Verrat der Intellektuellen

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IIst der universalisierende Intellektuelle passé? / Verrat der Intellektuellen?

Begriffe wie »Intellektueller« und »Moral« (oder auch »Gewissen«) haben bei etlichen Intellektuellen und geistigen Funktionsträgern in Redaktionsstuben und Universitätsseminaren keinen guten Klang. In den Feuilletons überregionaler Zeitungen wie der »Welt«, »FAZ«, »Süddeutschen«, selbst auch der »taz« und der »Frankfurter Rundschau« – die ehemals mit Kopf und Herz zuvörderst das nicht immer leicht zu intonierende Hohe Lied der Aufklärung sangen – erregen sich jüngere Redakteure und ehrgeizige Beiträger. So befindet Harry Nutt im vor Jahren neoliberal gewendeten Feuilleton der »FR«: »Man hält ihn noch im Spiel, den Intellektuellen, aber die Frage, wofür er noch gebraucht wird, ist kaum mehr zu beantworten … Der Typus des Intellektuellen wird immer häufiger zum Gegenstand einer Kasuistik seines eigenen Zerfalls.«1 Das Beispiel des heute 80-jährigen Günter Grass – einer der nach Bölls Tod wenigen ›klassischen‹ Intellektuellen der Bundesrepublik – schien erneut Stoff für diese Toterklärung zu geben. Grass, der immer eingeräumt hatte, als Flakhelfer und Schülersoldat ein glühender Jungnazi gewesen zu sein und dessen ganzes literarisches und publizistisches Werk auf eine Korrektur ebendieser Jugendsünde hinausläuft, hatte die Mitteilung über seine Zugehörigkeit kurz vor Kriegsende zur Waffen-SS-Division »Frundsberg« erst 2006 als 79-Jähriger, im Rahmen der Werbe-Kampagne zu seiner gerade erscheinenden Biographie »Beim Häuten der Zwiebel«, gewissermaßen offiziell bekannt gemacht.2 Gewiß kein Ruhmesblatt, abgesehen von der Merkwürdigkeit, daß er ausgerechnet der »FAZ«, die ihn 1998 anläßlich seiner Friedenspreisrede für den türkischen Schriftsteller Yasar Kemal als falschen Moralapostel geschmäht und die ihm auch den Nobelpreis nicht so recht gegönnt hatte, dies anvertraute – statt dem notleidenden SPD-Organ »Vorwärts« oder – warum nicht? – der »taz«. Aber welche Heuchelei folgte dem nun auf dem Fuß. Für diejenigen, denen Grass‘ politische Zeitkommentare schon lange mißfielen, war dies Anlaß zur Maßregelung: War dieser Grass nicht seinerseits ein Heuchler? Anderen Moral predigen – und selber? Und bestätigte das nicht ihre tiefe Skepsis, die sie schon immer gegen die Figur des Intellektuellen gehegt hatten? »FR«-Feuilletonredakteur Christian Schlüter3 rügte die angeblich »zumeist im hocherregt und überdreht hohen Ton der Moral vorgetragenen Statements« von Günter Grass und warf gleich die öffentliche Figur des Intellektuellen sowie die ganze Generation der Achtundsechziger in den Orkus. Und dekretierte in scharfem Tonfall: »Es gibt gar keine Generation zu verabschieden, weil sie längst verabschiedet worden ist.« »FR«-Kollege Christian Thomas glaubte gar die ganze Nachhitlerzeit mit dem Begriff der »Hypermoral« des konservativen Soziologen und Adorno-Antipoden Arnold Gehlen – für den in seiner Monographie »Moral und Hypermoral« humanistische Moral Überforderung und »Gesinnungsterror« bedeutete – erklären zu können: »Der nazistische Nihilismus, die radikale Aufkündigung traditioneller Normen und Werte in der NS-Ideologie, verlangte zwingend nach einem Gegenentwurf. Aus ihm entwickelte sich eine Gesinnungsstärke, bei mancher Gelegenheit in der Auseinandersetzung mit der westdeutschen Restauration aber auch ein Gesinnungsüberschuß, der sich schließlich den Vorwurf der Hypermoral einhandelte«4. Thomas‘ methodisches Vorgehen ist charakteristisch für etliche der jüngeren Feuilleton-Intellektuellen: Sie verflüchtigen moralische Grundkategorien und formalisieren ihr Denken funktional-technokratisch, indem sie psychologisieren. Ihnen geht es bloß nur noch um »Moral-Wettkämpfe«, »Gesinnungsstärke«, »Hypermoral«, also um Deutungshoheit. Inhalte und deren moralische Qualitäten interessieren weniger als vielmehr Macht und Machtkämpfe. Bedurfte es aber nicht gerade einer neuen Moral und »Gesinnungsstärke«, um der rassisch-völkischen NS-Gesinnung mit ihrem mörderischen Sozialdarwinismus den mentalen Boden zu entziehen? Was kann überall und zu jeder Zeit anzutreffendes Fehlverhalten ausrichten gegen das Recht, eine Moral und Gesinnung zu behaupten, die sich gegen die Wiederholung der nationalsozialistischen Ideologie und ihrer entsetzlichen Minderheitenverfolgung zur Wehr setzt? Geht es kleinteiliger und selbstgerechter? Während Christian Thomas noch mithilfe der Psychologie um Verständnis rang, entrüstete sich in der »Zeit« regelrecht ihr Altredakteur Ulrich Greiner.5 Empört rief er dem »Moraltrompeter Grass« ein »Es ist nun wirklich genug!« hinterher: Genug des »eitlen Gedröhnes«, der »unerträglichen Selbstgerechtigkeit« der Flakhelfer-Generation, des Moralismus des »Renegatentums« der Grass und Jens. Offenbar lang angestaute Zurücksetzung brach sich bei Greiner sturzartig Bahn: Durch Jahrzehnte habe, zürnte er, die »ewige Rechthaberei der Flakhelfer« »viele Sendestunden und viele Feuilletonseiten« in Anspruch genommen, ohne daß dies von »geistigem Nutzen für die Nation« gewesen sei. Statt temperiert mit dem Krieg als Geburtshelfer der bundesdeutschen Demokratie umzugehen, hätten die Grass und Jens renegatischen Moralismus praktiziert. Daher, so Greiner, wurde der Krieg zum »Vater eines rigorosen Moralismus. Er kam nicht selten aus den Reihen jener, die selber in unterschiedlichem Maß Anteil hatten an Verblendung und Verbrechen.« »Renegatischer«, also »rigoroser Moralismus«, was soll das bedeuten? Wohl doch: Moral darf sein, aber nur ein bißchen. Aber darf – muß – Krieg nicht immer wieder Anlaß sein zu analytischer, also auch moralischer Gesamtbetrachtung? Seien es die 55 Millionen Toten des Zweiten Weltkrieges oder die 200 000 Toten des Afghanistankrieges 2002 oder die unzähligen – die Zahlenangaben schwanken zwischen 151 000 und 655 000 – Toten des zweiten Irakkrieges (darunter seit März 2003 bis 2008 4000 US-Soldaten) oder die 1500 toten Libanesen sowie die 150 toten Israelis des Libanonkrieges 2006? Für die Schlüter und Greiner ist das nervtötender renegatischer Moralismus des Grass, der Intellektuellen, der achtundsechziger Generation. Ist es so – nervtötender Moralismus? Und wenn »FAZ«-Redakteur Henning Ritter in verquaster Diktion den konservativen Soziologen und rechten Netzwerker Arnold Gehlen hochpreist zum »aktuellen Denker für Deutschland«, weil der eben die »humanitaristische Gesinnungsethik«, diesen »herrschenden allzuständigen Moralismus« (der, so Ritter, Linken Adorno und Habermas), abtut als Ethik der »Zuschauenden und Kritisierenden, die für die Folgen des Handelns nicht aufzukommen brauchen«6, dann ist das rechter Zeitgeist-Stammtisch – mit peinlich-schalem Dunst. Moral – ist sie von Natur aus hypertroph? Lassen sich Vernunft und Moral nur denken als partikular und regional, wie Henning Ritter in der Nachfolge Ernst Jüngers und Arnold Gehlens plötzlich wieder glauben machen will?7

