Verschwiegene Wasser

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»Können Sie uns sagen, was damals geschehen ist?«

Ohne den Blick von den Beamten auf seinem Schiff zu wenden, antwortete Klausen: »Abgesehen davon, dass ich mich wie ein Idiot benommen habe? Nichts! Es war ein Missverständnis. Ja, wir haben die Nacht in meinem Büro verbracht, allerdings nicht so, wie die Presse es mutmaßte. Einen intimen Kontakt gab es nicht. Sina hat ihren Rausch auf dem Sofa ausgeschlafen. Ich habe sie zugedeckt. Mehr nicht.«

Morgenstern runzelte die Stirn. Die Erklärung kam ihm wie eingeübt vor. Vielleicht lag es daran, dass Klausen sich ständig hatte verteidigen müssen. Oder er verwendete die Worte mit Bedacht, um Widersprüche in seinen Aussagen auszuschließen. »Sie hatten ein Sofa im Büro?«

»Wenn es zu spät wurde, habe ich dort geschlafen. An jenem Abend feierte die Abteilung. Uns wurden Fördermittel für die Forschung zur Verfügung gestellt. Sina hatte zu viel getrunken, und ich habe ihr in einem Anfall von Nächstenliebe meinen Schlafplatz überlassen.«

»Wo haben Sie die Nacht verbracht?«

»Auf dem Bürostuhl.« Klausen hob die Hände, um einem Kommentar vorzubeugen. »Unglaubwürdig, ich weiß! Sina behauptete ein halbes Jahr später etwas anderes.« Er starrte verbissen zur Mühlendammschleuse, vor der sich ein paar Ausflugsdampfer stauten. Dann ergänzte er verbittert: »Für die Presse war die Beschuldigung ein Seite-Eins-Thema. Renommierter Professor als Sexmonster enttarnt. Opfer läuft nackt, nur eingehüllt in ein beflecktes Laken, durch die Universität. Für die Schreiberlinge des Boulevards waren die Fotos von Sinas späterer Aktion ein ausreichender Beweis, um ihre Behauptung, missbraucht worden zu sein, als glaubhaft einzustufen.«

Morgenstern erinnerte sich an den Fall. Die junge Frau war Monate später mit dem Vorwurf, vergewaltigt worden zu sein, an die Öffentlichkeit getreten. Ihre Geschichte hatte eine Welle von Solidarität und in den Medien eine emotional geführte Diskussion, die fast schon hysterische Züge trug, ausgelöst. Fotos, die angeblich eine geschändete Frau zeigten, notdürftig mit einem Laken bedeckt, sorgten für empathische Entrüstung. Nach einiger Zeit wurden alle Vorwürfe fallengelassen. Vorher hatte eine Gruppe von Feministinnen das Laken wie die Fahne eines gestürzten Diktators unter grölendem Beifall vor der Universität verbrannt. Das einzige Beweismittel mutierte durch diese Protestaktion zu einem Heiligenrelikt. Schon damals hatte Morgenstern ein ungutes Gefühl gehabt. Wenn die Wahrheit zu einer Glaubensfrage wird, bedarf es keines Richters mehr.

»Ich mache mir nichts vor«, sagte Klausen resigniert. »Sobald die Presse Wind vom Tod Sina Rogatz’ bekommt, stehe ich erneut im Fokus.«

Morgenstern konnte dem nicht widersprechen. Besorgt fragte er sich, was da aus den Tiefen der Spree ans Licht gekommen war.

° ° °

Rudolf Peisker, stellvertretender Vorstandsvorsitzender der Peisker Pharma AG, reagierte nicht auf das freundliche »Guten Morgen«, das ihm Luise mit einem Lächeln entgegenhauchte. Ohne die kaffeekochende Schönheit zu beachten, durchquerte er das Büro.

»Ihr Bruder konferiert gerade!«

Trotz dieser Mahnung riss er wütend die mit Leder gepolsterte Tür auf, die zum Allerheiligsten des Pharmaunternehmens führte, und marschierte in das Büro des Vorstandsvorsitzenden Alfred Peisker.

»Momentan können Sie …« Die Sekretärin beendete ihren Satz nicht. Sie sprang auf und tippelte empört hinter dem Choleriker her, einerseits um pflichtgemäß zu protestieren und anderseits um den Grund von Rudolfs Wut zu erfahren.

