Geschwisterliebe

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«Du berlinerst doch sonst nicht so», stellte Gertrud erstaunt fest und deutete bittend auf die Speisekarte. «Seitdem Galgenberg sich verstärkt um die Bewahrung des Berlinerischen verdient macht, färbt das wohl auch auf dich ab.»

Otto zuckte mit den Schultern, reichte seiner Frau die Karte und überlegte, ob er zur Schwarzwälder Kirschtorte eine Extraportion Schlagsahne nehmen oder doch lieber auf die Vernunft hören sollte. Der Griff an den Bauch ließ die innere Waage zugunsten der Warnung ausschlagen, der Blick zum Nachbartisch die Bedenken ob der kalorienreichen Verführung indes als überzogen abtun.

Von der Terrasse aus konnten sie genüsslich die vorbeischlendernden Passanten beobachten. Herausgeputzte Damen. Keck, nach Art der Hippie-Mode gekleidete junge Mädchen, bauchfrei und mit Sandaletten, die nur aus Lederschnüren zu bestehen schienen. Halbstarke mit hochtoupierten Haaren und bunten Hemden, die den Mädchen hinterherschauten. Touristen aus fernen Ländern. Und Geschäftsleute, denen nicht aufzufallen schien, dass Wochenende war. Auf dem Kudamm feierte West-Berlin seine Unbekümmertheit. Nichtstun, Kaffeetrinken, Kuchenessen und zwischen Bewundern und Wundern hin- und herschwanken. So sah nach Gertruds Meinung ein perfekter Sonnabendnachmittag aus.

«Gibt es etwas Neues im Fall der Toten von Nikolskoe?», erkundigte sie sich.

Otto, der mit seiner Kuchengabel die Reste der Schlagsahne zusammenkratzte, wusste sofort, dass Gertrud mit ihrer Frage soeben den schönen Nachmittag verdorben hatte. Augenblicklich waren wieder all die Probleme und Ungereimtheiten präsent, wegen denen er sich den Kopf zermarterte. Schlimmer noch, Gertrud durchschaute ihn. Als wäre ihm schlagartig der Appetit vergangen, schob er den Teller zur Seite, wischte sich mit der Serviette den Mund ab, legte sie auf den Teller und beschwerte sie anschließend mit der Gabel, damit der Wind sie nicht wegwehte. Wie ein Schüler, der beim Abschreiben erwischt worden war, schaute er über den Tisch. Woher wusste Gertrud, dass er erneut diesem Fall nachging?

Sie schien seine Gedanken lesen zu können. «Unser Sohn Peter hat Hans-Gert gestern vor der Stadtbibliothek getroffen. Dein Kollege wollte dort in alten Zeitungen stöbern. Es gebe neue Entwicklungen im Fall Nikolskoe. Offensichtlich ein Auftrag von dir. Erst habe ich geglaubt, Peterchen hat sich verhört. Ich habe das für ein Missverständnis gehalten. Aber nachdem du heute freiwillig vorgeschlagen hast, mit mir zum Schaufensterbummel auf dem Kudamm zu flanieren, und sogar bereit warst, im Kranzler einzukehren, weiß ich, er hat sich nicht verhört.»

«Peter ist in Berlin?», fragte Otto erstaunt.

«Ja, er hat ein paar Tage frei und erkundigt sich nach Möglichkeiten sich weiterzuqualifizieren.»

«Er will noch mal studieren? Wieder an der FU?»

Gertrud zögerte einen Moment, bevor sie antwortete: «Nein, nicht, was du denkst. Er will sich beruflich weiterentwickeln. Genaues weiß ich auch nicht. Aber du versuchst nur abzulenken. Wir sprachen über den Fall Nikolskoe. Wann gedachtest du denn, mir die Neuigkeit mitzuteilen?» Sie betrachtete kurz sein kummervolles Gesicht und starrte dann in die Ferne. «Otto, erspare mir diesen Dackelblick!»

Sie war ernsthaft verärgert. Zu Recht, wie Otto sich eingestand. Natürlich hätte er sie darüber informiert, dass er wieder an dem Fall Nikolskoe arbeitete, aber erst in der kommenden Woche. Möglicherweise wären die neuen Ermittlungen schon in ein paar Tagen abgeschlossen.

Der Mordfall Nikolskoe hatte ihre Beziehung erschüttert. Während dieser Zeit war er sehr dünnhäutig gewesen, schnell gereizt und genervt von den Anforderungen des Alltags sowie den Erwartungen seiner Frau. Er hatte es sie nicht nur spüren lassen, sondern es ihr auch in einem Augenblick der Wut gesagt.