Ist also der universalisierende »Intellektuelle« passé? Wer ist das überhaupt, der Intellektuelle? Der Schriftsteller und frühere Jusovorsitzende Johano Strasser, heute PEN-Vorsitzender, hat in seiner Streitschrift »Kopf oder Zahl« (2005) eine Lanze gebrochen für die Figur des Intellektuellen. Der Intellektuelle ist jemand, so Strasser in einem Rundfunkinterview, »der privilegierten Zugang zur Öffentlichkeit hat und diesen privilegierten Zugang als Verantwortung begreift, um für diejenigen zu sprechen, die diesen Zugang zur Öffentlichkeit nicht haben«8. Und Strasser fügte hinzu, daß ein Intellektueller »nichts andres ist als ein paradigmatischer Citoyen, der öffentlich vorführt, was in der Demokratie Sache des Bürgers ist«. Sodann zog Strasser die fällige historische Parallele zur Dreyfusaffäre. Der jüdische Hauptmann Alfred Dreyfus, einziger Jude im französischen Generalstab, war ein Opfer des Antisemitismus geworden und wegen angeblicher Spionage für Deutschland lebenslang auf die Sträflingsinsel Cayenne verbannt worden. Erst öffentlicher Protest rettete ihn. »J‘accuse« – mit diesem an den französischen Staatspräsidenten adressierten Offenen Brief forderte der Schriftsteller Émile Zola Gerechtigkeit für Dreyfus. Zolas Brief schlossen sich in einem »Manifest der Intellektuellen« mehr als 2000 Franzosen unterschiedlichster Berufe an – unter ihnen Schriftsteller, Künstler, Publizisten, Wissenschaftler, Studenten. Dennoch: Das »J‘accuse« des damals berühmtesten Schriftstellers Frankreichs trug ihm sofort einen Schauprozeß vor dem Pariser Schwurgericht ein. »Tod für Zola« riefen dabei vor dem Gerichtsgebäude fanatisierte Demonstranten. Das Gericht verurteilte ihn wegen Beleidigung des Kriegsgerichtes zu einem Jahr Gefängnis und einer Geldstrafe von 3000 Francs. Zola und seine Familie wurden bedroht; der Schriftsteller floh nach London.

