Geschwisterliebe

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Seitdem arbeitete Peter in der Wendland-Klinik, in einer eher übersichtlichen Abteilung, die psychisch Erkrankte behandelte. Die Familie drohte auseinanderzubrechen, und Otto war daran nicht unschuldig. Erst nachdem er die Akte Nikolskoe auf Keunitz’ Anweisung im Schubfach hatte verschwinden lassen, hatte sich die Situation mit Gertrud wieder zum Besseren gewendet. Das war nun kaum ein Vierteljahr her.

«Wir können unmöglich einfach beim schönen Willi klingeln und behaupten, es gebe da so einen Hinweis von jemandem, der obergeheim ist, quasi de facto nicht existiert. Demnach solle er etwas mit einer Leiche zu tun haben, zu der wir aber leider überhaupt nichts sagen können», unterbrach Galgenberg Kappes Gedankengang.

Wieder einmal stellte Kappe fest, dass der ehrenwerte Kollege immer dann zu berlinern aufhörte, wenn die Situation ernst wurde.

Um die Absurdität ihrer Aufgabe zu verdeutlichen, schlug sich Galgenberg mehrfach kräftig mit der flachen Hand gegen die Stirn. «Wat solln der schöne Willi darauf antworten? Der lacht sich doch scheckich. Dit können wa voll verjessen!»

Das mit dem Hochdeutsch klappt allerdings nur, wenn Galgenberg nicht wütend ist, stellte Kappe in Gedanken fest. Im Prinzip sah er es genauso wie sein Kollege. Sie hatten nichts in der Hand, um Keunitz den Wunsch zu erfüllen, Dreck aufzuwirbeln. Sie sollten den Hinweis vom Verfassungsschutz mit Vorsicht genießen. Nachgehen aber mussten sie ihm. Es war unmöglich, die Sache zu ignorieren. Doch auch wenn die Informationen äußerst dürftig ausfielen – sie waren ein kleiner Strohhalm. Vielleicht könnten sie den Fall Nikolskoe doch noch aufklären. «Hast du eine Ahnung, wo der schöne Willi sein Domizil hat?», erkundigte sich Kappe.

«Ick gloobe, in Alt-Lübars. Hat so een ufjepeppten Bauernhof jekooft. Über dit Anwesen stand ma wat inne Zeitung.»

«Fahr da am Montag vorbei. Nimm Kynast mit. Schaut euch um. Redet mit ein paar Leuten. Sagt, dass eine unbekannte junge Frau im vergangenen Herbst tot aufgefunden wurde und wir deshalb ermitteln. Alter, Körpergröße und Haarfarbe kennt ihr. Welche Kleidung sie am Tag ihres Todes trug, ist auch wichtig. Ach ja, und dass sie womöglich einen Gehfehler hatte. Dass es um Mord geht, erwähnt ihr allerdings nicht. Über alle anderen Details schweigt bitte auch. Ist jemandem im Mordzeitraum etwas Ungewöhnliches aufgefallen? Die Frau wurde zwischen November 1968 und Februar 1969 umgebracht. Hat irgendjemand die Frau beobachtet? Lasst euch sehen, und wenn einer von Willis Leuten fragt, zeigt eure Ausweise, sagt was von Routineuntersuchung und verweist darauf, dass wir uns in den kommenden Tagen wieder melden werden. Mehr als auf den Teppich klopfen können wir momentan nicht. Vielleicht staubt es ein bisschen. Wenn wir Glück haben, wird jemand nervös.»

Galgenbergs Stöhnen kam tief aus seinem Innern. «Ick hab schon so wat befürchtet. Alles klar, ick kümmere mir drum!»

Einen Augenblick lang standen beide auf dem Flur, starrten durch ein Fenster auf die Keithstraße und beobachteten die vorbeihastenden Passanten.

«Und was machen wir jetzt, so kurz vorm Wochenende?», erkundigte sich Galgenberg vorsichtig mit deutlicher Betonung des letzten Wortes.

«Ich habe noch etwas in Kreuzberg zu erledigen», erwiderte Kappe. Nach einer kurzen Pause ergänzte er: «Außerdem brauche ich dringend Luft. Ich muss das erst mal verdauen. Geh du zurück ins Büro und stell bitte alles, was wir über diesen Wilfried von Thalmann haben, zusammen. Presseartikel über den bunten Vogel wären auch ganz schön. Ich komme später nach.»

«Dann muss ick in die Stadtbibliothek.»

«Dann mach das!», sagte Kappe schulterzuckend.