Sie hatte ihn damals zum Mittagessen gerufen, und nachdem er bei der dritten Aufforderung immer noch nicht reagieren wollte, hatte sie erbost gefragt: «Übertreibst du nicht ein bisschen? Ich nehme meine Arbeit ja auch nicht mit nach Hause.»

Ohne zu überlegen, hatte er ungehalten reagiert. «Du mit deinen kleinen Buchhalterproblemen und Bürobefindlichkeiten hast doch von dem, was ich tue, keine Ahnung! Das Schlimmste, was dir als Prokuristin passieren kann, ist, dass eine Sarotti-Rechnung nicht stimmt. Das lässt sich aber korrigieren, das bringt niemanden um.»

Gertrud hatte nichts erwidert und ihn nur wie einen Fremden angestarrt. Schweigend hatten sie gegessen, schweigend den Rest des Tages verbracht.

Am nächsten Morgen war Gertrud zu einer Freundin gezogen. Abstand war die einzige Nähe, die sie zusammenhielt. Es dauerte eine Woche, bis Gertrud zurückkehrte. Otto hatte sie angefleht zurückzukommen, ihr versprochen sich zu ändern und sich als verbohrt, ungerecht und egoistisch bezeichnet. Sie hatte ihn angeschaut und still und vorsichtig erwidert: «Versuchen wir es.»

Inzwischen waren die Wunden vernarbt. Er bemühte sich. Sie genoss die Aufmerksamkeit, die er ihr seitdem entgegenbrachte.

Verlegen räusperte Otto sich. «Ich hatte noch keine Gelegenheit, es dir zu sagen. Keunitz selbst hat angeordnet, den Fall wieder aufzurollen. Wir haben neue Informationen erhalten. Wir müssen dem nachgehen. Glaub mir, ich habe mich nicht darum gerissen.» Er legte seine Hand auf ihren Arm.

Sie zog den Arm nicht weg, schaute ihren Mann aber auch nicht an. «Otto, ich respektiere deine Arbeit. Das habe ich immer getan. Ich kann einschätzen, was sie dir bedeutet. Aber niemand weiß besser als ich, was sie mit dir macht. Ich bin diejenige, die dich nachts festhält, wenn Albträume dich plagen. Immer habe ich dir den Rücken freigehalten. Ich liebe dich, weil du bist, wie du bist. Es gibt aber noch ein Leben neben deiner Arbeit. Vergiss das nicht wieder. Ein zweites Mal kehre ich nicht zurück.»

Beide schwiegen. Mehr gab es nicht zu sagen. Eine weitere Entschuldigung wäre unglaubhaft gewesen, und deutlicher hätte sie ihre Warnung nicht formulieren können.

«Wird Peter bei uns übernachten?», fragte Otto und hoffte, gemeinsam mit seinem Sohn das WM-Spiel Deutschland gegen Uruguay um Platz drei sehen zu können.

Gertrud schüttelte bedauernd den Kopf. «Er ist nur kurz in Berlin und schläft bei Freunden.»

Die Bar im Hotel Unter den Linden in Ost-Berlin war so früh am Abend noch nicht gut besucht. Gensfleisch saß auf einem der Hocker und quälte sich mit einem Whisky Made in GDR. Normalerweise bevorzugte er schottischen Whisky, da dieser aber nicht in den Osten exportiert wurde, sah er sich genötigt, es mit Hochprozentigem aus der Zone zu versuchen. Der Falckner besaß zwar eine ansprechende Farbe und hatte 43 Umdrehungen, dennoch beleidigte das Destillat seine verwöhnten Geschmacksknospen. Glaubte Gensfleisch dem Barmixer, erinnerte der Name an die Familie C. W. Falckenthal. Der Whisky stammte aus der gleichnamigen Luckenwalder Brennerei, die auf eine jahrhundertealte Tradition zurückblicken konnte. Dass es überhaupt Whisky im Osten gab, war einem Staatsführungsbeschluss zu verdanken. Die Privatbrauerei produzierte seitdem das Gesöff, vermochte aber mit dieser Spirituose allenfalls das trinkfeste Proletariat zu begeistern.