Dem Vergessenwerden auf der Sträflingsinsel entkam Dreyfus allein deshalb, weil Zola neben Mut und Zivilcourage auch Durchstehvermögen bewies. »Mut« – der »Wahlspruch der Aufklärung« lautet in Kants 1783 publizierter »Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung?«: »Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen!«9 – ist eine Grundtugend des Intellektuellen. Ihrer bedurften – mehr noch als der berühmte Zola – viele der weit weniger bekannten Petenten. Etliche der Unbekannten setzten ihre Karriere aufs Spiel. Erst nach jahrelangem Kampf brach das Lügengebäude von Generalstab und Geheimdienst zusammen. Und erst 1906, vier Jahre nach Zolas Tod, wurde Dreyfus rehabilitiert. Der ihn belastende Brief wurde schließlich als Fälschung entlarvt. Zola wurde zur Vaterfigur des Intellektuellen, »J‘accuse« seine Geburtsurkunde. Mit dem sogenannten »Manifest der Intellektuellen« von 1898 in Umlauf gesetzt wurde auch der Begriff des Intellektuellen.10 Fortan, nach 1898, wurde der Begriff des Intellektuellen in negativem wie positivem Sinne gebraucht. Der »Bloc républicain« – die Befürworter von Republik, Demokratie und Öffentlichkeit – bedienten sich seiner als Ehrentitel – und begründeten für das moderne Frankreich die »Institution« der intervenierenden Intellektuellen. Die antisemitische »Action française« – Gegner der Demokratie wie Charles Maurras und Maurice Barrès – machten das Wort »Intellektueller« dagegen zum Schimpfwort. Denn da meldeten sich, so ihr Vorwurf, Leute ohne gesetzliches Mandat öffentlich zu Wort in einer Angelegenheit, die allein Sache der Zuständigen, der Fachleute, der Experten, im Falle Dreyfus der Militärgerichtsbarkeit, sei. Und Barrès fügte hinzu: Es sei nicht zulässig, Begriffe wie »Wahrheit«, »Gerechtigkeit«, Vernunft zu verallgemeinern, zu universalisieren, schließlich gebe es immer nur eine konkrete Wahrheit, und zwar in diesem Falle die, die der Sache Frankreichs, seinem Blut, seiner Rasse und Nation, dienlich sei. Wer wie diese sogenannten Intellektuellen den abstrakten Wertekanon von Wahrheit und Gerechtigkeit über die Nation und den »Instinkt der einfachen Leute« stelle, erweise sich als ein besserwisserischer Haufe von »Entwurzelten«, ein Haufe, der Volk und Vaterland verrate. Barrés‘ die Figur des Intellektuellen negierende Argumentation ist bis heute ganz unvermindert in Gebrauch. In Frankreich beruft sich die »Neue Rechte« bis hin zu Le Pen auf ihr Vorbild »Action française«11. In Deutschland polemisiert der rechte Soziologe Helmut Schelsky 1975 in seinem konservativen, diffamierenden Pamphlet »Die Arbeit tun die anderen« gegen die angeblich klassenkämpferische »Priesterherrschaft der Intellektuellen«; und ebensolches kolportiert 2002 der konservative Soziologe Wolfgang Sofsky: Leute ohne Mandat redeten da über Dinge, von denen sie im Grunde nichts verstünden.