Von allen Vorstandsmitgliedern war Rudolf Peisker das unangenehmste. Ein Frauenheld und Despot, zynisch in allem, was er sagte, und gnadenlos, wenn es um eigene Interessen ging. Ein kräftiger, voluminöser, etwas zu klein geratener Mittfünfziger, dessen gewaltiger Stiernacken angsteinflößend war. Aus Zeitungsberichten wusste Luise, dass er an der Goethe-Universität in Frankfurt am Main widerwillig Wirtschaftswissenschaft studiert hatte und seine Freizeit mit Ringen verbrachte. Ein vielversprechendes Talent, dem ein Platz in der Nationalmannschaft zugetraut worden war. Angeblich ließ eine Verletzung den Traum platzen. Hinter vorgehaltener Hand hieß es jedoch, Deutschlands Ringerhoffnung sei bei der Einnahme von Anabolika ertappt worden. Um einen Skandal zu vermeiden, hatte der Sportverband ihm ans Herz gelegt, die Karriere an den Nagel zu hängen.

Luise ahnte, Bedeutendes musste schiefgelaufen sein, wenn der Direktor fürs Grobe, wie Rudolfs Funktion im Unternehmen gern umschrieben wurde, derart kochte.

Alfred Peisker unterbrach die Ausführungen eines jungen Asiaten, der gerade vor der Gruppe stand und Zahlen einer Grafik erläuterte, und wandte sich seinem Bruder zu. »Kann ich behilflich sein?«

»Serotin!«, antwortete Rudolf Peisker, griff sich den freien Stuhl des Chinesen und ließ sich darauf nieder.

Das Gesicht des jüngeren Bruders verdüsterte sich. Er brauchte eine Weile, bis er reagierte. »Meine Herren, entschuldigen Sie uns bitte! Familienangelegenheiten. Manche Dinge erlauben keinen Aufschub. Luise, gehen Sie mit unseren Gästen in den Salon. Ich komme so bald wie möglich nach.«

Die vier Vertreter des chinesischen Unternehmens standen höflich lächelnd auf, verneigten sich, nahmen ihre Unterlagen und folgten Luise. Keiner der Herren ließ sich anmerken, dass er den Ernst der Situation verstanden hatte. Dennoch wusste der Vorstandsvorsitzende der Peisker Pharma AG, dass die Unterbrechung der Konferenz die Verhandlungen gefährdete. Sobald die Tür geschlossen war, platzte es aus ihm heraus: »Hast du sie noch alle? Es hat ein Vermögen gekostet, das Vertrauen der Chinesen zu gewinnen. Wir stehen kurz davor, uns mit dem asiatischen Markt zu arrangieren, und du platzt hier rein, als stünde eine Katastrophe bevor!«

Rudolf Peisker zog eine Kaffeekanne, die vor ihm auf dem Tisch stand, zu sich. Er schüttelte sie leicht und flüsterte bedrohlich: »Nah dran, Alfred! Wirklich nah dran!« Etwas ratlos suchte er nach einer unbenutzten Tasse. Als er keine fand, beschloss er, den Inhalt der vor ihm stehenden in eine andere zu gießen. Bedächtig füllte er sie anschließend halb voll mit frischem Kaffee. Bevor er an ihr nippte, ergänzte er süffisant: »Serotin hat Nebenwirkungen. Das Labor in Hanoi meldet, ein Proband sei in der letzten Nacht in eine Klinik eingeliefert worden. Die Testperson ist kollabiert. Womöglich hirntot. Fünf weitere Probanden liegen auf der Intensivstation.«

Alfred Peisker starrte seinen Bruder entsetzt an und richtete den Blick verzweifelt auf die Statistiken, die der Beamer an die Wand warf. »Das hat mit uns nur marginal zu tun«, entschied er dann, nahm die Fernbedienung und schaltete das Gerät aus.

»Wir haben Vietnam-Medical beauftragt, das Zeug zu testen! Wir haben das Patent darauf.«

»Rudolf, beruhige dich! Es gibt Gründe, warum wir externe Labors beauftragen. Risikominimierung. Verantwortung delegieren. Einhundert Prozent rechtliche Unantastbarkeit. Bisher gab es keine Probleme mit dem Wirkstoff, oder?«

Sein Bruder runzelte die Stirn. »Keine, die wir nicht unter dem Stichwort ›übliche Nebenwirkungen‹ listen könnten. Eine, gelinde gesagt, großzügige Interpretation.«

Schweigen erfüllte das geräumige Büro im obersten Stockwerk der Firmenzentrale mit dem traumhaften Blick auf die Gedächtniskirche.

