister Jörg Schönbohm derjenige, der wie Karsten-Uwe Heye hinweist auf No-go-Areas für Farbige und Türken. Ein Muster, dessen sich heute reflexhaft viele bedienen.52 Dergleichen Spiele mit einer urdemokratischen Institution wie der Presse sind heute gang und gäbe. Abgeladen wird beim vermeintlich Schwächsten: den Medien. Festzuhalten aber bleibt: Am jeweiligen Fall und dem Inhalt der Ansichten entscheidet sich, ob der Verrat begeht, der seine Überzeugungen ändert, oder ob der es tut, der an ihnen festhält. Gleichwohl: Es gibt Grenzen für Gedanken-, Einstellungs- und Gewissenswechsel. Nicht alles ist erlaubt: Ständiger Wechsel – frei von jeder Gesinnung und Moral – riecht nach Opportunismus und Verrat.

Den »Verrat der Intellektuellen« hat Julien Benda in seinem gleichnamigen Schlüsselessay in der ersten Ausgabe von 1927 zunächst für die politische Rechte beschrieben, dann nach den Verbrechen Stalins in der Neuauflage von 1958 auch für die dogmatische Linke. Die größten intellektuellen Verratsformen des 20. Jahrhunderts waren Nationalsozialismus und Faschismus sowie die Regime des dogmatischen totalitären Staatskommunismus. Formen dieses Verrates begeht, so einer der zentralen Sätze Bendas, wer nicht anerkennt, »daß das in der Erklärung der Menschenrechte oder in der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung niedergelegte politische Ideal in eminenter Weise ein Ideal ist«53. Das heißt, wer die Ideen von Aufklärung und Französischer Revolution – die Prinzipien der Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit sowie die »Achtung vor der Gerechtigkeit, vor der Person und vor der Wahrheit«54 – geringschätzt oder verachtet. Benda fährt an späterer Stelle fort: Verrat ist »die Verherrlichung« des »totalitären Staates, in dem definitionsgemäß der Begriff der Person und a fortiori der ihrer Rechte verschwindet; des Staates, dessen Seele jene Maxime ausdrückt: Du bist nichts, dein Volk ist alles … Im übrigen ist nicht zu bestreiten, daß die Abschaffung der Rechte des Individuums einen Staat erheblich stärkt. Fragt sich nur, ob es Aufgabe des Intellektuellen ist, einen Staat zu stärken.«55 Das heißt: Diktaturen sind leichter zu »regieren«. Die Anweisung von oben seitens des Diktators – einer Person und/oder einer Partei – ist nach unten hin auszuführen bei Strafe im Nichtbefolgungsfalle. Macht zu begrenzen dagegen ist Kernelement der Demokratie. John Lockes und Montesquieus Teilung der Gewalten, Meinungsfreiheit, Vielfalt der Parteien, das Kontrollsystem der »checks and balances«, Delegation von Macht auf Zeit, periodische Wahlen, Gewerkschaften und Verbände – all diese Vorkehrungen haben den einen Sinn, so führt Johano Strasser Bendas Gedanken weiter, nämlich »den Zugriff der Mächtigen zu limitieren und damit auch die Folgen von Irrtümern und Fehlentscheidungen möglichst gering zu halten«.56 Durch Interessen- und Meinungsstreit zustande gekommene demokratische Entscheidungen erlauben im Widerspruchsfalle (entsprechende finanzielle Ausstattung vorausgesetzt) noch das Anrufen von Gerichten. Im Unterschied zur Diktatur impliziert die Demokratie jedoch auch, so Benda, »gerade kraft ihres Oktroi der individuellen Freiheiten ein Moment der Unordnung«57. Montesquieu hat es so auf die Pointe gebracht: »Wenn Sie in einem Staat keinerlei Lärm von Streitigkeiten vernehmen, so können Sie sicher sein, daß es in ihm keine Freiheit gibt.«58 Eine freie Regierung in einem freien Land dagegen ist »eine ständig in Auseinandersetzungen verwickelte«. Oder, so illustriert selbst Rüdiger Safranski in seinem in der konservativen Programmschrift »Die selbstbewußte Nation« abgedruckten Essay »Destruktion und Lust. Über die Wiederkehr des Bösen« den Sachverhalt: Sie bedarf der »Bürgergesinnung«, denn »Demokratie als Lebensform ist stets gefährdet, weil sie auf schwankendem Grund errichtet werden muß, auf Pluralität, Selbstrelativierung, Kompromiß, wechselseitiger Anerkennung.«59 Daß sie deshalb »Ausnahme« und »Glücksfall« sei, wie Safranski gleichzeitig aussagt, verrät mangelndes Vertrauen in sie. Gleichwohl: Montesquieu, Benda und Strasser lesen jenen in der Bundesrepublik die Leviten, die mit der offenen Gesellschaft auf Kriegsfuß standen und stehen oder sie mißverstehen: wie zum Beispiel der konservative ZDF-Journalist und Theologe Peter Hahne, der in seinem Bestseller »Schluß mit lustig: Das Ende der Spaßgesellschaft« lauthals »unsere feige Kompromißgesellschaft« beklagt.60