 

Am aggressivsten wurden Wort und Begriff des Intellektuellen im »Dritten Reich« diskriminiert. Intellektueller wurde zur Totschlagvokabel. Die »Deutsche Drogistenzeitung« druckte 1934 den seit 1928 populären Vers ab: »Hinweg mit diesem Wort, dem bösen, / Mit seinem jüdisch grellen Schein! / Wie kann ein Mann von deutschem Wesen / Ein Intellektueller sein!«12 Der Intellektuelle wurde in der NS-Ideologie nicht nur gleichgesetzt mit kapitalistischen Plutokraten, sondern auch mit dem sogenannten jüdischen Bolschewisten oder bolschewistischen Juden. Die aus Leitbegriffen wie Rasse, Volk, Blut und Boden, Nation, Reich, Führer kompilierte NS-Weltanschauung stand in unmittelbarem Gegensatz zum Universalismus von Aufklärung, Humanismus, Menschenrechtsdenken. Deren verachtenswerter Agent war in den Augen der NS-Bewegung sowohl der US-Dollar-Plutokrat als auch der bolschewistische Intellektuelle. Auch heute sind in Diktaturen, zumal in Theokratien, Intellektuelle nur dann willkommen, wenn sie der herrschenden Ideologie/Weltanschauung/Religion Beifall zollen. Andernfalls werden sie ausgegrenzt, marginalisiert, sodann kriminalisiert, verfolgt und mit dem Tode bedroht.

In Demokratien ist es anders. Intellektuelle stellen in ihnen so etwas dar wie eine Form der Bürgerinitiative – wobei sie oft, aber keineswegs immer willkommen sind. Die Wertschätzung oder Mißachtung, die sie erfahren, wird beeinflußt von der Stimmung des Zeitgeistes; sie erweist sich als abhängig von der jeweiligen politisch-ökonomisch-ideellen Interessenlage. Uwe Justus Wenzel, Redakteur für Geisteswissenschaften der »Neuen Zürcher Zeitung«, hat 2002 fünfzehn Autoren – die meisten von ihnen Professoren der Soziologie – Fragen gestellt wie: Was ist die zeitgemäße Form eines Intellektuellen, über welche Eigenschaften sollte er verfügen? Stellt er heute überhaupt noch eine Bereicherung des öffentlichen Lebens dar? Keinerlei Bereicherung, erklärte der 1952 geborene Soziologe Wolfgang Sofsky, weil Intellektuelle nicht mehr als Geldschneider und Aufmerksamkeitsjäger seien. Auf geradezu frappierende Weise wiederholte Sofsky damit in seinem »Illusionslose Beobachtung« überschriebenen Beitrag alle gängigen Klischees und Ressentiments – wie sie schon Schelsky in seiner inquisitorischen Intellektuellenfeindschaft vor nahezu 30 Jahren strapaziert hat – gegen Intellektuelle: Wohlfeil produzierten sie als »selbsternannte Moralwächter« Meinungsware für »Einrichtungen«, die allein durch öffentliche Kontroversen »Gewinn erzielten«13. Als »Gewissen der Menschheit« spielten sie sich auf und gäben vor, im Namen höherer Werte zu sprechen: »Sie schweben frei dahin, wo die Worte und Loyalitäten flüchtig, die Verantwortung gering, das Gedächtnis kurz« ist. Also lauter Schwätzer und Schluris. Auch der emeritierte Literaturwissenschaftler und Herausgeber des »Merkur« Karl Heinz Bohrer hielt ebenso wie der Publizist Claus Koch in diesem Sammelband die Figur des gesellschaftskritischen Kopfarbeiters für »abgelebt«. Beider Argument: Der Prozeß politischer Zivilisierung sei in den westlichen Demokratien vollzogen. Bohrer nannte als Beispiele: »Abschaffung der Todesstrafe, Sozialgesetzgebung für die weniger begüterten Schichten, absoluter Vorrang des Rechts vor der jeweiligen Exekutive«14. Darum hätten Gesellschaftskritiker nichts mehr zu tun und zu sagen. Nur vom »phänomenologisch begabten Blick«15 kulturkritischer Schriftsteller wie Botho Strauß könnte zukünftige Gesellschaftskritik noch etwas lernen. Gewiß, gibt Sighard Neckel, zu dieser Zeit Leitungsmitglied des Frankfurter Instituts für Sozialforschung, Bohrer im selben Sammelband mit Recht zur Antwort, ist originelle literarische Kulturkritik von diagnostischem Wert, aber macht sie, fragt er, gleich den mitdenkenden und mitfühlenden Staatsbürger, den gesellschaftskritischen Zeitgenossen, überflüssig? Begründet permanenter gesellschaftlicher und sozialer Wandel nicht immer wieder aufs neue die Notwendigkeit, die mit diesem Wandel verbundenen Veränderungen zu beobachten, zu beschreiben und zu bewerten – und damit gesellschaftliche Begriffskämpfe zu führen, die zugleich auch Machtkämpfe sind unter dem Aspekt der Deutungshoheit? Etwa über den Wert von Bürgerrechten? Oder neuer sozialer oder ökologischer Herausforderungen? Müssen gesellschaftliche Grundwertvorstellungen – von Zeit zu Zeit – nicht immer wieder aufs Neue bestätigt werden? Der »kritische Blick« also ist unverzichtbar. Um ihn aber überhaupt erst möglich zu machen (so betont zum Beispiel der amerikanische Sozialwissenschaftler Michael Walzer, seit Jahrzehnten einer der Vordenker der amerikanischen Linken, im ersten und wichtigsten Essay dieses Bandes) bedarf es solcher »moralischer« Tugenden wie der des »Mitleids«, des »Muts« und des »guten Auges«, des »Augenmaßes«.16 Erst durch Mitgefühl, das heißt durch Einfühlung in die Situation anderer, entsteht Wahrnehmungsfähigkeit für Opfer- und Ungerechtigkeitsverhältnisse sowie Identifikationsbereitschaft mit dem Leid anderer. Das geht weder ohne Ernst Jüngers Kaltnadeltechnik der »désinvolture« (die zur Beurteilung notwendige Fähigkeit, Emotion im Zaum halten zu können), noch ohne genaues Hinsehen und Beobachten, noch ohne »moralische« Tugenden, also nicht ohne die von Luhmännern, Funktionalisten, Strukturalisten, Apokalyptikern und Dekonstruktivisten so vielfach geschmähten Humanisierungsfermente wie Moral, Gesinnung, Gewissen. Bloße moralinsaure Moral ist leer, ohne Moral aber ist alles nichts, zum Beispiel weil Moral zwangsläufig sich bildet bei Abwesenheit von Moral – durch Gewissen.