Alfred Peisker stand auf und trat an die Fensterfront. Konzentriert beobachtete er den Platz vor der Kirche, auf dem Händler, Touristen und Taschendiebe ihr Tagwerk begannen. »Die Verantwortung liegt bei Vietnam-Medical«, entschied er und setzte sich wieder auf den Chefsessel. »Die Verträge sind wasserdicht. Niemand wird uns verklagen. Du machst dir unnötig Sorgen. Wir sind nicht für Fehler Externer verantwortlich.«

Erstaunt lehnte sich Rudolf Peisker zurück. Er ließ seinen Kopf kreisen, was an jene Zeit erinnerte, da er vor sportlichen Wettkämpfen zum Aufwärmen Übungen absolviert hatte. Konkurrenten zum Aufgeben zu zwingen, wenn er sie in eine aussichtslose Lage manövriert hatte, gehörte noch heute zu seinen bevorzugten Übungen. Langsam beugte er seinen gewaltigen Oberkörper über den Tisch, als gedachte er, jeden Moment einen Würgegriff anzuwenden. »Bist du so naiv? Hier geht’s nicht um Schmerzensgeld oder Abfindungen. Zur Erinnerung, du hast in einem Interview mit Financial Times erklärt, der Wirkstoff Serotin sei das Gottesteilchen der Pharmazie. Was glaubst du, wer du bist? Der Einstein der Pillendreher? Wenn wir nicht sofort handeln, wird jeder halbwegs begabte Journalist den Artikel ausgraben. Die Presse wird an deine großmundige Ankündigung erinnern. Von wegen, die Peisker Pharma stehe vor einem gigantischen Durchbruch in der Familienplanung! Die Höhe der Abfindungen machen mir keine Sorgen. Dass jemand bei den Tests zu Tode kam? Kann passieren! Aber sobald publik wird, dass wir ohne offizielle Genehmigung Medikamententests veranlasst haben, werden die Behörden uns auf die Finger schauen. Sie werden Fragen stellen, Unterlagen prüfen, das ganze Prozedere beleuchten. Du weißt, woher die Forschungsergebnisse stammen. Sollte ein Zusammenhang aufgedeckt werden, dürfte unsere Aktie ins Bodenlose fallen, und wir werden wieder zum günstigen Übernahmekandidaten. Serotin ist unsere letzte Chance! Das macht mir wirklich Sorgen.«

Alfred Peisker begann, die Tragweite des Ganzen zu begreifen. Er war blass geworden und brauchte einen Moment, bevor er die richtige Frage stellte. »Was können wir tun?«

»Jemanden beauftragen, der vor Ort die Probleme löst, eventuelle Fragen in die gewünschte Richtung lenkt, Geld in hungrige Mäuler stopft, eine Person, die überzeugend ist.«

»An wen hast du gedacht?«

»Doktor Solvig Bormann.«

 

»Ist nicht dein Ernst?«

»Die Bormann ist geil darauf, Karriere zu machen. Ein Master mit Auszeichnung in Vertragsrecht. Zweitstudium Biochemie. Ihren Doktor hat sie auf dem Gebiet des Patentrechts für den biotechnologischen Bereich erworben. Die feilt sich die Zähne, wenn es sein muss. Wir schicken sie nach Hanoi und stellen ihr einen Vorstandsposten in Aussicht. Ganz nebenbei ist das auch noch gut für die beschissene Gleichstellungsquote.«

»Ist sie nicht ein bisschen jung?«

»Wir brauchen jemanden, der unverbraucht, sympathisch und glaubwürdig rüberkommt. Das nimmt man ihr ab. Wichtiger noch, sie ist knallhart. Das kann ich aus eigener Erfahrung bestätigen.«

»Solvig Bormann?«

Rudolf zeigte seine strahlend weißen Zähne.

Sein kleiner Bruder wusste, was das bedeutete. »Hast du sie gebumst?«

Der ehemalige Ringer lachte laut, als hätte er einen guten Witz gehört. »Das war mir nicht vergönnt. Nur ein paar Fotos mit meinem Smartphone, beim täglichen Rapport, unterm Schreibtisch. Kurzer Rock, jeden Tag ein anderer Slip. Manchmal gar keiner. Hat sie dummerweise bemerkt.«

»Rudolf, du bist ein Schwein. Sexuelle Belästigung – genau das brauchen wir jetzt noch!«

Erneut gab Rudolf Peisker ein beherztes Lachen von sich, das Stolz und Verachtung zugleich ausdrückte. »Brüderchen, das läuft unter Konzeptkunst. Wie gesagt, die Süße kann knallhart verhandeln.«