Galgenberg zog die Stirn kraus und schaute seinen Chef an, der drehte sich um und lief mit energischen Schritten den Gang entlang.

Im Auslieferungslager des Berliner Fuhrunternehmens Liebscher genossen die Fahrer ihre Mittagspause. Niemand kümmerte sich um Helmut Gebhard, der die Lieferpapiere für die kommende Tour ins Bundesgebiet prüfte. Alles schien vollständig und korrekt zu sein. Der Lkw war mit Kisten voller Mikrofone beladen, die neuesten, die es derzeit auf dem Markt gab, die Hecktür war verplombt. Gebhard lief ruhig um das Fahrzeug herum und überprüfte die Reifen. Niemand störte ihn. Er öffnete die Fahrertür, steckte den Schlüssel ins Schloss, drehte ihn in Startposition, zog dann den Aschenbecher aus seiner Halterung und drückte kräftig auf das darunterliegende Blech, auf einen unauffälligen Schalter, den nur Eingeweihte kannten. Der Stromkreis schloss sich, und ein Anlassermagnet entriegelte verborgene Stifte im Bodenblech. Um sicherzugehen, dass ihn niemand beobachtete, schaute Gebhard prüfend zum Kabuff, in dem die anderen Kollegen ihre Pause verbrachten. Alles war ruhig. Vorsichtig klappte er den Fahrersitz nach vorn. Nun brauchte er nur noch die Bodenplatte wegzuschieben, und ein eigens präparierter Hohlraum wurde sichtbar. Viel Platz bot er nicht. Er reichte gerade für eine Person, die sich in Embryonalhaltung zusammenkrümmte. Das Versteck lag gut getarnt zwischen Motor und Tank. Selbst Spürhunde schlugen wegen des starken Benzin- und Ölgeruchs nie an, wenn er jemanden darin schmuggelte.

Sieben Fluchten hatte Helmut Gebhard bisher mit dem umgebauten Lkw des Fuhrunternehmens ermöglicht. Das Versteck war perfekt. Selbst eine einstündige Inspektion am Grenzübergang Staaken war erfolglos gewesen.

Diesmal würde er die Ladung an einen Partner in Hamburg liefern und anschließend hochwertiges Papier laden, das er am Montag an die Bundesdruckerei in der Kommandantenstraße hinter dem Axel-Springer-Haus übergeben musste. Niemand in der Firma ahnte, dass er in der Nähe von Nauen einen kurzen Zwischenstopp auf einem Waldweg einlegen würde. Nur der Inhaber der Firma Liebscher wusste von dem Umbau des Lkw und seinen regelmäßigen Aktionen. Gebhard kannte das Gerücht, dass der Chef des Unternehmens, Bernd Liebscher, seinen Bruder bei einem Fluchtversuch verloren hatte, als der im Februar ‘64 versucht hatte, den Teltowkanal zu durchschwimmen. Offensichtlich fühlte sich Liebscher schuldig am Tod seines Bruders, weil er ihn nicht von dem irrsinnigen Plan hatte abbringen können. Seitdem tat er alles dafür, anderen bei ihrer Flucht zu helfen. Für ihn war eine derartige Hilfe anscheinend das einzige Mittel, um Abbitte zu leisten.

Den Umbau des Lkw hatte Wilfried von Thalmann an einem Wochenende auf seinem Anwesen vornehmen lassen. Die Idee stammte von einem befreundeten Fluchthelfer, der mit einem Cadillac Flüchtlinge über die deutsch-tschechoslowakische Grenze geschmuggelt hatte. Dem war es drei Jahre lang gelungen, die Grenzposten mit seinem fast sechs Meter langen amerikanischen Schlitten zu narren. Zweihundert Flüchtlingen hatte das Nobelgefährt in die Freiheit verholfen. Das Versteck hatte hinter dem Armaturenbrett gelegen, und wer die Reise gen Westen angetreten hatte, hatte gut getarnt auf dem Rücken mit angewinkelten Beinen im Kotflügel gelegen.

Gebhard prüfte noch einmal den geheimen Raum im Lkw. Wie immer schüttelte es ihn, wenn er an die Enge dachte. Er selbst könnte eine derartige Tortur nicht durchstehen, neigte er doch schon in geschlossenen Räumen zu Atemnot und Panikattacken. Mitfühlend legte er eine zusammengelegte Decke in das präparierte Versteck. Mehr konnte er nicht tun. Sorgsam zog er die Bodenplatte wieder in ihre Verankerung, stellte den Sitz zurück und steckte den vollen Aschenbecher in seine Halterung. Zufrieden schaute er auf die Uhr. Mindestens sieben Stunden dauerte eine Fahrt über die Fernverkehrsstraße 5 nach Hamburg, vorausgesetzt, die Kontrolle am Grenzübergang Lauenburg würde sich nicht wieder endlos in die Länge ziehen.