Um Kritik zu üben an Unrecht und »Ausbeutung« – »Menschen zu schinden ist falsch … und Ausbeutung ist … exakt in der gleichen Weise falsch«, so Michael Walzer17 –, dazu bedarf es auch in Demokratien des Muts und der Zivilcourage. In Diktaturen ist davon ungleich mehr vonnöten, aber eben auch in Demokratien erfordert es Mut und braucht es Zivilcourage, sich Mehrheitsmeinungen entgegenzustellen. Wie sehr das der Fall sein kann, zeigt das Beispiel des 11. September 2001 und seine Folgen.18

Um Unrecht zu erkennen, ist nicht so sehr Theorie erforderlich, betont Michael Walzer in seinem Beitrag »Die Tugend des Augenmaßes«, sondern von Mitleid und Mut getragene moralische Sensibilität. Ist es nicht so? Es ist so – und diese Sensibilität ist zeitlos, erklärt Julien Benda in seiner 1978 von Jean Améry neuherausgegebenen Streitschrift »Der Verrat der Intellektuellen«. Das Gefühl für Unrecht, moralische Empfindsamkeit für ungerechte Herrschaft von Menschen über Menschen, ist zu allen Zeiten existent, unabhängig von der jeweiligen Herrschafts- und Hierarchieform. Benda: »Ich kann mir durchaus vorstellen, daß die Völker, die Nebukadnezar an Nasenringen die Landstraße nach Chaldäa entlangzerren ließ, daß der Unglückliche, der von seinem mittelalterlichen Seigneur an den Mühlstein gebunden … wurde, daß der Jüngling, den Colbert lebenslänglich an die Galeerenbank ketten ließ: daß sie alle sehr wohl der Ansicht waren, man verletzte an ihnen ein ewiges – statisches – Prinzip der Gerechtigkeit.«19 Das Universelle ist in diesem Fall mehr als das Partikulare. Intellektueller ist, so beschreibt es auch Jean-Paul Sartre in diesem Sinne in seinen im Herbst 1965 in Japan gehaltenen Vorträgen »Plädoyer für die Intellektuellen«, wer einen universellen Anspruch behauptet und sich weigert, ihn in den Dienst partikularer Zwecke, das heißt der oder des jeweils Herrschenden, zu stellen: »Der Intellektuelle ist also der Mensch, der sich bewußt wird, daß es in ihm und in der Gesellschaft einen Gegensatz gibt zwischen der Suche nach der praktischen Wahrheit (mit allen Normen, die sie impliziert) und der herrschenden Ideologie (mit ihrem System traditioneller Werte).«20 Der Geistesarbeiter soll nicht als »falscher Intellektueller« »Wachhund« der »herrschenden Klasse« sein und ihre »partikularistischen« Interessen verteidigen, sondern sich einsetzen für »die Universalisierung, das heißt gegen die Ausbeutung, die Unterdrückung, die Entfremdung, die Ungleichheiten«21. Diese Worte klingen in heutigen neoliberalen Juste-Milieu-Ohren unerlaubt aufrührerisch, sie markieren indes nur die Differenz zwischen Universalismus und Partikularismus, zwischen der Reduktion auf das jeweils Besondere und dessen Abstraktion ins universell Allgemeine. Beider Dialektik aber ist für das Verständnis von Unterdrückung und Entfremdung sowie Versuchen ihrer Aufhebung unveräußerlich. So notwendig wie das stets vorhandene und in allen Generationen nachwachsende Gerechtigkeitsgefühl.

