Verschwiegene Wasser

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Morgenstern rannte die Treppe im Vorderhaus hinauf, schnell, ambitioniert, den angefutterten Kilos den Kampf ansagend. Außer Atem stand er schließlich vor der Wohnungstür und klingelte erneut.

Eine junge Frau öffnete und taxierte ihn abfällig. Sie erwartete offensichtlich jemand anderen. »Bringen Sie die Bestellung?«, fragte sie. Die hochgewachsene und sportlich wirkende Frau trug eine zu enge englische Schuluniform. Der karierte Rock war allerdings beträchtlich kürzer, als es an derartigen Lehranstalten üblich war. Er gab den Blick auf grobmaschig bestrumpfte Beine frei, und die gewählte Bluse wurde nur von zwei Knöpfen geschlossen, denen die von einem Korsett gehaltenen Brüste jeden Moment den Garaus zu machen drohten.

Morgenstern hielt entschuldigend seinen Dienstausweis hoch und musste sich zwingen, keinen Ton der Bewunderung über derart prachtvoll dargebotene Üppigkeit von sich zu geben. »Kriminalhauptkommissar Morgenstern. Wohnt hier Sina Rogatz?« Im selben Augenblick wurde ihm klar, wie absurd die Frage war. »Wohnte«, hätte er fragen müssen.

»Sie ist nicht hier«, antwortete die Frau verunsichert.

Morgenstern schaute auf die Namen an der Klingel. »Und Sie sind?«

»Constanze Kilian.«

»Kann ich Sie kurz sprechen? Es wäre angebracht, das nicht im Treppenhaus zu tun.«

Constanze trat einen Schritt zur Seite, und noch bevor die Wohnungstür hinter Morgenstern ins Schloss fiel, fragte sie: »Ist sie tot?«

Sie stellte die Frage so selbstverständlich, wie sich andere nach der Uhrzeit erkundigten oder danach, ob es notwendig wäre, bei bedecktem Himmel einen Regenschirm mitzunehmen.

Morgenstern schaute sie erstaunt an. »Warum vermuten Sie das?«

»Ich zieh mich schnell um. Setzen Sie sich in die Küche. Kaffee ist gerade durchgelaufen. Ich nehme auch einen. Milch, zwei Stück Zucker.«

Ein paar Minuten später nahm sie die Tasse, rührte kurz um und trank einen Schluck. Sie trug ein ausgewaschenes Sweatshirt und eine Jogginghose, die gemütlich wirkte. Auch wenn ihr jetziges Aussehen die Konzentration auf das Wesentliche förderte, so bedauerte Morgenstern den Kleidungswechsel. Sobald sie am Tisch saß, fragte er: »Warum glauben Sie, dass Sina tot ist?«

»Sie hat ständig damit gedroht – oder besser gesagt, kokettiert.« Constanze zog eine Schachtel Zigaretten aus der Hosentasche. Ohne ihn zu fragen, ob er einverstanden sei, zündete sie sich eine an.

»Wir haben ihre Leiche heute früh aus der Spree geborgen. Wir müssen davon ausgehen, dass sie ermordet wurde.«

Die Frau blies den Rauch über ihre Köpfe und bemühte sich, ihre Bestürzung unter Kontrolle zu halten. Ein leichtes Zittern ging durch ihren Körper. Noch bevor sie die ersten Tränen vergoss, zog Morgenstern ein gebügeltes Stofftaschentuch aus seinem Jackett und bot es ihr an. Sie schüttelte den Kopf und legte die Zigarette in den Aschenbecher. Dann stand sie auf, riss ein Blatt Papier von einer Küchenrolle ab und schniefte hinein. Danach setzte sie sich zurück an den Tisch, nahm die Zigarette und wies damit auf das Taschentuch.