Gensfleisch, dem die unverhohlene Drohung mit ein paar Jahren Bautzen nicht aus dem Kopf ging, bestellte sich ein weiteres Glas Falckner und hoffte auf einen Gewöhnungseffekt. Tatsächlich hatte die Staatssicherheit genug in der Hand, um ihn ans Messer zu liefern. Kompromittierende Fotos von seinen Besuchen im Café Chérie und einer Nacht im hauseigenen Hotel waren dabei noch das geringste Übel. Seine Arbeit in der Bundesdruckerei wurde zwar gut bezahlt, aber der Handel mit bundesdeutschen Ausweispapieren brachte eindeutig mehr ein. Ärgerlich nur, dass er auf das Wohlwollen von Major Schwarz angewiesen war.

«Sie sehen aus, als könnten Sie Gesellschaft gebrauchen.» Die Stimme gehörte zu einem in die Höhe drapierten roten Schopf mit einem dezent geschminkten Gesicht und einem schlanken, wohlgeformten braungebrannten Körper, der in einem marineblauen Minikleid steckte. Passende Pumps und eine elegante Handtasche, die problemlos ein kleines Aufnahmegerät verbergen konnte, rundeten die beeindruckende Erscheinung ab. Sofort erkannte Gensfleisch, dass die Frau größer war als er, ein paar Zentimeter nur, selbst ohne ihre hochhackigen Schuhe. Freundlich wies er auf den Platz neben sich und fragte mit einem Lächeln: «Darf ich Sie auf einen Drink einladen?»

Er durfte. Gensfleisch hatte auch nichts anderes erwartet. Einen Moment lang dachte er an die mahnenden Worte seines Führungsoffiziers, jedoch beschloss er, diese angesichts dessen, was auf dem Barhocker neben ihm saß, zu ignorieren. Er würde sich einen schönen Abend machen, das Blaue vom Himmel erzählen und die Fremde anschließend vögeln. Ein Hoch auf die Amazonen der Weltrevolution!, prostete er in Gedanken Major Schwarz zu.

Die Frau, die sich Simone nannte, war gut ausgebildet. Angeblich hatte sie ein Bewerbungsgespräch als Stewardess bei der Interflug. Da sie aus Lobbe komme, einem kleinen, verschlafenen Ostseenest auf Rügen, und es am Montagmorgen keine Zugverbindung gebe, die sie pünktlich zum Flughafen gebracht hätte, habe die Interflug notgedrungen ein Zimmer für sie gebucht. Eine Nacht habe sie sich zusätzlich gegönnt, um ein schönes Wochenende zu genießen. Berlin sei schließlich immer eine Reise wert. Normalerweise sei ein derart exklusives Hotel jedoch nicht ihre Preisklasse.

Gensfleisch tat interessiert, lächelte verständnisvoll und ließ ihr Sektglas nachfüllen. Dankbar nahm sie es an und erklärte dann, dass sie aufgrund ihrer Sprachfähigkeiten – immerhin beherrsche sie perfekt Französisch, Englisch und Russisch – in den engeren Kreis jener Bewerber gerückt war, die für ausgewählte internationale Flugrouten eingesetzt werden sollten. Europa, Naher Osten, Afrika. Ein kurzes sehnsüchtiges Seufzen. Eine perfekte Inszenierung.

 

«Bin ich dann nicht der falsche Umgang für Sie?», bemerkte Gensfleisch mit einem Lächeln und nippte am Falckner. «Meines Wissens wirken sich Westkontakte ausgesprochen negativ auf hiesige Karrieren aus.»

Sie lehnte sich vor, gewährte einen kurzen Einblick in ihr Dekolleté und hauchte: «Sie müssen mich ja nicht verraten.»

«Von mir erfährt niemand etwas. Ich schweige wie ein Grab.» Er machte eine Geste, als würde er seinen Mund abschließen.

Simone reagierte auf seine Flirtversuche mit einem gekonnten Lächeln und sympathischer Neugier. «Kommen Sie aus West-Berlin?», erkundigte sie sich mit gesenkter Stimme.

Er zögerte einen Augenblick, bevor er ebenfalls leise antwortete: «Ich habe eine fantastische Wohnung in der Nähe des Anhalter Bahnhofs.»

Sie hörte ihm zu und lauschte seinen Ausführungen über das Nachtleben in West-Berlin, führte ihn aber immer wieder auf jenes Thema zurück, das ihr besonders wichtig zu sein schien: Politik.