Auf eben diesen ebenso universalistisch-abstrakten wie ins Konkrete immer wieder übersetzbaren Grundwert der Gerechtigkeit bezieht sich in Wenzels Intellektuellen-Anthologie auch Ralf Dahrendorf, ehemaliger Europa-Kommissar und Direktor der »London School of Economics«. Intellektuelle, so die Empfehlung des (seit 1993) englischen Oberhaus-Lords, sollten zum Beispiel ineins mit den Grundprinzipien der Französischen Revolution – Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit – den gesellschaftlich »wichtigsten Wertekonflikt«22 kritisch im Auge behalten: nämlich inwieweit es gerecht zugeht im Verhältnis der miteinander konkurrierenden Werte Gleichheit und Freiheit. Daß nämlich zum Beispiel Freiheit – ohne von Solidarität getragene Bereitschaft (wenigstens) zur Gleichheit der Chancen – für Schwächere eine Illusion ist.

Indem auch Benda das urdemokratische Prinzip der Gleichheit hervorhebt – daß alle Menschen frei und an Rechten gleich geboren sind –, behauptet er nicht, was die »Rechte« wiederum der »Linken« zum Vorwurf macht, ›Gleichmacherei‹ des Ungleichen. Benda weist diesen bis heute praktizierten Trick zurück: »Der Trick besteht darin, nicht zur Kenntnis zu nehmen, daß die Demokratie nur die Gleichheit der Bürger vor dem Gesetz und im Zugang zu öffentlichen Ämtern zum Beispiel postuliert, während ihre Position in allen übrigen Fragen durch jenes Diktum des englischen Philosophen Grant Allen definiert wird, demzufolge ›Alle Menschen frei und ungleich geboren sind‹ und es ›das Ziel des Sozialismus ist, diese natürliche Ungleichheit zu erhalten und das beste daraus zu machen oder auch durch jenes andere des französischen Demokraten Louis Blank, demzufolge die wahre Gleichheit in der ›Verhältnismäßigkeit‹ liegt und für alle Menschen in der ›gleichen Entfaltung ihrer ungleichen Fähigkeiten‹ besteht – zwei Formulierungen, die beide zurückgehen auf den Gedanken Voltaires: ›Wir sind alle Menschen in gleicher Weise, aber nicht gleiche Mitglieder der Gesellschaft.‹«23 Nochmals (weil dies das wichtigste Kampfargument der alten Wirtschaftsliberalen bis hin zu den heutigen marktradikalen Liberalen, auch in der SPD, geworden ist): Der Trick besteht darin, nicht zur Kenntnis zu nehmen, daß (soziale) Demokratie nur die Gleichheit der Bürger vor dem Gesetz, beim Zugang zu öffentlichen Ämtern sowie Gleichheit der Chancen, der Ausgangsbedingungen, postuliert. Daß Menschen nicht gleich sind, sondern höchst unterschiedlich, ist offensichtlich. Chancengleichheit verlangt Gleichheit der Ausgangsbedingungen, akzeptiert aber, daß »ungleiche Menschen aus gleichen Chancen Verschiedenes machen«24.