»Ich wusste gar nicht, dass es so etwas noch gibt. Alte Schule, oder?«

Morgenstern antwortete nicht, steckte das Tuch aber wieder ein. »Sind Sie eine Kommilitonin von Sina?«

»Nein, Sina ist schon seit Jahren mit dem Studium fertig. Wir teilen uns nur die WG.«

»Wohnt noch jemand hier?«

»Das dritte Zimmer ist nie vermietet worden. Sina und ich haben zwar darüber nachgedacht, dann aber beschlossen, uns die Kosten für die Wohnung zu teilen.

»Darf ich fragen, was Sie studieren?«

»Betriebswirtschaft. Noch zwei Semester, dann habe ich meinen Master.«

»Das Studium finanzieren Sie, indem Sie sich per Webcam präsentieren?«

Constanze schaute ihn prüfend an. »Vom Alter her könnten Sie einer meiner Kunden sein.«

Morgenstern sparte sich einen Kommentar, auch wenn er sich fragte, warum Männer seines Alters virtuelle Frauen realen vorzogen.

»Männer ab einem bestimmten Alter sind großzügig, wenn sie ihre Fantasien verwirklicht sehen«, beantwortete sie die Frage, obwohl er sie nicht laut gestellt hatte. »Ich habe einen festen Kundenkreis. Zehn Herren insgesamt. Der Älteste ist 78. Sie zahlen für eine Selbsttäuschung. Jeder glaubt, dass ich Gefühle für ihn empfinde.« Sie zog an ihrer Zigarette und bemerkte mit trotziger Stimme, als müsse sie sich entschuldigen: »Das ist anständig verdientes Geld.«

»Hat Sina auch derartige Dienstleistung angeboten?«

»Sina?« Constanze zögerte, bevor sie die Frage beantwortete. »Gut zwei Jahre. Anfänglich dachte ich, sie wollte es nur ausprobieren. Macht ausüben und so. Sina war echt talentiert darin. Dabei hatte sie es nicht so mit Männern. Auf Frauen stand sie allerdings auch nicht.«

»Wie kommen Sie denn zu dieser Einschätzung?«

Constanze schaute Morgenstern an, drückte ihre Zigarette energisch im Ascher aus und sagte mit einem leichten Bedauern: »Ich bekomme nicht oft einen Korb. Egal, ob von Männern oder Frauen. In Sina habe ich mich getäuscht. Sie war asexuell.«

Morgenstern brauchte einen Augenblick, verstand dann aber. »Kennen Sie Sinas Kunden?«

Sie schüttelte den Kopf. »Jedenfalls nicht ihre Namen.«

»Bekam Sina oft Besuch?«

»Nein, niemals.«

»Freunde? Kollegen? Ehemalige Kommilitonen?«

Wieder verneinte sie.

»Können Sie mir sagen, was Sina sonst so in ihrer Freizeit gemacht hat?«

»Freizeit war ein Fremdwort für sie. Sie verbrachte jede freie Minute in ihrer Firma. In der Nacht beglückte sie Kunden. Ein schwerer Fall von Workaholismus. Dienstags ging sie regelmäßig zur Therapie.«

»Sie hatte eine Firma?«

»Chromosoph. Ein Start-up. Hat sie gemeinsam mit zwei Studienfreunden gegründet.«

Morgenstern überlegte, welche Frage er stellen wollte, bekam aber auch diesmal die Antwort, bevor er sich entschieden hatte.

»Ich habe keine Ahnung, was Chromosoph macht. Sie tat immer sehr geheimnisvoll. Einmal erwähnte sie, dass eine Menge Geld mit ihrer Forschung zu verdienen sei.«

»Wissen Sie, was für eine Therapie Sina gemacht hat?«

»Wahrscheinlich so eine ›Meine-Kindheit-war-scheiße‹-Therapie.« Augenblicklich bereute Constanze die Formulierung und machte eine entschuldigende Geste. »Wem es hilft!«

»Haben Sie die Adresse von dem Therapeuten?«

Sie stand auf, nahm eine Visitenkarte von einem Wandbrett und reichte sie Morgenstern über den Tisch. »Doktor Bedürftiger. Kein Witz! Der Kerl heißt wirklich so.«

»Können Sie mir sagen, warum Sina glaubte, professionelle Hilfe in Anspruch nehmen zu müssen?«