«Natürlich interessiere ich mich für Politik», behauptete er, um ihr dann Dinge zu erzählen, denen allen eines gemeinsam war: Sie waren erstunken und erlogen. «Ohne Übertreibung kann ich sagen, dass ich zu jenem erlesenen Kreis gehöre, der regelmäßig zu Feierlichkeiten des West-Berliner Senats eingeladen wird. Das hängt mit meiner Aufgabe in der Bundesdruckerei zusammen. Willy Brandt kenne ich sogar persönlich, noch aus seiner Zeit als Regierender Bürgermeister.» Er schaute die junge Frau an, die einen Augenblick irritiert zu sein schien, sich aber sofort wieder unter Kontrolle hatte. «Willy macht immer den Eindruck, als würde er beim Sprechen gleich einschlafen», begann er zu erzählen und ahmte die Stimme des jetzigen Bundeskanzlers nach: «Auch wenn zwei Staaten in Deutschland existieren, sind sie doch füreinander nicht Ausland; ihre Beziehungen zueinander können nur von besonderer Art sein.»

Er redete weiter über Persönlichkeiten der Politik, über Intrigen der Mächtigen und angebliche Pläne der Führung in West-Berlin. Der Falckner schmeckte zwar immer noch wie billiger Fusel, wirkte aber angenehm berauschend. Das letzte Glas, das der Barkeeper gebracht hatte, führte auf die Ziellinie. «In meiner Funktion habe ich ständig mit politischen Abgründen zu tun. Ein wirklich einsamer Job.» Er schwieg und schaute traurig in sein Glas. Traurig gucken war eine seiner Stärken.

Simone nahm ihn mit auf ihr Zimmer und besorgte es ihm prächtig.

Er faselte etwas von «Du bist eine fantastische Frau» und «Ich wünschte, ich könnte dich wiedersehen».

Ihren vermeintlichen Erfolg genießend, antwortete sie: «Warum nicht? Das liegt ganz an dir.»

Simone war, wie erwartet, größer als er und am ganzen Körper gebräunt. «FKK – Freikörperkultur am Ostseestrand», resümierte er bewundernd und genoss das falsche Spiel.

Nur kurz fragte er sich, wo die Kamera der Staatssicherheit diesmal versteckt war. Da er keine entdeckte, winkte er unauffällig lächelnd in Richtung des Spiegels. Major Schwarz erpresste ihn schon mit diversen Aufnahmen aus dem Café Chérie. Auf ein paar weitere schlüpfrige Bilder aus einem Ost-Berliner Hotel kam es nun auch nicht mehr an.

FÜNF

Montag, 22. Juni 1970

LANGSAM FUHR HELMUT GEBHARD mit dem Lkw in das dichte Wäldchen, das kaum drei Kilometer vor Nauen lag, und hielt an. Es war sieben Minuten vor sechs. Er schaltete den Motor und das Standlicht aus. Dann kurbelte er das Fenster herunter und lauschte. Bis auf das Zwitschern der Vögel war nichts zu hören. Dennoch schaute er sich gewissenhaft um. Als ihm nichts Verdächtiges auffiel, blickte er wieder auf die Uhr. Drei Minuten blieben noch. Langsam steckte er sich eine HB in den Mund, zündete sie an und sog den Rauch tief ein. Er dachte an die Werbung im Fernsehen und den Spruch «Wer wird denn gleich in die Luft gehen?». Tatsächlich erhoffte er sich durch den Glimmstängel etwas Gelassenheit. Die Zigarette beruhigte ihn zwar nicht, aber es tat gut, sich an ihr festzuhalten. Es war die letzte Tour, die er als Fluchthelfer unternahm. Danach gab es keinerlei Verpflichtungen mehr.

Gebhard hatte in der vergangenen Nacht schlecht geschlafen. Zum einen war der Auftrag für seine letzte Fahrt ungewöhnlich kurzfristig an ihn herangetragen worden. Zum anderen machte er sich darüber Gedanken, dass er ausgerechnet von jenem feinen Pinkel über die Details der Tour informiert worden war, den er zwei Tage vorher im Café Breslau dabei beobachtet hatte, wie er den Pass des verwahrlosten Kerls kaufte. Aber das ging ihn nichts an.