 

Anders als Sofsky, für den Intellektuelle bezahlte Schreibsöldner und Meinungs-Bubis sind, und Bohrer, der die Bundesrepublik bereits für »auszivilisiert« erklärt, hält es zum Beispiel eine so ungewöhnliche Allianz wie die von Michael Walzer, Ralf Dahrendorf und Johano Strasser durchaus für unklug, auf die Figur des sich öffentlich erklärenden Intellektuellen zu verzichten. Denn können jene, denen Wohl und Wehe des Ganzen nicht gleichgültig ist, nicht helfen, die Transparenz einer offenen, lernfähigen Gesellschaft aufrechtzuerhalten? Fügen sie damit der Gesellschaft Schaden zu? Im Gegenteil. Sie versuchen Schäden zu verhindern. Für den Sozialphilosophen Jürgen Habermas25 ist Intellektueller, wer sich, während andere noch Business-as-usual betreiben, über »kritische Entwicklungen aufregen« und diese Aufregung mit politischer Urteilskraft verbinden kann. Dazu bedarf es, so Habermas, links-liberaler intellektueller Begleiter der Bundesrepublik, »unheroischer Tugenden« wie »einer argwöhnischen Sensibilität für Versehrungen der normativen Infrastruktur des Gemeinwesens, die ängstliche Antizipation von Gefahren, die der mentalen Ausstattung der gemeinsamen politischen Lebensform drohen, der Sinn für das, was fehlt und ›anders sein könnte‹, ein bißchen Phantasie für den Entwurf von Alternativen, und ein wenig Mut zur Polarisierung, zur anstößigen Äußerung, zum Pamphlet«.

»Ein wenig Mut« zu Polarisierung und Erregung von Anstoß ist – wie gesagt – auch in Demokratien vonnöten, ungleich mehr davon natürlich in Diktaturen. Und war erforderlich in der geschlossenen Feudalgesellschaft des Mittelalters. Wer wie der Dominikanermönch Giordano Bruno Ende des 16. Jahrhunderts der katholischen Lehre widersprach, riskierte sein Leben. Für die Kirche kreiste die Sonne um den Weltmittelpunkt Erde, für Bruno die Erde um die Sonne. Und mit der Unendlichkeit des Weltraums hatte er zugleich die Personalität Gottes in Frage gestellt. Der Ketzerei angeklagt, hielt er an seiner angeblichen Irrlehre fest, statt ihr abzuschwören. Bruno verweigerte den Verrat der Wahrheit. Am 17. Februar 1600 wurde er dafür in Rom auf dem Campo dei Fiori verbrannt. Ein Denkmal an der Stelle des Scheiterhaufens erinnert noch heute an ihn, an seinen Todesmut. Hätte man es Giordano Bruno angesichts der Todesandrohung übelnehmen können, wenn er, um sein Leben zu retten, widerrufen, also intellektuellen Verrat begangen hätte?

Bertolt Brecht hat eben das zum Thema gemacht in seinem Stück »Leben des Galilei«. Galileis – ebenso wie Brunos – Erkenntnis, daß die Erde nicht – wie die Katholische Kirche behauptete – Mittelpunkt des Weltalls ist, sondern sich um die Sonne dreht, brachte die Inquisition ins Spiel. Von ihr angeklagt, beugte sich der historische – lebens- und sinnenfreudige – Galilei der Gewalt und widerrief: »Ich schwöre ab, was ich gelehrt habe, daß die Sonne das Zentrum der Welt ist«. Wider besseres Wissen, aus Angst vor der Folterkammer der Inquisition, leugnete Galilei, ein Freund der »Fleischtöpfe«, die Wahrheit. Die Kirche war‘s zufrieden, sie gewährte ihm einen geruhsamen Lebensabend: Bis zu seinem Tod 1642 lebte er in einem Landhaus bei Florenz – allerdings von Mönchen überwacht, in Schutzhaft der Kirche. Ein klassischer Fall von Selbstverrat, von intellektuellem Verrat? In Brechts erster, Dänischer Fassung des »Leben des Galilei« (1938/39, uraufgeführt in Zürich mit Leonard Steckel) ist Galilei ein anpasserischer Opportunist. Er opfert die Verantwortung gegenüber der Gesellschaft dem eigenen Vorteil. Macht zweckfreie Wissenschaft manipulierbar? Alles ist Galilei gerade recht, sofern es Mittel zum Zweck ist. Brecht schrieb dieses Stück in Dänemark im Exil, erschrocken darüber, daß inzwischen deutschen Physikern im »Dritten Reich« die Spaltung des Uranatoms gelungen war. Also fragte Brecht besorgt nach der Verantwortung des Wissenschaftlers. In der zweiten Fassung »Galileo« (1945/47: Entstehungs- und Aufführungsort USA mit Charles Laughton), die Brecht unter dem Eindruck der im August 1945 auf Hiroshima und Nagasaki abgeworfenen Atombomben – was Brecht für ein Verbrechen hielt – verfaßt hat, sowie in der dritten Fassung »Leben des Galilei« (1955/56 für das »Berliner Ensemble« überarbeitet, mit Ernst Busch als Galilei) verwirft Brecht den Widerruf als soziales Verbrechen. Und läßt dabei Galilei mit sich selbst ins Gericht gehen: »Ich halte dafür, daß das einzige Ziel der Wissenschaft darin besteht, die Mühseligkeit der menschlichen Existenz zu erleichtern. Wenn Wissenschaftler, eingeschüchtert durch selbstsüchtige Machthaber, sich damit begnügen, Wissen um des Wissens willen anzuhäufen, kann die Wissenschaft zum Krüppel gemacht werden … Ich überlieferte mein Wissen den Machthabern, es zu gebrauchen, es nicht zu gebrauchen, ganz wie es ihren Zwecken diente. Ich habe meinen Beruf verraten. Ein Mensch, der das tut, was ich getan habe, kann in den Reihen der Wissenschaft nicht geduldet werden.«26 Ist es schon ein »soziales Verbrechen«, wer wie Galilei, um sein Leben zu retten, die Wahrheit verrät? Verrat ist es allerdings schon.