Alfred Peisker dachte nach. Sicherlich, es würde sie einiges kosten. Die Vietnamesen würden sich ihr Schweigen teuer bezahlen lassen. Aber wenn alle vernünftig waren, ließ sich das Ärgernis noch unter den Teppich kehren. Rudolfs Idee klang gut. Solvig Bormann verfügte über die fachliche Kompetenz, war, was Rechtsfragen anging, gut aufgestellt. Und offensichtlich verstand sie etwas davon, heikle Situationen vorteilhaft auszunutzen und nicht gleich in Panik zu verfallen. »Kläre du das! Nichts Offizielles. Du und ich treten nicht in Erscheinung. Ich muss mich um unseren Partner in Asien kümmern. Die Schlitzaugen sind ziemlich clever.«

° ° °

Nach einer ersten Beratung im LKA und der Verteilung der Aufgaben verschwand Kriminalhauptkommissar Hans Morgenstern in seinem Büro. Er setzte sich auf seinen Stuhl und sinnierte über die wenigen Erkenntnisse, die sie bisher erlangt hatten.

Gegen jede Gewohnheit hatte auch der Leiter des LKA 1, Max Herting, an der Beratung teilgenommen. Seit Tagen geisterte das Gerücht durch die Gänge, dass der Chef der Berliner Mordkommissionen seinen Eintritt in den Ruhestand verschieben wolle. Selbst Atheisten neigten unter diesen Umständen unweigerlich dazu, himmlischen Beistand zu erbitten. Vergeblich! Tatsächlich verkündete Herting stolz, dass er sich bereit erklärt habe, weitere zwei Jahre die Geschicke der Abteilung zu führen. Hoch motiviert drohte er, die an dem Fall arbeitenden Beamten mit seiner jahrelangen Erfahrung zu unterstützen. Bei einigen führte diese Ankündigung fast schon zu Panikattacken.

Alle waren sich darüber einig, dass es keinen Grund gab, Mathias Klausen vorläufig festzunehmen. Vorerst galt der Kapitän der Spreeschnuppe nicht als tatverdächtig. Offiziell wies ihm die Akte den Status eines Zeugen zu. Dem ehemaligen Professor eine Fluchtabsicht zu unterstellen wäre nach dem aktuellen Stand der Ermittlungen absurd.

Dennoch machte sich Morgenstern Sorgen, die er weder beschreiben noch mit Argumenten stützen konnte. Seine Berufserfahrung oder eine unbestimmte Ahnung, die sich aus den ungewöhnlichen Begleitumständen des Falls nährte, war der Grund dafür. Sina Rogatz war nicht irgendein Opfer. Ihr Vater Walter Rogatz war eine schillernde Persönlichkeit, deren Investmentunternehmen weltweit Niederlassungen besaß – Berlin, New York, London, Barcelona, Istanbul, Neu-Delhi und Kapstadt waren die wichtigsten. Seine Holding war an diversen Unternehmen beteiligt und investierte beträchtliche Summen in lukrative Immobilien.

Dass die Leiche seiner Adoptivtochter unter dem Ausflugsdampfer jenes geschassten Professors gefunden worden war, der Jahre vorher in Verdacht geraten war, sich an ihr vergangen zu haben, schien bedenklich. Die Tote sollte gefunden werden, und selbstverständlich sollte die Kriminalpolizei über diesen Zusammenhang stolpern. Das war offensichtlich, fand Morgenstern. Mit den Jahren hatte er zwei Dinge verinnerlicht. Erstens: An Zufälle konnte man glauben, nur taugten sie in der Realität nicht als Antwort. Zweitens: Alles hing mit allem zusammen, wie bei einem Schachspiel. Alle Figuren verhielten sich auf dem Spielfeld wie Magneten, zogen einander an oder stießen einander ab. Ein neuer Zug konnte schlagartig dazu führen, dass sich die gesamte Konstellation veränderte.

Schon zu diesem Zeitpunkt hatte Morgenstern das Gefühl, dass jemand versuchte, die Ermittlungen zu manipulieren. Männliche Intuition nannte er das mit einem Schmunzeln und brachte damit regelmäßig Anna Balin, seine Lebensgefährtin, zum Lachen.

Ein gerahmtes Bild, das er zu Weihnachten geschenkt bekommen hatte und das auf seinem Schreibtisch stand, riss Morgenstern aus seinen Gedanken. Als ein »Geliebtinnenbild« bezeichnete es Anna. Sie war der Überzeugung, dass es ein Gesetz oder eine Verordnung gab, die Polizisten verpflichtete, das Foto ihrer Herzallerliebsten am Arbeitsplatz angemessen zu platzieren. Ein unverzichtbarer Glücksbringer zur Stärkung des seelischen Gleichgewichts. Und selbst wenn es keine amtliche Bestimmung gab, täte Morgenstern ihr Bild garantiert gut.