Gebhard war ihm zuvor nur ein einziges Mal begegnet. Er erinnerte sich an den Tag, an dem er in das Büro des Firmeninhabers Bernd Liebscher gebeten worden war. Er hatte mit neuen Arbeitsanweisungen gerechnet, aber nicht mit einem Besuch Wilfried von Thalmanns und dieses Anzugträgers, der sich bedeckt im Hintergrund gehalten hatte. Auch wenn Gebhard sich ahnungslos gegeben hatte, hatte er sofort gewusst, was Thalmanns Anwesenheit bedeutete. In den letzten Monaten war Gebhard das Glück nicht hold gewesen, seine Spielschulden hatten eine bedrohliche Höhe erreicht. Dass Thalmann einen Anteil an den Spielsalons besaß, hatte er gehört. Es bedurfte auch keiner besonderen Intelligenz, um zu ahnen, dass in diesen zwielichtigen Läden Fluchtgelder gewaschen wurden. Gebhards Chef und Berlins prominentester Fluchthelfer kannten einander offensichtlich gut. Thalmanns Schatten, der Kerl in dem teuren Anzug, hatte Gebhard neugierig angestarrt, schweigend, lauernd, taxierend. Eigentlich hatte Gebhard erwartet, dass man ihm kündigen würde. Doch statt ihn zu entlassen, hatte ihm Liebscher das Angebot des schönen Willi unterbreitet, die Spielschulden durch Gefälligkeiten abzuarbeiten. Seit der Bruder seines Chefs bei seinem Fluchtversuch aus der DDR im Teltowkanal ertrunken war, fühlte der sich schuldig. Er hasste das DDR-Regime. Er hasste die Mauer. Dass Liebscher seit dem Mauerbau Geld in Fluchtunternehmungen steckte, war in der Firma ein offenes Geheimnis. Dass er mit einem kommerziellen Fluchthelfer zusammenarbeitete, war jedoch neu für Gebhard gewesen. Doch er hatte dem Vorschlag, ohne zu zögern, zugestimmt. Was war ihm auch anderes übriggeblieben? Daraufhin hatte ihm der Mann mit der Vorliebe für elegante Anzüge die Idee mit dem präparierten Lkw erklärt.

Erneut schaute Gebhard auf die Uhr. Fast schien die Zeit stillzustehen. Noch zwei Minuten musste er ausharren. Dennoch, der Mann aus dem Café wusste Dinge, die er nicht wissen sollte. Jeder, der mit der Tour zu tun hatte, erfuhr nur so viel, wie für die Absolvierung der eigenen Arbeit notwendig war. Keiner der Beteiligten kannte alle Details des Fluchtplans, geschweige denn die Namen der betreffenden Personen. Eine Vorsichtsmaßnahme zum Schutz aller Beteiligten. Aber dieser Kerl hatte nicht nur wie üblich die Uhrzeit und den Treffpunkt, sondern auch den Namen der jungen Frau gekannt, die gleich im Versteck unter dem Fahrersitz liegen würde. Es war äußerst ungewöhnlich, dass der Überbringer des Auftrags von allen Details wusste. Darauf angesprochen, hatte der Mann alle Bedenken mit einem Lächeln abgetan und behauptet, die Frau sei die Nichte seiner Schwester. Thalmann habe der Flucht persönlich zugestimmt. Anfänglich hatte Gebhard diese Geschichte geglaubt. Je länger er aber darüber nachdachte, umso mehr Zweifel kamen ihm. Wahrscheinlich arrangierte der Mann Fluchten auf eigene Rechnung. War dem so, dürfte es mächtig Ärger mit Wilfried von Thalmann geben. Ärger, den er nicht gebrauchen konnte. Schlimmer noch, er müsste noch eine weitere Tour fahren. Vielleicht sah er aber auch nur Gespenster.

Punkt sechs Uhr öffnete er die Wagentür und stieg aus. Wenige Meter neben dem Lkw traten zwei Personen aus dem Gebüsch. Ein Mann und eine Frau. Schnell bewegten sie sich auf Helmut Gebhard zu. Ungehalten zog er die Augenbrauen hoch. Ihm war nur eine Person avisiert worden. Je mehr Menschen eingeweiht waren, umso gefährdeter war das Unternehmen. Sorgfältig trat er die Zigarette aus und betrachtete die beiden.

«Die Nächte sind zu kühl für einen Juni», flüsterte die junge Frau aufgeregt.

Gebhard nickte und antwortete genauso leise: «Besser trocken und kühl als nass und warm.»

Die Erleichterung war der Frau vom Gesicht abzulesen. Sie strahlte den jungen Mann an ihrer Seite an, der lächelte etwas verkrampft zurück.

«Was soll das? Es ist nur Platz für eine Person.»

Der schüchterne Mann nickte. «Ich passe nur auf, dass ihr nichts passiert. Man weiß ja nie.»

Der junge Mann gefiel Gebhard nicht. Ungepflegte, strähnige Haare, schmales Gesicht, misstrauische Augen. Als er der Frau seinen Rucksack reichte, wurde Gebhard ungehalten. Jedes Detail war abgesprochen, Extrawürste gab es nicht. «Kein Gepäck! Nur das, was Sie am Körper tragen können.»