Otto Kappe musste nichts in Kreuzberg erledigen. Er hatte dies nur vorgegeben, um ungestört zu sein. Nach dem Gespräch mit Kriminalrat Friedhelm Keunitz war er in den neuen VW Käfer gestiegen, den sich seine Frau Gertrud und er Anfang des Jahres geleistet hatten. Inzwischen war er fünf Stundenkilometer schneller unterwegs, als die Polizei erlaubte. Warum er geradewegs zum Kreuzberg fuhr, wusste er selbst nicht. Er stellte das Auto in der Methfesselstraße ab. Zügig ging er an den vor zwei Jahren angelegten Weinstöcken vorbei. Normalerweise schmunzelte er über derartige Ambitionen. Einige Enthusiasten glaubten ernsthaft, dass Berlin auch als Weinstadt einen Ruf zu verteidigen hatte. Tatsächlich hatten Bauern vom 15. bis zum 18. Jahrhundert auf der ursprünglich Götzescher Weinberg genannten Erhebung Weinbau betrieben. Einen Namen für den Rebensaft, der hier künftig wieder hergestellt werden sollte, gab es auch schon: Kreuz Neroberger.

Kappe ließ sich auf einer Bank unterhalb des gusseisernen Nationaldenkmals für die Siege in den Befreiungskriegen nieder und erinnerte sich an einen Sonntag im September des vergangenen Jahres. Es war ein wunderbarer Tag gewesen, der letzte für eine lange Zeit. Gertrud und er hatten auf der Terrasse des Blockhauses Nikolskoe gesessen, mit Heißhunger riesige Wiener Schnitzel verspeist und die freie Zeit genossen. Von dort bot sich ein wunderschöner Ausblick auf die untere Havel und die Pfaueninsel. Andächtig hatten beide dem Glockenspiel der Kirche St. Peter und Paul gelauscht, die nur einen Steinwurf entfernt lag. Damals hatte er nicht geahnt, dass nur Stunden später kaum einen Kilometer entfernt eine Frauenleiche im Wald gefunden werden würde.

Aus seinen Gedanken auftauchend, starrte Kappe auf das in Form eines gotischen Tabernakels gestaltete Denkmal auf dem Kreuzberg. Die zwölf Genien erinnerten an gewonnene und verlorene Schlachten und waren allesamt preußischen Heerführern und Mitgliedern des Königshauses nachempfunden. Mit der Einweihung des Denkmals war aus dem Götzeschen Weinberg der Kreuzberg geworden, zumindest hatte Kappe das in einem Zeitungsartikel gelesen. Grund für die Umbenennung war wahrscheinlich jenes eiserne Kreuz, das das heroische Denkmal krönte.

 

Siege und Niederlagen prägten auch Kappes Leben. Erfolge waren für ihn eine Selbstverständlichkeit. Ungelöste Fälle ließen ihn dagegen nachts nicht schlafen. Die jahrelange Arbeit in der Mordkommission war nicht spurlos an ihm vorbeigegangen. Sicher, er liebte seinen Beruf, doch all die Verbrechen, mit denen er in seinem langen Berufsleben konfrontiert worden war, wirkten wie eine Bleivergiftung. Die Tote von Nikolskoe glich dem berühmten Tropfen, der das Fass zum Überlaufen gebracht hatte.

Ein Förster hatte die Überreste der jungen Frau, die im Unterholz des Düppeler Forstes versteckt worden waren, gefunden. Einen Tag später hatte Kriminalrat Keunitz den Fall Kappe und seinen Kollegen übertragen. Kappe hatte als Erstes mit dem Mann gesprochen, der den Fund gemeldet hatte. Genau genommen war Trotzki, der Dackel des Försters, der Entdecker der Leiche. Der Waldhüter gab zu Protokoll, dass er gerade die Überprüfung eines Spätbrutplatzes der vom Aussterben bedrohten Schleiereule abgeschlossen hatte und auf dem Rückweg gewesen war, als sein Hund sich aufgeregt gebärdet habe. Er habe einen Augenblick zu spät reagiert, aber schon geahnt, dass etwas nicht stimmte. Trotzki sei unruhig um einen Stapel Holz herumgerannt und habe herzzerreißend gejault. Genüsslich habe er dann seinen Oberkörper über etwas Undefinierbarem gewälzt. Für den Förster ein klares Zeichen dafür, dass unter dem Gestrüpp Verwesendes lag. Weiterhin hatte er zu Protokoll gegeben, dass alle Versuche, den Hund zum Einhalten zu bringen, erfolglos gewesen waren. «Trotzki hat sich aufduften wollen, um seinen Eigengeruch zu kaschieren. Die Ausdünstungen von madenzerfressenem Fleisch sind für Hunde so etwas wie Chanel No. 5.» Kappe erinnerte sich noch genau an die Worte des Försters. Erst dann sei dem Mann klar geworden, dass er die Überreste eines Menschen vor sich hatte. Geschockt sei er zurückgewichen, habe aber wahrgenommen, dass der Körper in einem bunten Kleid steckte.