Nachdenklich nahm Morgenstern das Porträt in die Hand und strich mit dem Daumen liebvoll über das abgebildete Gesicht. Heute war ihr zweieinhalbjähriges Kennenlernjubiläum. Dass er sich mit seinen vierzig Jahren erneut verliebt hatte, hielt er für ein kleines Wunder. Anna bestand darauf, das Jubiläum angemessen zu feiern. Beide konnten auf eine gescheiterte Ehe zurückblicken und gingen behutsam mit dem neuen Glück um. Noch immer knisterte es zwischen ihnen, auch wenn Routine in ihren Umgang Einzug gehalten hatte. Nichts, was Morgenstern Sorgen bereitete – dennoch, er war auf der Hut. Beziehungen verbrauchten sich, wenn man sie nicht pflegte, hatte ihn das Scheitern seiner Ehe gelehrt.

Anna hatte für den Abend eine kulinarische Überraschung angekündigt, ohne auch nur ein winziges Detail zu verraten. Nachfragen brachte nichts, stattdessen hatte sie an jene männliche Intuition appelliert, die ihm verraten sollte, was sie in ihren Töpfen an Leckerem zubereiten würde.

Seit ihrem ersten gemeinsamen Urlaub an der Ostsee zog sie ihn mit diesem Thema auf. Nach ein paar Plastikbechern Wein am Strand hatte er damals von der maskulinen Form der Eingebung gesprochen. Während beide verliebt den Sonnenuntergang beobachtet hatten, behauptete er: »Meine männliche Intuition sagt mir, dass jetzt der richtige Zeitpunkt ist, archaische Veranlagungen in körperliche Aktivitäten umzusetzen. Ich finde, wir sollten das Bett der Ferienwohnung durchwühlen.«

Die umständliche Umschreibung seiner Begierden löste bei Anna einen Lachanfall aus. Schließlich erklärte sie mit ernster Stimme: »Männliche Intuition gibt es nicht!«

»Was macht dich da so sicher?«, erkundigte er sich und tat beleidigt.

»Du magst archaische Bedürfnisse haben, aber diesen Druck, den du verspürst …«, sagte sie und kicherte dabei albern, »… also der Druck, Genmaterial weiterzugeben, hängt ausschließlich mit frühzeitlichen männlichen Urängsten zusammen.«

»Wie bitte?«, erwiderte er mit gespieltem Unverständnis, legte schmollend den Kopf auf ihren Schoß und schaute sie vorwurfsvoll an. »Ich hasse es, als Mann nur auf das eine reduziert zu werden. Männer haben auch Gefühle!«

»Selbstverständlich! Hunger und Durst«, entgegnete sie und strich liebevoll mit den Fingern durch sein graumeliertes Haar.

»Du verkennst Männer im Allgemeinen und mich im Besonderen. Y-Chromosom-Träger sind komplexe Lebensformen!«

»Chaotische Zellkonglomerate und erschreckend simpel strukturiert«, konterte Anna. »Männer haben leicht verständliche Bedienungsanleitungen. Frau muss sie nicht erst studieren, um zu wissen, welche Knöpfe gedrückt werden müssen, um ein Ziel zu erreichen. Seit Urzeiten hat sich daran nichts geändert. Essen, Trinken, Gene weitergeben.«

Protestierend hob er den Finger. »So siehst du mich?«

Statt eine Antwort zu geben, küsste sie ihn.

»Ich möchte an meine Ahnen erinnern, die vor 32 000 Jahren in der Chauvet-Höhle in Frankreich lebten. Ich stamme aus einer Linie feingeistiger Urväter, wie noch heute an den beeindruckenden Wandmalereien zu erkennen ist.«

Kopfschüttelnd formte Anna seine Haare zu einem Hahnenkamm, wie zuweilen Punks ihn tragen, und gab zu bedenken: »Woher willst du wissen, dass Männer die Bilder gezeichnet haben?«

Er blieb die Antwort schuldig. Schlimmer noch, er musste sich in Gedanken eingestehen, dass er eine andere Möglichkeit nicht in Erwägung gezogen hatte.