Da es im menschlichen und gesellschaftlichen Zusammenleben Gegensätze und Widersprüche gibt, die entweder nicht oder nicht ohne weiteres auflösbar sind, müssen sie miteinander vermittelt werden. Zum Beispiel sind die Bedürfnisse des Staates und die Freiheiten des Einzelnen oder Freiheit und Chancengleichheit unter dem Leitbegriff sozialer Gerechtigkeit aufeinander zu beziehen und auszugleichen. Dieses Gegeneinander der unterschiedlichsten Interessen erzeugt in den offenen Gesellschaften der Demokratien Montesquieus »Lärm der Streitigkeiten«61.

Der Berliner Medientheoretiker Norbert Bolz findet für diesen Streit, für diese wechselseitige Einschränkung der Ansprüche adäquate Worte: »Anspruch steht gegen Anspruch, Theorie gegen Theorie. Wer hier Gewißheit behauptet, weckt Zweifel. Wer dagegen zweifelt, schafft Vertrauen. Modern entsteht Freiheit nämlich gerade durch den Widerstreit der Dogmen, durch die wechselseitige Einschränkung der Ansprüche.«62

Streit, Konflikt, Nichtübereinstimmung sind Alltag und Norm rechtsstaatlicher Demokratien. Die normative Grundlage demokratischer, freiheitlicher Ordnung ist, so räumt der konservative Publizist Richard Herzinger in seinem Essay »Republik ohne Mitte« selbstredend ein, der »geregelte, diskursiv und gewaltfrei ausgetragene Konflikt«63. Für Herzinger – in den 7Oer Jahren aktives Mitglied der trotzkistischen Gruppe Internationaler Marxisten – hat die offene westliche Demokratie jedoch einen prinzipiellen Mangel: Sie ist dadurch gekennzeichnet, daß sie kein verbindliches Werte- und Sinnzentrum mehr hat. Dort, wo man das »Kraftzentrum« vermutet, von dem aus sich »die politisch-moralische Einheit der Gesellschaft steuern lasse, befindet sich – nichts«64. Ihr »Identitätskern«, ihre Mitte ist »leer«. Denn alle Werte können in ihr »in Frage gestellt werden«65. Aber ist es so, daß die »Mitte«, das »Kraftzentrum«, wirklich ganz »leer« – ohne ideellen und moralischen Kern – ist? Gibt Herzinger – der sonst das Alphabet der Verwestlichung und der repräsentativen Demokratie zu buchstabieren versteht – nicht ohne Not Terrain frei? Gibt es da nicht noch ein Lebenselixier? Die Grundwerte der Verfassung zum Beispiel? Von ihnen oder von Verfassungspatriotismus spricht Herzinger, heute politischer Redakteur der »Welt am Sonntag«, nicht.

 