Bei der stark verwesten Leiche handelte es sich um eine junge Frau, Mitte oder Ende zwanzig, mit mittellangen brünetten Haaren, zirka 1,72 Meter groß. Besondere Kennzeichen: keine. Ihr Kleid stammte von C & A und war schon seit einigen Jahren aus der Mode. Dennoch hatte Kappe prüfen lassen, wer dieses Modell produziert hatte, wo es hergestellt und wohin es geliefert worden war. Alle Filialen in West-Berlin und im Bundesgebiet schienen es im Sortiment zu haben. Auch die einschlägigen Versandhäuser. Fast war es Kappe so vorgekommen, als besäße jede modisch bewusste Frau ein Sommerkleid dieser Art.

Das Opfer war erschlagen worden. Das Gerichtsmedizinische Institut im Krankenhaus Moabit hatte eindeutig eine tödliche Verletzung am Schädel nachgewiesen. Der Schlag war mit einem spitzen Gegenstand, einem kleinen Hammer, einem handlichen Eispickel oder etwas Ähnlichem, ausgeübt worden und hatte das Schläfenbein im oberen Bereich zerstört. Wahrscheinlich war der Tod nicht sofort eingetreten. Laut Bericht war entweder ein Blutgefäß, vermutlich die Arteria meningea media, getroffen worden, sodass das Opfer verblutet war, oder es hatte eine durch den Schlag bedingte Gehirnverletzung zum Tod geführt. Der Zeitpunkt der Ermordung lag laut dem verantwortlichen Gerichtsmediziner Dr. Konrad König zwischen Anfang November 1968 und Ende Februar des vergangenen Jahres. Eine genauere Eingrenzung des Zeitpunkts war wegen des Zustands der Leiche und der witterungsbedingten Einflüsse nicht möglich gewesen. Aufgrund des harten Winters 1968 / 69, der als sonnenscheinärmster seit Beginn regelmäßiger Wetteraufzeichnungen galt, war der Verwesungsprozess nur langsam vorangeschritten und die Tote sozusagen bis zum Frühjahr auf Eis gelegt gewesen. Daher die Ungenauigkeit. Noch im März hatte man in Dahlem eine Schneehöhe von 52 Zentimetern gemessen, in Potsdam waren es sogar 70 Zentimeter – Werte, wie man sie zu dieser Jahreszeit noch nie registriert hatte. Die warmen Monate von April bis August hatten den Verwesungsprozess dann aber beschleunigt. Die Tatsache, dass die Tote zum Zeitpunkt ihrer Ermordung ein Sommerkleid getragen hatte, passte nicht zum prognostizierten Todeszeitpunkt und hatte daher für einige Spekulationen gesorgt. Inzwischen glaubte Kappe fest daran, dass der Täter dem Opfer die Kleidung angezogen hatte. Nur warum, war ihm ein Rätsel.

Als die Leiche im September 1969 gefunden worden war, war ihre Verwesung so weit fortgeschritten, dass weder Gesicht noch Fingerabdrücke Auskunft über ihre Identität hätten geben können. Dr. König hatte bei der Obduktion eine chirurgische Schraube gefunden, die auf eine komplizierte Hüftoperation hinwies. Zweifelsfrei musste die junge Frau vor ein paar Jahren einen Unfall erlitten haben, höchstwahrscheinlich einen Autounfall. Da das rechte Bein seitdem etwas kürzer war, ging der Gerichtsmediziner davon aus, dass sie gehinkt hatte. Das gefundene medizinische Implantat wurde seit Jahren in westdeutschen und West-Berliner Operationssälen verwendet. Doch trotz der klar umrissenen Diagnose und der Röntgenbilder des längst verheilten Bruchs fand sich kein Krankenhaus, das eine Patientin mit einer derartigen raktur behandelt hatte. Die Befragungen der Mitarbeiter des Wirtshauses Moorlake, des Blockhauses Nikolskoe und des Restaurants Pfaueninsel an dem Fähranleger brachten ebenfalls keine Erkenntnisse. Und der Ordner mit den Vermisstenmeldungen half auch nicht weiter. Selbst die Nachforschungen bei Interpol verliefen ergebnislos. Niemand schien die Frau zu vermissen. Nach sechs erfolglosen Monaten hatte Keunitz schließlich die Anweisung gegeben, die Akte vorerst im Fach für nasse Fische verschwinden zu lassen. Ein weiterer Fall, der auf eine geniale kriminalistische Eingebung oder einen Zufall wartete. Seitdem ruhte die Unbekannte auf dem Friedhof Schöneberg. Der kleine Stein am Kopf des Grabes trug nur eine Nummer.