Die Frau nickte, stellte den Rucksack auf den Boden und entnahm ihm einen dünnen Hefter. Gebhard konnte einen flüchtigen Blick auf den Titel erhaschen: Nestflüchter – Gedichte aus einer gebrochenen Stadt. «Wenn ich drüben bin, finde ich einen Verlag und veröffentliche mein Buch. Kunst findet immer einen Weg.» Der Mann nickte, schien aber nicht von ihrem Gedanken überzeugt zu sein. Anschließend legte sie sich eine flache Bauchtasche um die Hüften und zog den Riemen fest. Das dünne Manuskript schob sie unter die Jacke. Gebhard wusste, dass sie in der winzigen Tasche all ihre Wertsachen aufbewahrte. Dann gab sie den Rucksack zurück. «Das ist alles, was ich brauche.»

Gebhard drehte sich zum Lkw, zog den Aschenbecher heraus und öffnete das Versteck unter dem Fahrersitz. Entschuldigend deutete er auf die Decke und sagte: «Bequemer geht’s leider nicht.»

Die Frau lächelte verständnisvoll, umarmte den jungen Mann, küsste ihn innig und wollte ihn wieder loslassen, doch er hielt sie zurück.

«Geh nicht! Wir können auch hier glücklich werden.»

«Wir haben das lange genug diskutiert. Ich kann hier nicht leben. Ich muss weg. Wenn du es dir anders überlegst, hol ich dich später nach.»

Er ließ sie los, schüttelte den Kopf. Traurig ließ er die Schultern hängen. Auch wenn er sich zu beherrschen versuchte, wurde deutlich, wie aufgewühlt er war. Er wischte sich mit dem Ärmel übers Gesicht. «Ich kann nicht. Meine Eltern. Ich möchte hier etwas bewegen.»

«Wir müssen los!» Gebhard war ungehalten. Tränenreiche Abschiede waren das Letzte, was entlang ostdeutscher Transitwege beobachtet werden durfte. Jeden Moment konnte jemand kommen. Die Gefahr aufzufliegen war allgegenwärtig.

Die junge Frau kletterte in den Hohlraum, zog die Beine dicht an den Körper und versuchte, eine einigermaßen bequeme Position einzunehmen. Ein letztes Winken.

«Wünschen Sie ihr Glück. Das kann jeder von uns gebrauchen», flüsterte Gebhard dem jungen Mann zu, während er sich eine neue Zigarette ansteckte und ins Fahrerhaus stieg.

Kaum hatte er den Lkw auf der Fernverkehrsstraße beschleunigt, glaubte er im Rückspiegel eine Bewegung im Unterholz des Waldes wahrgenommen zu haben. Erschrocken versuchte er Genaueres zu erkennen. War es nur eine Einbildung? War es ein Wildtier, das die Straße überqueren wollte? Sosehr er sich bemühte, er konnte nichts Auffälliges erkennen. Du fängst an, Gespenster zu sehen!, versuchte er sich zu beruhigen und schaltete in den nächsthöheren Gang.

Otto Kappe hatte die Anregung von Kriminalrat Friedhelm Keunitz, erneut die Gerichtsmedizin zu kontaktieren, durchaus als Anweisung verstanden. Dennoch entschied er sich, den Besuch des Pathologischen Instituts des Städtischen Krankenhauses in Moabit erst für den Montagnachmittag einzuplanen. Zum einen hatte er nicht vor, sich von seinem Chef sagen zu lassen, wie er seine Ermittlungen zu führen habe, und zum anderen wollte er gerne Hans-Gert Galgenberg dabeihaben. Der lief sich aber schon den ganzen Vormittag mit Günter Kynast in Alt-Lübars die Hacken krumm, um rund um Thalmanns Anwesen Nachbarn nach der jungen Frau zu befragen, deren Leichnam im Düppeler Forst gefunden worden war. Galgenberg nannte dieses Vorgehen Teppichklopfen, eine Anspielung auf den Staub, der dabei aufgewirbelt werden sollte. Kappe hatte seine Zweifel, ob ihre Bemühungen erfolgreich sein würden, hoffte aber auf eine unüberlegte Reaktion des schönen Willi. Er selbst nutzte die Stunden, in denen sein Kollege fort war, um die Unterlagen zum Fall Nikolskoe erneut zu studieren. Bis fünfzehn Uhr blieb ihm Zeit, sich alle Details wieder in Erinnerung zu rufen, danach wollte er Galgenberg in der Pathologie treffen.