Es ist nicht Aufgabe des Intellektuellen, den Staat zu stärken, so führt der Soziologe Ralf Dahrendorf in seiner neuen Studie »Versuchungen der Unfreiheit« die Argumentation Julien Bendas weiter. Es ist nicht seine Aufgabe, sich zum Lautsprecher der jeweils herrschenden Macht zu machen. Doch die Versuchungen dazu sind zeitlos. Zum Beispiel durch Menschlich-Allzumenschliches wie Opportunismus, Karriereehrgeiz. Oder auch indem Ichbehauptung die Form der unkontrollierten Eigenliebe und bloßen Eitelkeit annimmt. Wie in Jerzy Lecs Aphorismus: »Eigenliebe endet nicht selten mit Verrat.« Oder wie in Caesars klugem Spruch: »Im Menschen sitzt ein Verräter, der ›Eitelkeit‹ heißt und die Geheimnisse gegen Schmeichelei preisgibt.« Die unterschiedlichsten Gründe sind denkbar: Nicht nur Eigenliebe, Eitelkeit und Schmeichelei – zählt der Germanist Gert Mattenklott, selbst ein »Gesinnungspendler«, einige auf –, sondern auch Liebe, Eifersucht, Neid, Geldgier, Rachsucht sowie »Feigheit, Angst oder eine beliebige Vorteilsnahme«.66 Verräterische Anpassung an jeweils herrschende Macht wird jedoch nicht nur begünstigt durch Eitelkeit und Schmeichelei Wortmächtiger, sondern auch durch das bloße und blinde Verlangen nach »Bindung und Führung«. Man will geführt, Probleme sollen aus der Hand genommen werden, sei es durch Personen, sei es durch Religionen oder Ideologien. Im »Dritten Reich« wurden Begriffe wie »Nation«, »Volksgemeinschaft«, »Rasse« und »Führer« ideologisch und quasireligiös verklärt. Zum Beispiel auch in Martin Heideggers Rektoratsrede vom 27. Mai 193367 oder in Heideggers programmatischem Satz aus dem »Kampfblatt der Nationalsozialisten Oberbadens ›Der Alemanne‹«: »Die gesamte deutsche Wirklichkeit ist durch den nationalsozialistischen Staat verändert worden, mit dem Ergebnis, daß unsere ganze vergangene Weise des Verstehens und Denkens ebenfalls anders werden muß.« Eindeutiger läßt sich die Selbstaufgabe des autonomen Subjekts nicht formulieren. Der Philosoph des sich angeblich schicksalshaft entbergenden Seins – am 1. Mai 1933 war er der NSDAP beigetreten mit der Mitgliedsnummer 3 125 894 und ihr bis zum Kriegsende treu geblieben68 – ließ Anfang November 1933 in der »Freiburger Studentenzeitung« keine Zweifel an seiner Bewunderung und schicksalshaften Ergebenheit an den »Führer« Adolf Hitler aufkommen: »Der Führer selbst und allein ist die heutige und künftige deutsche Wirklichkeit und ihr Gesetz. Lernet immer tiefer zu wissen: Von nun an fordert jedwedes Ding Entscheidung und alles Tun Verantwortung. Heil Hitler! Martin Heidegger, Rektor.«69 Was ist das anderes als Selbstaufgabe autonomer intellektueller Existenz? Hat Heidegger nicht – wie Victor Farias in seiner seriösen Studie »Heidegger und der Nationalsozialismus« und der Freiburger Historiker Hugo Ott in seinem ebenso überzeugenden Aufsatz »Martin Heidegger als Rektor …«70 beschrieben haben – wesentlich dazu beigetragen, die ideellen Lebensmaximen des Bildungsbürgertums in Übereinstimmung zu bringen mit der völkisch-nationalen NS-Ideologie? Auch in seiner Vorlesung im Sommersemester 1934 »Natur – Geschichte – Staat«, die Heidegger nach seinem Rücktritt vom Rektorat hielt und deren Nachschrift Victor Farias71 dokumentiert hat, zeichnet Heidegger das Muster des völkischen Aufbruchs weiter und formuliert mit der Parole »Wir sind das Volk« die Aufgabe einer »wurzeltiefen Umerziehung« zu einem »großen Wir«. Erst indem wir »uns aufschließen« und »öffnen« diesem »Geschehnis«, dieser »Eigentlichkeit«, haben wir »Geschichte«. Und Heidegger führt als Beispiel an: Wenn ein Flugzeug den Führer zu Mussolini bringt, dann geschieht »Geschichte«. Andererseits gilt: »Neger … haben keine Geschichte.« Heidegger betrieb Hermeneutik des Seins als Verklärung des Nationalsozialismus und des»Dritten Reiches«: »Unser Sein« »erlangt« »einen anderen Rang, eine andere Schärfe und Klarheit und Einmaligkeit« erst dann, wenn es der »Bestimmung« und dem »Auftrag des Seins« folgt, der »Überantwortung« an die »Unbedingtheit des Dienstes« im NS-»Staat«. Auf Heideggers Philosophie fällt ein brauner Schatten. Emmanuel Fay sieht in seiner Studie »Heideggers Einführung des Nazismus in die Philosophie«72 Heidegger sogar als Chefideologen der Nationalsozialisten, als ›Meisterdenker‹ Hitlers: »Ganz bewußt« habe Heidegger »die Grundlagen des Nazismus und Hitlerismus in die Philosophie« eingeführt, sie philosophisch eingefärbt und damit adaptiert, nämlich die Ideologie des Völkischen, Blut- und Boden-Metaphysik, den Primat des Deutschen und sein Recht auf größeren Lebensraum sowie den Führerkult. Heidegger legte seine ontologischen Begriffe »das Sein« und »das Seiende« als »Volk« und »Staat« an und aus – eben des Nationalsozialismus. Und weil der Nationalsozialismus als Antibolschewismus historisch im Recht gewesen sei, so springt schließlich Ernst Nolte seinem Lehrer Heidegger bei, befinde sich auch der »Faschist« Heidegger historisch nicht im Unrecht.73