Dass der Verfassungsschutz die Tote nun mit Wilfried von Thalmann in Zusammenhang brachte, war kein Zufall, das wusste Kappe. Man hatte einem blinden Huhn ein Korn zugeworfen.

Am Nachmittag kehrte Otto Kappe in sein Büro zurück. Auf seinem Schreibtisch fand er eine schmale Akte, einen kurzen Bericht über Wilfried von Thalmann, geborener Böttcher. Galgenberg hatte die Unterlagen wie immer akkurat zusammengetragen. Daneben lag ein Zettel: Bin in der Stadtbibliothek, Zeitschriften schmökern. Und dann ist Wochenende!

Kappe wusste, am Montag würde sein Kollege eine erlesene Sammlung von Zeitungsartikeln vorlegen, denen eines gemeinsam sein würde: Sie würden reißerisch über Wilfried von Thalmann berichten. Neugierig nahm er die Akte in die Hand und begann zu lesen.

Wilfried Böttcher, 1935 in Guben geboren, lebte seit 1955 in West-Berlin. 1962 war er als 26-Jähriger von Nora von Thalmann adoptiert worden. Es folgten Angaben über seinen Wohnort in Alt-Lübars und das Register seiner Straftaten. Otto Kappe überflog die Liste kleinkrimineller Vergehen: Diebstahl, Hehlerei, Betrug, Körperverletzung … Das war nichts Besonderes, auffällig erschien ihm nur, dass keines der eingetragenen Delikte direkt mit Fluchthilfe in Verbindung stand. Lediglich ein Eintrag aus dem letzten Jahr deutete auf ein Passvergehen oder etwas Ähnliches hin. Es hieß, dass gegen Thalmann Ermittlungen wegen Urkundenfälschung eingeleitet worden seien. Allerdings waren die Untersuchungen wegen Geringfügigkeit eingestellt worden.

Strafrechtlich ließ sich Wilfried von Thalmann nicht beikommen. Es bedurfte weiterer Informationen. Wenn der Verfassungsschutz seine Finger im Spiel hatte, musste er mehr über den schönen Willi wissen. Kappe erinnerte sich, von einem Mitarbeiter des Verfassungsschutzes gehört zu haben, der Kontakt zur Fluchthelferszene hielt. Glaubte man den Gerüchten, leitete dieser nicht nur relevante Informationen, sondern auch Geld, das er von dritter Seite erhielt, an die einzelnen Fluchthelfergruppen weiter. Der Mann agierte unter einem Decknamen. Wenn Kappe seinem Gedächtnis vertrauen durfte, lautete dieser Merlin.

Otto Kappe nahm den Telefonhörer zur Hand und ließ sich zu Kriminalrat Keunitz durchstellen. Sein Vorgesetzter wollte, dass er Dreck aufwirbelte, also musste er ihm auch das nötige Werkzeug zukommen lassen.

VIER

Sonnabend, 20. Juni 1970

MAJOR GERALD SCHWARZ machte es sich so bequem wie möglich auf dem durchgesessenen Sofa in der Dunckerstraße, zweiter Hof, Seitenflügel, in Prenzlauer Berg. Die Wohnung im fünften Stock des heruntergekommenen Hauses lag direkt unter dem Dach, war schlicht eingerichtet und existierte offiziell nicht im Register des Amtes für Wohnungswesen in Ost-Berlin. Zuweilen schliefen hier Personen, die im Auftrag der Staatssicherheit handelten. Dass die Wohnung für konspirative Zwecke genutzt wurde, wussten die Bewohner, dennoch schwiegen sie. Niemand hatte das Bedürfnis, auf sich aufmerksam zu machen oder wegen allzu offensichtlicher Neugier ins Fadenkreuz von Horch und Guck zu geraten. Bekamen Bewohner des Hauses Besuch, wurde dieser ordnungsgemäß im Hausbuch eingetragen.