»Ich weiß nicht viel über sie. Geheimnisse waren ihr Steckenpferd.«

Zum zweiten Mal an diesem Tag hatte Morgenstern das Gefühl, dass er nicht die volle Wahrheit erfuhr. »Ich möchte gern Sinas Zimmer sehen.«

° ° °

Sich fremde Wohnungen anzuschauen empfand Morgenstern immer als eine Verletzung der Privatsphäre. Die unbekannten vier Wände verrieten nicht nur etwas über den Geschmack und den Lebensstil der Person, die dort lebte, sondern gaben auch Details preis, die Dritten verborgen bleiben sollten. Sofort fiel Morgenstern auf, dass Sinas Zimmer mustergültig aufgeräumt war. Das Bett war gemacht, nichts lag herum, der Inhalt der Schränke war nach praktischen Erwägungen sortiert. Dann bemerkte er, dass sie auf jegliche Verschönerung verzichtet hatte. Keine Bilder, Plakate oder Fotos. Auch der Schreibtisch verriet nicht, dass an ihm gearbeitet wurde. Ein paar Bücher, allesamt Fachpublikationen, standen, der Größe nach aufgereiht, in einem schlichten Regal. Das Zimmer wirkte nicht wie jenes einer jungen Frau aus gutsituiertem Hause. Der einzige Unterschied zu dem Zuhause eines nach eremitischen Grundsätzen lebenden Menschen schien der Computer zu sein. Auch wenn Morgenstern kein Spezialist war, konnte er doch erkennen, dass es sich um ein hochwertiges Gerät handelte.

Normalerweise stellte sich bei ihm ein Gefühl für die Person ein, deren Lebensmittelpunkt er in Augenschein nahm. Diesmal schwieg sein Inneres. Vielleicht war es die Enttäuschung darüber oder einfach nur jahrelange Routine, die ihn veranlasste, die Tastatur zur Seite zu schieben. Darunter lag ein Briefumschlag. Adressiert war er nicht, er schien aber schon eine Weile in Benutzung zu sein. Mit dem Taschentuch, das Constanze nicht hatte benutzen wollen, zog er den Umschlag hervor. Der war unverschlossen und enthielt Polaroidaufnahmen. Morgenstern nahm sie vorsichtig heraus und musste schlucken. Sie zeigten ein junges Mädchen, fast noch ein Kind, und einen Mann beim Sex. Das Gesicht des Mädchens war deutlich erkennbar, das des Mannes war mit einem Retuschierpinsel unkenntlich gemacht worden. Bei dem Mädchen handelte es sich eindeutig nicht um Sina. Die Physiognomie war eine andere. Behutsam steckte Morgenstern die Fotos ein. Es kam ihm so vor, als seien die Polaroidaufnahmen so platziert worden, dass sie gefunden werden sollten.

Die übrigen Räume der Wohnung erschienen ihm uninteressant. Ein weiteres Zimmer enthielt nur einen leeren Wäscheständer und ein paar zusammengefaltete Umzugskisten. Auch das Bad wirkte spartanisch, mit billigen Schränken ausgestattet und mit einer schmalen Dusche versehen.

° ° °

Wieder im Büro, fasste Morgenstern alle Erkenntnisse in einer Akte zusammen und notierte Fragen, denen nachzugehen war. Gegen achtzehn Uhr beschloss er, Feierabend zu machen. Anna Balin wartete auf ihn.

Er hatte sich angewöhnt, mit der S-Bahn zu fahren, wenn er Anna besuchte. Der anschließende Spaziergang vom Bahnhof zu ihrer Wohnung half ihm nicht nur beim Kampf gegen die Pfunde, sondern auch dabei, den stressigen Tag zu vergessen.