 

Keunitz’ vage Andeutung, dass es im Leichenschauhaus eine personelle Änderung gegeben habe, versprach nichts Gutes. Was Kappe aber dann erwarten sollte, war mehr als überraschend. Es begann damit, dass er sich lapidar am Telefon danach erkundigte, welche angeblich neuen Informationen es im Fall Nikolskoe gebe. Er kenne den Bericht der Untersuchung. Die Frau am anderen Ende der Leitung, auf deren Namen er nicht geachtet hatte, fragte ihn daraufhin unverblümt, ob er ihn auch voll und ganz verstanden habe. Einen Augenblick blieb Kappe die Luft weg, bevor er im strengen Ton verlangte: «Ich möchte Ihren Chef sprechen!»

«Doktor König macht gerade Urlaub am Gardasee. Wenn Sie den beim Limoncello-Schlürfen stören wollen, nur zu! Persönlich rate ick Ihnen, mit mir vorliebzunehmen», antwortete sie spitz, bevor sie mit Kleinmädchenstimme fragte: «Ist Ihnen ein Termin noch in dieser Woche genehm?»

Statt zu antworten, knallte Kappe den Hörer wütend auf die Gabel. Punkt fünfzehn Uhr stürmte er in das Pathologische Institut in der Invalidenstraße 59. Eine hochgewachsene, vollschlanke junge Frau, die mit glänzendem rotem Gesicht im Gang des Leichenschauhauses stand, schien ihn erwartet zu haben.

«Haben wir miteinander telefoniert?», fauchte Kappe schon aus einiger Entfernung. Er erhielt aber erst eine Antwort, als er vor ihr stand.

«Erst mal Juten Tach! Möchten Se een Kaffee, oder regt Se dit noch mehr uff? Nich, dass ick Se ooch noch obduzieren muss!»

Bevor Kappe antworten konnte, öffnete die Frau eine Tür. Kappe wusste, dass diese ins Büro von Dr. König führte. Mit großer Geste bat sie ihn einzutreten. Energischen Schrittes ging Kappe hinein. Die Frau setze sich hinter den Schreibtisch und genoss sein verdutztes Gesicht. «Keen Kaffee also. Glas Wasser jefällig?»

Ohne darauf zu reagieren und noch immer wütend, fragte er mit mühsam beherrschter Stimme: «Was meinen Sie damit, ich hätte den Untersuchungsbericht nicht voll und ganz verstanden?»

Die Frau nickte kurz, wies dann auf den freien Stuhl vor dem Schreibtisch und atmete tief durch. «Bleiben Se ma janz ruhig. Wird allet nich so heiß jejessen, wie’s jekocht wird. Aber wie ick sehe, habe ick jetzt Ihre volle Uffmerksamkeit.» Bedächtig setzte sie ihre Lesebrille auf und zog eine Akte aus dem Schubfach.

Kappe verschlug es die Sprache. Er war kurz davor zu explodieren.

In diesem Moment trat Galgenberg durch die offene Tür. «Bin ick zu spät?»

Die Gerichtsmedizinerin schaute nicht einmal auf, sondern fauchte nur ungehalten: «Hat man in de Mordkommission dit Begrüßen abjeschafft? Erst mal Juten Tach!»

«Wer sind Sie denn?», erkundigte sich Galgenberg verblüfft.

«Doktor Doreen Niedergesäß, Gerichtsmedizinerin. Sozusagen Ihre neue Ansprechpartnerin. Ick mach fürn Kollegen Doktor König die Urlaubsvertretung.»

Galgenberg konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen. «Wirklich? Niedergesäß?», prustete er los.

Seine Anmerkung scheinbar ignorierend, öffnete die Gerichtsmedizinerin die Akte und blätterte darin. Schließlich fand sie die Passage, die ihr wichtig zu sein schien. Sie stand auf, strich den Rock ihres Kostüms glatt und betrachtete Galgenberg von oben bis unten. «Ja, Niedergesäß. Janz einfach zu merken. Niederjesäß wie Hängearsch. Und Sie sind Jalgenberg, richtig? Ooch nich grad ’n Künstlername.»

Daraufhin war auch Galgenberg sprachlos. Sein Gesichtsausdruck verriet allerdings, dass er sich nicht einen Moment darüber wunderte, dass die beeindruckende junge Frau seinen Chef zum Schweigen gebracht hatte.

«Ick bin die neue rechte Hand von Doktor Konrad König. Solange der weg is, muss ick mich um den janzen Kram kümmern. Passt weder dem gebürtigen Schwaben noch mir, dit können Se mir glooben. Als letzte Amtshandlung hat er mir den Fall der Toten von Nikolskoe überjeben. Anweisung von oben. Ick soll ma kieken, ob mir wat im Untersuchungsbericht ufffällt.»