Major Schwarz blätterte in dem Buch und prüfte all jene Personen, die länger als drei Tage zu Besuch in der DDR waren. Er studierte den Namen, das Geburtsdatum, die Staatsbürgerschaft, die zurzeit ausgeübte Tätigkeit und die Anschrift. Alles schien seine Richtigkeit zu haben. Einzig eine Besucherin aus Berlin-Steglitz fand sein Interesse. Eine ältere Dame, die zur Beerdigung ihrer Schwester eingereist war, hatte bei ihrem Bruder übernachtet. Offensichtlich war es der Steglitzerin gelungen, eine der seltenen Ausnahmegenehmigungen zu erhalten, die man in solchen Fällen erteilte. Passierscheine für den Besuch von Familienmitgliedern gab es schon seit 1966 nicht mehr. Wenn es nach Schwarz ging, konnte das so bleiben. Großzügigkeit führte nur dazu, dass wieder ein paar Unbelehrbare illegal die DDR verließen. Er notierte sich den Namen der Frau und das Datum des Grenzübertritts. Die Meldung von Nicht-DDR-Bürgern bei der Volkspolizei musste innerhalb von 24 Stunden erfolgen. Er würde das prüfen lassen.

Als Sonderbeauftragter einer Gruppe ausgesuchter Mitarbeiter war Major Schwarz der Abteilung Infiltration des Ministeriums für Staatssicherheit zugeordnet worden und koordinierte geheime Maßnahmen, die die Aktivitäten der Fluchthelferszene unterminierten. Offiziell existierte die Gruppe nicht. Regeln gab es auch keine. Die einzige Vorgabe, die er zu erfüllen hatte, war, Erfolg zu haben. Selbst innerhalb des MfS wusste kaum jemand von dieser Abteilung. Schwarz war allein dem Chef der Staatssicherheit Erich Mielke Rechenschaft schuldig.

Die Arbeit seiner kleinen Gruppe war überaus erfolgreich. Erst im März hatte ihn ein Kontaktmann aus Westdeutschland über die Fluchtabsicht eines renommierten Physikers informiert. Geplant gewesen war, dass der Mann am letzten Tag der Leipziger Messe im Gehäuse einer Werkzeugmaschine außer Landes gebracht werden sollte. Eine herausragende Kapazität, auf die der sozialistische Staat nicht verzichten konnte. Bei der Kontrolle des Lastzugs am Grenzübergang Wartha hatten Grenzschützer den Republikflüchtling scheinbar zufällig entdeckt. Tatsächlich war Major Schwarz bis ins kleinste Detail über den illegalen Grenzübertritt informiert gewesen. Datum, Uhrzeit, Wagentyp, Nummernschild und selbst der Führer des Lastzugs waren bekannt. Ein Wachhund hatte beim Vorbeigehen angeschlagen. Dass der trainierte Hund das immer tat, wenn er einen bekannten Summton hörte, der per Knopfdruck ausgelöst wurde, war eines der strenggehüteten Geheimnisse der Abteilung Infiltration. Bei der anschließenden Kontrolle hatten die Grenzschützer den Physiker aufgespürt. Er war mit erhobenen Händen abgeführt worden. Der Fahrer ebenfalls. Für den jungen Schwaben war es sein erster Auftrag gewesen. Der kaum Dreißigjährige wurde vor Gericht gestellt und bekam wegen verbrecherischen Menschenhandels zwölf Jahre aufgebrummt.

Als die Klingel kurz und energisch meldete, dass sein Gast vor der Tür stand, schlug Major Schwarz das Hausbuch zu, legte es auf die Anrichte und öffnete die Haustür. Sobald er den Besucher erkannte, blickte er unzufrieden auf die Uhr. «IM Gensfleisch, Sie sind spät dran! Gab es Probleme?»

«Den IM können Sie sich sparen!» Der Angesprochene holte tief Luft. «Lief alles wie abgesprochen. Fast.»

Schwarz wusste, dass sich sein Gast über die Begrüßung ärgerte. Zwar hatte dieser ihn mehrmals darum gebeten, niemals mit seinem echten Namen angesprochen zu werden, was der Major durchaus respektierte, aber ab und an erschien es Schwarz sinnvoll, den Spitzel an seine Abhängigkeit zu erinnern. Mit müder Geste bat er ihn herein. «Was meinen Sie mit fast

 

«Es gab eine kleine Schrecksekunde, weil der Grenzer meine Aktentasche durchsuchen wollte. Glücklicherweise hat sein Vorgesetzter mich durchgewunken.»