 

Nachdem er aus der Bahn gestiegen war, erwarb er einen Strauß Gladiolen, von denen er wusste, dass es ihre Lieblingsblumen waren. Das Leben auf dem Savignyplatz pulsierte. Alle schienen die warmen Tage genießen zu wollen. Touristen ließen das tagsüber Erlebte vor den Cafés und Restaurants Revue passieren und planten die Höhepunkte für den kommenden Tag. Ein paar junge Roma standen vor den Tischen und spielten mechanisch eine Melodie. Zwischendurch rief einer von ihnen »Freude« und strahlte jeden auffordernd an, dessen Blick in seine Richtung ging. Wenige lächelten zurück. Die meisten ignorierten ihn. Einige schauten demonstrativ weg. Morgenstern empfand die Musik als nervig. Er gab aus Prinzip nie Geld. Anna dagegen suchte regelmäßig einige Cent zusammen. Als sie einmal keine Münzen in ihrer Tasche gefunden hatte und er mosernd seine Brieftasche plündern musste, hatte sie gefragt, ob es ihm lieber wäre, wenn er beruflich mit diesen Jungs zu tun hätte. Er hatte nicht darauf geantwortet.

Schon im Hausflur roch Morgenstern, dass Anna etwas Neues versucht hatte. Ihre Begeisterung für das Ausprobieren von exotischen Rezepten war dafür mitverantwortlich, dass er fünf Kilo auf der Habenseite verbuchen musste. Eine Tatsache, die ihm Sorgen bereitete. Anna war eine brillante Köchin und er, zugegebenermaßen, ein williges Opfer kulinarischer Experimentierfreude.

Anna öffnete die Tür und begrüßte ihn in einem farbenfrohen Kaftan. Erfreut nahm sie ihm die Blumen ab. Ihre Umarmung war leicht, und dennoch spürte er die Wärme und die Rundungen ihres Körpers, die von dem weichen Stoff verführerisch umflossen wurden. Sie küsste ihn zur Begrüßung flüchtig auf den Mund und zog ihn aufgeregt ins Wohnzimmer. Der Tisch war exotisch gedeckt und die Dekoration bis ins kleinste Detail auf das Essen abgestimmt.

»Heute gibt es afrikanische Pasteten«, verkündete sie und machte eine einladende Geste, die seinen Blick auf schwarze Steingutteller, Holzlöffel im Giraffendesign, machetenähnliche Messer und Serviettenhalter aus Ebenholz lenkte.

Ob die schon immer Bestandteil ihres Haushalts waren, konnte Morgenstern nicht mit Bestimmtheit sagen. Er bemühte sich aber, seine fehlende Begeisterung durch ein Interesse vortäuschendes Lächeln zu kaschieren. Es gelang ihm nur unzureichend, schon allein deshalb, weil er an Insekten, Termiteneier und fette Maden denken musste, die, zu einem Brei verarbeitet, serviert wurden. Er hatte davon in einem Buch über die Essgewohnheiten eines Volkes am Victoriasee gelesen. Der Autor berichtete, wie sämtliche Dorfbewohner, mit Töpfen und Netzen bewaffnet, Moskitoschwärme jagten, um aus deren Masse Mückenburger zu braten.

Morgenstern zog das Jackett aus, reichte es Anna, schlüpfte in die Schlappen, die neben dem Tisch standen, und setzte sich auf seinen Platz. Es tat gut, hier zu sein. Dennoch fühlte er sich von so viel Fürsorglichkeit überfordert, wie des Öfteren in letzter Zeit.

»Afrikanische Pasteten? Aha, klingt fantastisch!«, bemerkte er, nahm den Ebenholzlöwen hoch, in dessen Rücken eine aufwendig gefaltete Serviette steckte, und betrachtete ihn misstrauisch. Dann stellte er ihn vorsichtig zurück. »Das schmeckt bestimmt interessant«, dachte er laut und bereute im selben Moment seine Wortwahl.

Annas Gesicht verfinsterte sich schlagartig. »Alle Zutaten sind europäisch!«, erklärte sie verärgert und verschwand mit energischen Schritten in der Küche.