»Wenn der Mann ständig durch den Wald rennt, um Mammuts zu jagen, entwickeln sich zwangsläufig Ängste. Hinter jedem Baum lauert die Gefahr, gefressen zu werden. Der Weg in die heimische Höhle wird aus unerklärlichen Gründen nicht mehr gefunden. Altersbedingt lassen einen die Mammutjägerkollegen als überdrüssige Last zurück. Zweifelsfrei hat das über Tausende von Jahren zu einem evolutionären Trauma geführt. Mit Intuition, gar männlicher, hat das nichts zu tun. Wenn deine Altvorderen nach Wochen nach Hause kamen, verspürten sie garantiert nicht das Bedürfnis, Wände zu bemalen.«

»Du bist gemein!«, hatte er schmollend geantwortet und behauptet, dass er bei derart negativen Äußerungen eine gewisse Verkümmerung verspüren würde.

Morgenstern stellte Annas Bild schmunzelnd zurück auf seinen Schreibtisch und nahm sich vor, ihr abends zu sagen, wie sehr er sie liebte.

Tatsächlich hatten sie es danach am Strand getrieben, wie Anna es zu nennen pflegte. Er hatte Bedenken geäußert und auf seine Position als Kriminalhauptkommissar hingewiesen. Erfolglos. Anna beherrschte seine Bedienungsanleitung perfekt.

Nein, Morgenstern machte sich im Moment Sorgen, weil eine innere Stimme ihm riet, den Tod der jungen Frau aus der Spree mit gebührender Vorsicht zu behandeln. Biondis Informationen über den Investor Walter Rogatz und die Vorliebe seiner Rechtsanwälte, unliebsame Zeitgenossen mit einem Stakkato von Klagen mundtot zu machen, waren legendär.

Verkompliziert wurde die Angelegenheit dadurch, dass Herting darauf bestand, die schreckliche Nachricht vom Tod der Tochter persönlich zu überbringen. »Das schulde ich einem alten Freund«, hatte er mit pathetischer Stimme in der Dienstberatung verkündet und, ohne zu überlegen, behauptet: »Walter würde das Gleiche für mich tun!«

Morgensterns Gesicht musste wie ein offenes Buch zu lesen gewesen sein. Angesichts seiner unverholenen Ungläubigkeit hatte sein Chef verärgert gemeint, dass ein wichtiger Termin seine Anwesenheit fordere. Anschließend hatte er die Beratung missmutig und mit erhobenem Zeigefinger verlassen. »Ich bin durchaus in der Lage, persönliche Empfindungen und kriminalistische Anforderungen unter einen Hut zu bringen.«

Keiner hatte Hertings Predigt kommentiert.

Jeder von Morgensterns Kollegen wusste, auf welches Puzzleteil er sich bei dem Mordfall Sina Rogatz zu konzentrieren hatte. Nur die Vorstellung, Herting weitere zwei Jahre als Chef zu ertragen, sorgte für spürbare Resignation.

Morgensterns spätere Nachfrage, wie Walter Rogatz auf den Tod seiner Adoptivtochter reagiert habe, beantwortete Herting knapp mit den Worten: »Wie erwartet – beherrscht.«

° ° °

Linda Mörike versuchte zwar, ihren Status als Zugezogene zu kaschieren, aber da die Kriminalkommissarin ständig Formulierungen verwendete, die keinem Berliner über die Lippen kamen, verriet sie sich regelmäßig. Fragte ein Kollege danach, wann ihr Dienst begann, lautete ihre Antwort »Viertel vor neun« und nicht, wie in Berlin üblich, »Drei viertel neun«. Sie sagte »an Weihnachten« und nicht »zu Weihnachten«. Beim Bäcker verlangte sie Schrippen erst nach kurzem Zögern, als suche sie die passende Vokabel. Versuche, die Berliner Mundart zu verinnerlichen, scheiterten kläglich. Mit der verabreichten Muttermilch war ihr auch der rheinische Dialekt eigen geworden. Wenn es überhaupt jemanden gegeben hatte, der angenommen hatte, Linda habe Berliner Wurzeln, war er spätestens eines Besseren belehrt worden, als sie zum Nachmittagskaffee eine Spezialität kredenzt hatte, die es wahrscheinlich nur in ihrem Heimatort Niederkrüchten gab: Vollkornbrot dick mit Butter bestrichen und mit Spekulatius belegt. Zu ihrem einjährigen Jubiläum bei der Mordkommission brachte sie eine Platte mit den beliebten Leckerbissen mit. Hans Morgenstern verspürte augenblicklich das Gefühl spitzer Zähne. Paul Brenecke umschrieb die eigenwillige Komposition mit »Geschmacksfasching«. Max Herting, der einen Riecher zu haben schien, wann es in seinem Verantwortungsbereich Kulinarisches umsonst gab, nannte die Zusammenstellung »interessant«. Morgenstern probierte aus Höflichkeit und murmelte etwas von »Gewürznelkenallergie«. Einzig Bruno Biondi hatte die Komposition »spannend« gefunden und beherzt zugegriffen.