«Na, dann ist doch alles perfekt. Haben Sie die Ausweise dabei?»

«Warum sollte ich denn sonst hierhergekommen sein? So viel Grau – da bekommt man Depressionen. Und dieses Loch hier ist ja wohl das Letzte!» Angewidert schaute sich Gensfleisch um und schüttelte den Kopf. «Wenn ich auf dieser Seite des Eisernen Vorhangs leben müsste, würde ich auch abhauen.» Dann legte er fünf Personalausweise auf den Tisch. Vier waren ausgestellt auf männliche Personen mittleren Alters, einer war für eine Frau, die im vergangenen Monat ihren 22. Geburtstag gefeiert hatte.

Langsam und gewissenhaft blätterte der Stasi-Offizier jeden einzelnen Pass durch. «Den hier behalte ich ein», entschied Major Schwarz in einem Ton, der keinen Widerspruch duldete. «Die der Männer können Sie verwenden.»

«Dachte ich mir», erwiderte Gensfleisch. «Manchmal glaube ich, in den einschlägigen Etablissements rund um den Kurfürstendamm arbeiten nur noch Kommunistinnen. Beine spreizen für den Sieg der Weltrevolution. Ich habe schon ernsthaft daran gedacht, ob ich einen freundlichen Gruß von Ihnen ausrichte und um Rabatt bitte», sagte er albern. Sein Lachen erstarb aber sofort wieder.

Der Stasi-Offizier wippte ein wenig auf den Zehenspitzen und schaute sein Gegenüber abfällig an. «Lieber Freund, unterlassen Sie diese dummen Bemerkungen! Für wen sind die Pässe gedacht?», erkundigte er sich und wies auf die verbliebenen vier Ausweise. Aus seinem Aktenkoffer nahm er einen kleinen Fotoapparat und begann, jeden einzelnen Pass abzulichten. Den Zettel mit den Namen beachtete er vorerst nicht. «Gensfleisch, ich frage mich, was Sie mit den Ausweisen anfangen wollen. Die Grenze ist dicht. West-Berliner können schon seit Jahren nicht in die Hauptstadt der DDR. Einem Bürger der DDR den Ausweis eines West-Berliners zu geben, der ihm ähnlich sieht, damit er widerrechtlich die Grenze passieren kann, ist schon lange nicht mehr möglich. Private Besuche haben wir aus gutem Grund unterbunden. Abgesehen davon, heute verwenden wir Visa.»

Gensfleisch schien die Bemerkung zu amüsieren. «Wer redet denn vom kleinen Grenzverkehr? Ein bisschen mehr Fantasie, Genosse Major! Die Welt ist groß. Kein West-Berliner verbringt seinen Urlaub freiwillig in Ost-Berlin oder gar in Ihrer geliebten DDR. Glücklicherweise gibt es eine Menge Ostblockstaaten, die sich über devisenstarke Urlauber freuen. Zollbeamte lernen dazu, Fluchthelfer aber auch. Visastempel nachzumachen ist nun wirklich kein Problem. Über den Versuch Ihrer Behörde, das Fälschen von Pässen durch den Wechsel der Stempelfarbe zu erschweren, können Fluchthelfer nur lachen. Es gibt keine Farbe, die nicht gefälscht werden kann. Das Informationssystem ist perfekt. Welche Farbvariante ungarische, bulgarische oder jugoslawische Beamte morgens auch immer festlegen, sie ist spätestens eine Stunde später bekannt.»

Einen Augenblick lang hörte Major Schwarz auf zu fotografieren. Er ließ sich die Informationen durch den Kopf gehen. Dass die Stempel erst kurz vor der Ausreise gefälscht wurden, war ihm neu. «Interessant, Ihnen zuzuhören!», bemerkte er erfreut und lichtete den nächsten Ausweis ab. Als er fertig war, gab er Gensfleisch die Pässe zurück und hielt ihm die ausgestreckte Hand entgegen.

«Hat nicht euer Marx auch von Angebot und Nachfrage gefaselt? Ausweispapiere bringen auf dem Schwarzmarkt inzwischen gut und gern eine vierstellige Summe. Ein Pass weniger schmälert meinen Gewinn erheblich. Ein kleiner Abschlag wäre angemessen, oder?», bemerkte Gensfleisch. Offensichtlich wollte er die gute Laune seines Führungsoffiziers ausnutzen. «Einen Ausweis einzubehalten und trotzdem die gesamte Prämie zu verlangen empfinde ich nicht gerade als fairen Handel.»