Morgenstern war zu müde, um ihr zu folgen. Erschöpft von der Hitze des Tages und den düsteren Aussichten, einen Fall aufklären zu müssen, den die Presse gierig zum Stopfen des Sommerlochs ausweiden würde, goss er sich ein Glas Wasser ein. Dann betrachtete er die mit afrikanischen Motiven gestaltete Karaffe, in der Minzblätter schwammen, um den Geschmack des Wassers aufzubessern. Alles war perfekt. Zu perfekt? Er gestand sich ein, dass er den Abend auch gerne in seiner Wohnung in Prenzlauer Berg bei einem kühlen Bier und mit Nichtstun vertan hätte. Annas Hinweis auf ihr Kennenlernjubiläum hatte den Gedanken jedoch schon im Ansatz verkümmern lassen. Ihre deliziöse Einladung auszuschlagen hatte sich von selbst verboten.

Er trank einen Schluck und lauschte den temperamentvollen Aktivitäten in der Küche. Noch schien Anna sich über ihn zu ärgern. Nach seiner Einschätzung handelte es sich bei diesem Stimmungsbeben höchstens um die Stufe zwei von zehn möglichen. Erfahrungsgemäß hielten derart negative Schwingungen zwei, maximal drei Minuten an. Es war ratsam, eine Zeit lang zu warten, um Nachbeben zu vermeiden.

»Du bist übrigens in der Abendzeitung. Die Presse schreibt, dass die Leiche einer jungen Frau am Märkischen Ufer gefunden wurde. Es wird gemutmaßt, dass ein Sexualverbrechen vorliegt. Kümmerst du dich darum?« Annas Frage klang so, als würde sie ihn bitten, einen Mantel aus der Reinigung zu holen oder den Dichtungsring eines tropfenden Wasserhahns auszutauschen.

»Die Ermittlungen befinden sich ganz am Anfang. Sind alles nur Mutmaßungen. Nichts Konkretes.«

Anna kam aus der Küche, legte die Zeitung neben seinen Teller und tippte auf das Foto. »Gut siehst du aus!«, bemerkte sie und strich über seine Schultern.

Er überflog den Artikel, der reißerisch geschrieben war. Eine zweifelhafte Mischung aus Abscheu und erotischem Kalkül. Sex and Crime – das bewährte Muster, um die voyeuristischen Bedürfnisse der Leserschaft zu befriedigen. Die Redaktion hatte schnell gearbeitet. Das Foto musste von jenem Paparazzo stammen, dem Anstand fremd gewesen war. Offensichtlich war es ein Leichtes gewesen, den Namen des Besitzers der Spreeschnuppe zu ermittelt. Am Nachmittag war die Pressemeldung des LKA veröffentlicht worden. Sobald bekannt geworden war, dass es sich bei der Toten um Sina Rogatz handelte, durften in manchen Redaktionsstuben Sektkorken geknallt haben. Ein Mord in der oberen Schicht der Gesellschaft. Das Loch der Langeweile war gestopft, der journalistische Sommer gerettet.

»Ich hoffe, du überführst den Kerl!«

Morgenstern schaute Anna erstaunt an. »Wen meinst du?«

»Na, Professor Unrat! Wie heißt der gleich?«

Fassungslos schüttelte Morgenstern den Kopf. Seit sie einander kannten, hatte es sich Anna zur Gewohnheit gemacht, nicht nur am Anfang eines Kriminalromans den Mörder vorauszusagen, sondern auch regelmäßig den Täter eines Mordfalls zu prophezeien. Der Erfolg beider Prognosen betrug, statistisch betrachtet, ein Drittel, was Anna aber nicht davon abhielt, jedes Mal erneut zu spekulieren.

»Der Mann heißt Mathias Klausen. Wie kommst du darauf, dass er die Frau umgebracht hat?«

»Ist doch offensichtlich! Das klassische Rachemotiv. Seine ehemalige Studentin hat dafür gesorgt, dass ihm die Professur entzogen wurde. Die Ehe wurde geschieden. Gesellschaftlich ist Herr Professor erledigt. Der Kerl fährt mit einem Kutter durch Berlin und bespaßt Touristen. Geschieht ihm recht, diesem Schwein!«

Wütend schlug Morgenstern mit der Hand auf die Zeitung. »Anna, Professor Klausen wurde damals von allen Vorwürfen freigesprochen! Es gibt keinen Beweis für ein Fehlverhalten.«

»Natürlich, wahrscheinlich steckte der Richter mit ihm unter einer Decke!«

Morgenstern faltete die Zeitung zusammen und reichte sie energisch Anna. »Erstens war es eine Richterin. Zweitens – seit wann bildest du dir deine Meinung aus diesem Machwerk?« Er war ungehalten.