 

Niemand von ihnen wusste, wie es Linda Mörike gelungen war, ohne berufliche Erfahrung und direkt nach dem Studium einen Posten in der Mordkommission zu erhalten. Fragen beantwortete sie lapidar mit dem Hinweis »Glück gehabt!«. Dass dieses Glück dem männlichen Bedürfnis des amtierenden Polizeipräsidenten zu verdanken war, den sie bei der Verbesserung seiner Lebensqualität mit der Pressesprecherin des LKA erwischt hatte, behielt sie für sich. Auch über den wahren Grund, warum sie unbedingt in der Abteilung Mord arbeiten wollte, schwieg sie. Einer ihrer Kollegen war jener Mann, der sie mit Gewalt gezeugt hatte. Sie hatte sich geschworen, ihn zu finden.

Als Linda am Nachmittag Morgensterns Büro betrat, um ihm die Tatortfotos vom Märkischen Ufer zu bringen, stellte sie ihm eine Tasse Kaffee auf den Schreibtisch, nahm seine Aktentasche vom einzigen Stuhl und setzte sich. Die Selbstverständlichkeit, mit der sie dies zu tun pflegte, hatte Morgenstern anfänglich irritiert. Dennoch sah er keinen Anlass, die Vertrautheit zu unterbinden. Das heiße Gebräu kam stets zum richtigen Zeitpunkt, und sein Duft ließ ihn schwach werden. Menschen mit dem Hang zum Genießen besaßen keinen Standesdünkel. Die anfänglichen Differenzen zwischen dem Hauptkommissar und der Kommissarin hatten sich verflüchtigt. Linda gehörte zu Morgensterns Team, und er war froh darüber.

Anna hatte ihn als bestechlich verurteilt, als er von Lindas Kaffeekünsten und der Selbstverständlichkeit, mit der sie ihn regelmäßig überfiel, berichtet hatte. Ihre Begründung: Es bedurfte lediglich eines meisterhaft zubereiteten Genussmittels, um ihn all seine hehren Grundsätze vergessen zu lassen.

Neugierig schaute Morgenstern die Tatortfotos durch. Sie waren tadellos, auf das Wesentliche fokussiert, sie bewahrten Distanz. Zwar zeigten sie das Schreckliche in allen Facetten, aber Hannes Gärtner schien über einen emotionalen Filter zu verfügen, der eine Tragödie in etwas Sachliches verwandelte. Ihm gelang es, einen verwesten Körper wie ein Biotop erscheinen zu lassen. Ein zerschmettertes Gesicht sah auf seinen Bildern wie das Ergebnis einer Laborprobe aus, an der die mechanische Einwirkung eines schweren Gegenstands überprüft worden war. Schusswunden wirkten wie die Krater ferner Gestirne, die eine hochgerüstete Sonde detailliert aufgenommen hatte. Niemand beherrschte das Spiel mit Licht und Fokus so perfekt wie Gärtner. Es gab Kollegen, die derartige Abzüge als kalt bezeichneten. Linda war spontan der Begriff »entmenschlicht« eingefallen. »Den Aufnahmen fehlt jegliche Nähe«, hatte sie noch hinzugefügt.

Morgenstern verspürte Dankbarkeit dafür, dass ihn Gärtners Fotos nicht in seinen Träumen verfolgten.

Eines der Bilder, die nun auf seinem Tisch lagen, zeigte eine Tätowierung. Sie befand sich unterhalb der rechten Schulter der Toten. Gärtner hatte sie mit einem Textmarker eingekreist. Eine Vergrößerung des Ausschnitts zeigte ein stilisiertes Chamäleon.