Ende des 16. Jahrhunderts begann der Philosoph Michel de Montaigne das 1. Kapitel des 2. Buches seiner wunderbar flirrenden, biegsamen Essays mit einer Betrachtung »Über die Wechselhaftigkeit unseres Handelns«. Er sprach von der »naturgegebenen Unbeständigkeit unserer Verhaltensweisen und Meinungen«27 und verglich den Menschen mit »jenem Tier, das die Farbe des Ortes annimmt, an den man es jeweils versetzt«28 (das Chamäleon). Und er fügte hinzu, daß in der »Kunst zu fliehen« natürlich etwas Sinnvolles liege. Keinen Zweifel ließ Montaigne aber daran: »Man sollte es für etwas wahrhaft Großes halten, wenn einer stets als ein und derselbe auftritt«29, das heißt sich leiten läßt von Standfestigkeit und Selbsttreue. Ist aber, wer in seinen Meinungen, Ansichten und Handlungen »stets als ein und derselbe auftritt«, immer und vorbehaltlos »wahrhaft groß«? Nicht immer. Zum Beispiel, wenn er sich geirrt hat – falschen Propheten gefolgt ist oder noch folgt. »Groß« ist dann eher der, der seine Irrtümer erkennt und korrigiert. Zu allen Zeiten und nahezu in allen Problemlagen gibt es dafür Beispiele. Beschränken wir uns hier auf die Zeit nach dem 30. Januar 1933. Etliche, die anfangs der NS-Ideologie des »Dritten Reiches« gefolgt waren, lösten sich im Laufe der zwölf Jahre NS-Diktatur von ihr. Einige wurden Widerstandskämpfer. In den Augen des NS-Regimes »Verräter«, waren sie nach Kriegsende Lichtgestalten, an denen sich alle aufrichten konnten: Frauen und Männer der »Roten Kapelle«, die sich auch an Zwangsarbeiter gewandt hatten, die Geschwister Sophie und Hans Scholl, Männer und Frauen des Kreisauer Kreises und zahlreiche Verschwörer des 20. Juli. Was aber, wenn jemand sein Hemd mehrfach wechselt? Ist es begründbar oder erfolgt es je nach Lage, Lust und Laune? Wie zum Beispiel ist der Fall des Schriftstellers Arnolt Bronnen zu beurteilen?

Der Marxist und enge Brechtvertraute Arnolt Bronnen mutierte Mitte der Zwanziger Jahre zum Freund des aufstrebenden Berliner Gauleiters Joseph Goebbels und zum »Faschismusphilen«30. Doch der völkische Nationalsozialist tauschte sein geistig-politisches Kategoriengerüst erneut aus, als das »Dritte Reich« auf den Untergang zusteuerte. Bronnen wurde nun wieder Kommunist und Mitglied der KPÖ.31 Wie schon 1925/26 wechselte er erneut seine Wertvorstellungen: An die Stelle des partikularistischen NS-Leitbegriffes des germanischen Volkes trat der universalistische »Kampf für die Menschheit«. Und er verklärte – Marxens historischen Materialismus kopierend – den »Arbeiter« zum revolutionären Subjekt der Geschichte: »Die Arbeiter waren immer überlegen … Sie waren die Vorhut der Menschheit. Ich mußte mich unterordnen. Und diese Unterordnung war schön.«32 – »Ich stand in den Reihen der kämpfenden Arbeiter, bereit, den Ausgebeuteten und Entrechteten zu dienen.«33