«Und was in dem Bericht soll ich nun übersehen haben?», erkundigte sich Kappe erneut.

Langsam drehte Doreen Niedergesäß die Akte in Kappes Richtung und deutete mit einem Bleistift auf eine unterstrichene Passage: Die Unbekannte verstarb an einer nicht mit dem Leben zu vereinbarenden scharfen Gewalteinwirkung.

Kappe, dem momentan nicht nach Rätsellösen zumute war, wischte sich genervt mit der linken Hand über die Augen.

«Mal abgesehen von der blumigen Ausdrucksweise meines geschätzten Kollegen – das Loch im Schädel ist mitnichten verursacht durch einen Eispickel oder die spitze Seite eines Hammers oder eines sonstigen üblichen Mordwerkzeugs. Alles deutet darauf hin, dass diese Verletzung mit einem scharfen Werkzeug zugefügt worden ist. Auffällig sind zwei Riefen in der Knochenstruktur. Das Mordwerkzeug muss also eine strukturierte Oberfläche gehabt haben.» Um ihre Schlussfolgerung zu unterstreichen, legte Doreen Niedergesäß eine Aufnahme auf den Tisch. Die zeigte eine Vergrößerung der Fraktur, eine millimetergroße rechtwinklige Bruchstelle, die an eine Nut erinnerte.

Kappe wechselte einen Blick mit Galgenberg, der ebenfalls interessiert zuhörte und sich das Foto genau anschaute.

«Haben Sie jemals in Betracht gezogen, dass die junge Frau aus dem Osten stammen könnte?», erkundigte sich die Gerichtsmedizinerin, diesmal ohne die Spur eines Vorwurfs.

«Nachdem wir bei allen Vermisstenstellen in West-Berlin und im Bundesgebiet nachgefragt haben, sind wir auch auf diesen Gedanken gekommen. Aber die Schraube in ihrer Hüfte stammt eindeutig aus westdeutscher Produktion. Daran gab es keinen Zweifel. Außerdem, mit wem hätten wir denn im Osten reden sollen? Wir haben ja nicht einmal ein Bild von ihr. Die Kollegen in der Zone geben grundsätzlich keine Auskünfte.»

Sie nickte. Langsam blätterte sie nochmals durch den Bericht. Dann lehnte sie sich zurück. «Ich denke, die Frau stammt aus Ost-Berlin. Da Ihre Ermittlungen in bundesdeutschen Kliniken bisher ergebnislos waren, bleibt doch nur dieser eine Schluss. Ich habe mit dem Leiter des Krankenhauses in Britz gesprochen. Anfang der Sechzigerjahre ist einiges an medizinischem Material entwendet worden, unter anderem auch die Sorte Knochenschrauben, die wir im Bein der Toten gefunden haben. Man hat den Arzt, der dafür verantwortlich war, überführen können. Ein ausgesprochen renommierter Chirurg. Er hat das Material nach Ost-Berlin geschmuggelt, um einem befreundeten Kollegen zu helfen. Selbstverständlich hat der Chirurg den Schaden sofort beglichen. Daraufhin hat die Leitung von disziplinarischen Maßnahmen abgesehen. Es ist übrigens kein Einzelfall, dass Ärzte Ihren Kollegen im Osten hilfreich unter die Arme greifen.»

Kappe schaute Galgenberg verblüfft an. Er kam nicht umhin festzustellen, dass das die erste konkrete Spur darstellte, seit sie mit dem Fall zu tun hatten. Er stand auf und wandte sich zum Gehen. «Danke für die Information», nuschelte er und schob Galgenberg in Richtung Tür.

«Nun rennen Sie doch nicht gleich weg! Wenn Sie wollen, gebe ich Ihrer Leiche wieder ein Gesicht. Ich bin Spezialistin auf dem Gebiet der Gesichtsrekonstruktion. Darüber habe ich meine Doktorarbeit geschrieben. Bis Freitag könnte ich ein Modell angefertigt haben. Vorausgesetzt, einer Exhumierung wird unbürokratisch und schnell zugestimmt. Glücklicherweise kenne ich einen Richter persönlich ausgesprochen gut.» Sie schmunzelte über die verblüfften Gesichter der beiden Kollegen der Mordkommission. «Meine Herren, wär doch jelacht, wenn wa nich rausfinden, wer die Tote is!», sagte sie und strahlte dabei über ihr rot glänzendes Gesicht.

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