»Hatte das Opfer noch andere Tätowierungen?«

»Nein, es ist die einzige. Ein eher selten gewähltes Motiv«, antwortete Linda und nippte an ihrem Kaffee. Dann ergänzte sie: »Erfahrungsgemäß wird ein Tattoo bewusst ausgewählt, und meist symbolisiert es eine Überzeugung. Das Chamäleon steht womöglich für Wandelbarkeit.«

»Möglicherweise hat Sina ja nur eine Wette verloren. Oder sie mag diese Viecher.«

»Glaube ich nicht. Vielleicht, wenn es ein Häschen wäre. Von mir aus auch ein Schmetterling. Aber ein Chamäleon? Zu speziell!«

Nachdenklich betrachtete Morgenstern die Vergrößerung. »Was meinst du mit Wandelbarkeit?«, erkundigte er sich und sinnierte gleichzeitig darüber, welche Gründe es geben mochte, dass Menschen sich Endgültiges in die Haut tätowieren ließen.

»Die Wissenschaft bezeichnet das Verhalten dieser Tiere als Mimese, gemeint ist die Fähigkeit, sich der Umgebung in Gestalt, Farbe und Haltung anzupassen. Eine Variante ist die Thanatose, die sogenannte Schreckstarre, eine Strategie, die vor einer potenziellen Bedrohung schützen soll.«

Morgenstern betrachtete das Tattoo erneut. Es war meisterhaft gestochen. Es musste von jemandem gesetzt worden sein, der sein Handwerk verstand. »Wäre interessant herauszufinden, warum sich Sina ausgerechnet für dieses Motiv entschieden hat. Vielleicht kannst du das Studio ausfindig machen. Thana … Wie hieß das doch gleich?«

»Thanatose. Benannt nach Thanatos, einem griechischen Totengott. Glaubt man den Überlieferungen, lebt der an einem Ort, wo Nacht und Tag einander begegnen. Angeblich wohnt dort auch der Schlaf.«

Morgenstern ließ sich das Gesagte durch den Kopf gehen. Lindas Überlegungen waren interessant. Er würde dem nachgehen, wie jedem Anhaltspunkt, der zur Klärung des Falls verhalf. Besser gesagt, sie würde dem nachgehen.

Bevor Linda das Büro verließ, betrachtete sie Morgenstern zum wiederholten Male eingehend. Sie scannte jeden Mann im LKA nach verräterischen Gesichtszügen. Ihr Chef hatte den Kopf gedreht und studierte die Daten auf einem Wandkalender. Sein Profil wirkte männlich – markante Züge und ein kräftiges Kinn. Morgenstern war zu jung, um ihr Vater zu sein. Bevor Linda die Bürotür schloss, fragte sie sich, ob sie sich ihm anvertrauen könne. Würde er ihr helfen, ihren Erzeuger zu finden?

Seit einem Jahr lebte Linda in Berlin. Nach anfänglichen Querelen hatte sie ihren Platz in der Mordkommission gefunden. Dass die meisten Kollegen sie für eine Karrieristin hielten, lag auch daran, dass sie neben ihrer Arbeit für eine Dissertation forschte. Entwicklung der psychosozialen und juristischen Prozessbegleitung in der BRD im Hinblick auf Vergewaltigungsopfer. Die Doktorarbeit diente einzig und allein dazu, unauffällig im Archiv arbeiten zu können. Neugierige Fragen blieben ihr erspart. So erkundigte sich keiner, warum sie in alten Akten recherchierte und sich für Fälle interessierte, die alle aus dem Jahr 1986 stammten, ihrem Geburtsjahr.

Inzwischen hatte Linda eine Liste aller Mitarbeiter des LKA erstellt, die damals tätig gewesen waren und aufgrund ihres Alters als ihr Erzeuger infrage kamen. Jüngere oder erheblich ältere Kollegen schloss sie aus. Ihre Mutter war damals 29 gewesen. Einige von den Männern auf Lindas Liste arbeiteten im Landeskriminalamt, andere waren die Karriereleiter hinaufgeklettert, wenige hatten, aus welchen Gründen auch immer, den Dienst quittiert. Schließlich war die Gruppe der Verdächtigen auf zwölf Personen geschrumpft. Mit einigen von ihnen arbeitete sie zusammen.

° ° °

Da sich Max Herting freiwillig verpflichtet hatte, die Familie Rogatz zu informieren, beschloss Hans Morgenstern, den Nachmittag damit zu verbringen, die Wohnung der Toten zu besichtigen. Dank Klausens Identifizierung konnte Morgenstern problemlos Sina Rogatz’ Wohnanschrift ermitteln. Sie hatte in einer Wohngemeinschaft in Moabit gelebt.

Wie befürchtet, befand sich die Wohnung im obersten Stock, und natürlich besaß das Haus keinen Fahrstuhl. Morgenstern klingelte, und statt der Frage, wer Einlass begehre, vernahm er nur die verrauschte Stimme einer Frau. »Vierte Etage!«