«Seien Sie nicht so kleinlich! Wenn die Preise steigen, profitieren Sie schließlich davon. Zur Erinnerung: Wir haben genug Material gegen Sie in der Hand. Oder verlangt es Sie nach einer Einraumwohnung im ‹Gelben Elend› wegen verbrecherischen Menschenhandels, Gensfleisch?», drohte der Major beiläufig.

Der Hinweis auf das berüchtigte Gefängnis in Bautzen ließ den inoffiziellen Mitarbeiter einen Augenblick verstummen. «Mit Ihnen zu verhandeln ist immer wieder eine große Freude», sagte er schließlich betont gelassen und legte den verlangten Umschlag in die Hand von Major Schwarz. Dann schob er den Zettel über den Tisch, auf dem jene Personen aufgelistet waren, für die die Pässe gedacht waren. «Wäre schön, wenn das klappt.»

«Wir prüfen das», bemerkte der Major lakonisch. Sorgfältig steckte er den Umschlag mit dem Geld in den Aktenkoffer, nahm anschließend die Liste mit den Namen und überflog sie kurz. Lächelnd legte er sie ebenfalls in den Koffer, den er dann ordentlich schloss. «Vier Ausweise. Zwanzigtausend D-Mark. Möglicherweise mehr. Klingt nach einem guten Geschäft. Was machen Sie eigentlich mit dem ganzen Geld?»

Gensfleisch zuckte mit den Schultern. Die Frage war rhetorisch gemeint, eine Antwort erwartete Major Schwarz nicht. Er war zufrieden und im Begriff zu gehen. Dann erinnerte er sich daran, dass das Hausbuch noch auf der Anrichte lag. «Ich kann mich doch auf Sie verlassen, wegen des leidigen Problems?», fragte Gensfleisch mit ernster Miene.

Der Offizier der Staatssicherheit drehte sich langsam um und schaute sein Gegenüber mit unverhohlener Abscheu an. Er sprach es nicht aus, aber Verräter betrachtete er als Abschaum, selbst wenn sie der feindlichen Seite angehörten. Jemanden aus den eigenen Reihen ans Messer zu liefern widersprach seinem Kodex. «Die Genossen an der Grenze wissen Bescheid. Wir ziehen den Kerl aus dem Verkehr. Und Gensfleisch, die West-Berliner Kontaktnummer rufen Sie nur an, wenn ein Notfall vorliegt!»

Gensfleisch schien erleichtert zu sein.

«Viel Spaß im Hotel Unter den Linden. Sie nächtigen doch an der Friedrichstraße, oder? Ach, übrigens, die meisten jungen Damen, denen sie da begegnen, spreizen – wie formulierten Sie so treffend? – auch die Beine für den Sieg der Weltrevolution. Also Finger weg! Ihre Aufgabe ist die Schaffung operativer Voraussetzungen zur Kompromittierung der Führungskader der Feindorganisationen. Mit anderen Worten, die Damen akquirieren neues Personal.»

Gertrud Kappe nannte ihren Mann gern einen Süßschnabel, obwohl Otto Kappe selbst keineswegs der Meinung war, dass diese Bezeichnung auf ihn zutraf. Tatsächlich aber konnte er zu Kuchen schlecht Nein sagen. Erst recht nicht zu Schwarzwälder Kirschtorte.

Das Café Kranzler war gut besucht, und nur mit etwas Glück gelang es Otto Kappe, einen Tisch zu ergattern. Das Pärchen in dem bayerischen Trachtenverschnitt schaute pikiert auf den Berliner, der unerwartet flink das Geschirr der Vorgänger zusammenschob. Die bereits länger wartenden Touristen ignorierend, setzte sich Otto an den freien Tisch, stellte die Teller und Tassen gekonnt aufeinander, reichte sie dem Kellner und grinste frech über das ganze Gesicht. «Dit jeht hier nach de Müllermethode: Wer zuerst kommt, mahlt zuerst.»

«Saupreuß!», war der kurze und abfällige Kommentar des verärgerten Schluchtenjodlers – so, erinnerte sich Kappe, pflegte Galgenberg gern die Bayern zu bezeichnen. Otto ignorierte die Bemerkung wie auch Gertruds Kopfschütteln. Seine Frau schien zwar für den Tisch dankbar, schämte sich aber offenbar ein wenig für ihren Mann. Verärgert verließ das Trachtenpärchen die Terrasse, und Otto war sich sicher, dass die beiden an den Berlinern im Allgemeinen wie an ihm im Besonderen kein gutes Haar lassen würden. «Und grüß Jott, wennan seht!», murmelte Otto der Vollständigkeit halber.