Verwundert setzte sie sich auf seinen Schoß, legte die Zeitung beiseite und wollte ihn küssen. Unwillkürlich zog er den Kopf zurück. Morgenstern und Anna schauten sich erschrocken an. Unvermittelt wichen beide dem Blick des anderen aus. Seufzend stand Anna auf und ging in die Küche. Das Geräusch des zuschlagenden Mülleimerdeckels verriet, dass sie das Machwerk entsorgt hatte. Ein paar Sekunden lang tat das Schweigen weh.

»Die Pasteten werden dir garantiert schmecken, und dann erwarte ich Abbitte, Herr Kommissar!«, erklärte sie schließlich, als wäre nichts geschehen. Stolz stellte sie ein Tablett mit duftenden, aber unbekannten krapfenförmigen Gebilden auf den Tisch, die mit einer gebackenen Kruste aus exotischen Körnern überzogen waren.

Anna liebte Körner. Er liebte Anna.

° ° °

Das Essen war eine Offenbarung. Morgenstern entschuldigte sich für die haltlosen Verdächtigungen, die er ihren Topfinhalten entgegengebracht hatte. Er berichtete von seinem Zwiegespräch mit dem Geliebtinnenbild, auf dem sie so charmant lächelte. Beide schmunzelten. Die Gereiztheit löste sich in Lust auf. Statt des obligatorischen Nachtischs ließ Anna den Kaftan über ihre Schultern gleiten und präsentierte ihre nackte Silhouette im Mondlicht. Was am Ostseestrand funktionierte, verfehlte seine Wirkung auch über den Dächern Berlins nicht. Gierig liebten sie sich auf der Dachterrasse, in jenem monströsen Strandkorb, den ein Kran in die oberste Etage gehievt hatte. Ein Geschenk ihres Vaters zu ihrem 35. Geburtstag.

Die Idee, sich im Strandkorb zu vergnügen, war Annas Einfallsreichtum entsprungen. Niemand konnte sie hier sehen, geschweige denn hören. Anschließend amüsierten sie sich, durchgeschwitzt und erschöpft, köstlich über seine moralischen Prinzipien, die ihre Jubiläumsfeier fast zum Desaster hatten werden lassen. Anna imitierte seinen strengen Gesichtsausdruck, während er ihr gespieltes Beleidigtsein mit verstellter Stimme nachahmte. Schuldbewusst gelobte Morgenstern Besserung. Er versprach, künftig erst auf den Klingelknopf zu drücken, wenn der moralisierende Bulle weggesperrt war und stattdessen das animalische Ungetüm mit den Hufen scharrte. Zur Belohnung oder zur Stärkung, so ganz klar war ihm das nicht, gab es dann doch noch den obligatorischen Nachtisch. Warmer Voodoo-Schmarren, die afrikanische Variante des Kaiserschmarrens. Es war einer jener Abende, die in Erinnerung blieben. Beide waren zu müde, um sich noch zu duschen. So wie sie waren, krochen sie ins Bett.

Kurz bevor Morgenstern einschlief, flüsterte er: »Ich liebe dich, Anna!« Sie antwortete nicht, legte stattdessen fürsorglich ihren Arm um ihn. Augenblicklich war er besorgt. Er lauschte in sich hinein und beschloss, nicht jeder Befürchtung Gehör zu schenken. Dennoch dauerte es eine kleine Ewigkeit, bis das Rattern in seinem Kopf verstummte. Morgenstern schlief tief und fest, froh, am Abend nicht in den eigenen vier Wänden versauert zu sein.

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