Gefundenes Fressen

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»Einverstanden! Du bekommst das Geld. Zuerst will ich aber hören, was du liefern kannst.«

Der Punk rutschte aufgeregt auf seinem Stuhl hin und her, dann beugte er sich wichtig über den Tisch. Er flüsterte, als gebe es noch andere Ohren, die neugierig lauschten: »Der Junge is verjiftet worden. Ick weeß nich, warum, aber der hat garantiert von dit Hundefutter jenascht. Hab ick ooch schon mal versucht, is aber nich so meen Ding.«

Lucatelo rieb sich mit Daumen und Zeigefinger der rechten Hand über die Augen. Mit den Fingern der linken Hand klopfte sie auf dem Küchentisch einen bedrohlichen Rhythmus. »Das ist alles?«

»Dit Hundefutter is verjiftet! Kannste globen! Meene Theorie is: So een Scheißhundehasser hat det Zeug verteilt, und der Kleene hat einfach nur Hunger jehabt. Na, wat sachste? Is dit een Hunni wert oder nich?«

Augenblicklich arbeitete es im Kopf der Journalistin. Der Tipp war mehr wert als die einhundert Euro, aber das konnte ihr Informant nicht wissen. Es kam oft vor, dass genervte Bürger sich über Hunde und deren Hinterlassenschaften aufregten. Auch die Selbstverständlichkeit, mit der so mancher Besitzer seinen Liebling frei durch den Park spazieren ließ, stieß nicht bei allen auf Gegenliebe. Selten ging aber jemand so weit, Giftköder auszulegen, um seiner Abneigung gegen die vierbeinigen Plagen Ausdruck zu verleihen. Lucatelo wusste, dass als Köder gerne mit Rattengift versetzte Fleischklößchen benutzt wurden. Fraßen die Tiere davon, starben sie elend. Ihr waren auch Fälle bekannt, in denen Köder Stecknadeln oder Teile von Rasierklingen enthalten hatten. Für die Boulevardpresse war das stets ein dankbares Thema. Natürlich endete jeder der vor Mitleid triefenden Artikel immer mit der gleichen Spekulation: Was wäre, wenn ein Kleinkind einen präparierten Köder finden und verspeisen würde? Bei der Vorstellung, wie Tausende von gepamperten Babys durch die Berliner Parks robbten, auf der Suche nach der manipulierten Bulette, hatte Sigrid laut lachen müssen. Angst war immer ein guter Berater, wenn man die Meinungsbildung beeinflussen wollte.

Die Möglichkeit, dass ein Kind Opfer eines Hundehassers geworden war, hatte alles, was eine gute Story brauchte. Prenzelberger Kind durch Hundehasser ermordet, formulierte Sigrid Lucatelo in ihrem Kopf eine erste Schlagzeile. In Gedanken sah sie die vereinte Front der Hundeliebhaber und Kollwitzplatz-Mütter die Revolution ausrufen.

»Ein bisschen dünn, deine Geschichte«, presste sie schließlich durch die Lippen und blies den Rauch über den Tisch. Gekonnt legte sie jenes bedauerliche Lächeln auf, das jeden weiteren Verhandlungsversuch im Keim erstickte. »Hat die Polizei dich vernommen?«

»Keen Wort hab ick jesagt. Jedenfalls nich darüber. Der von den Bullen war een komischer Vogel. Wollt mir glatt zum Frühstück einladen, wenn ick wat Zweckdienliches beitragen könnte.«

»Hatte der Mann auch einen Namen?«

»Morjenstern oder so. Is so een Oberkriminaler.«

Der Punk merkte nicht, wie Sigrid Lucatelo sich versteifte. Ihre Augen wurden schmal. Die Wangenknochen traten hervor, und sie atmete langsam aus. Der Name Morgenstern war ihr ein Begriff.

»Wat is’n nu mit Jeld? Ick hab och noch een Joker. Du wirst ma lieben.« Der Punk fingerte in seiner Hosentasche herum und zog einen Zettel heraus. Er legte ihn stolz auf den Tisch. Auf dem Stück Papier stand die Adresse der Familie Eichner. Er hatte den Absender von jenem Brief abgeschrieben, der neben dem Jungen gelegen hatte.

»Hundert! Weil du mein Lieblingspunk bist. Aber die nächste Leiche meldest du zuerst mir! Danach kannst du von mir aus deinen Freund und Helfer anrufen.«

° ° °

Die Frau, die die Tür öffnete, mochte Mitte dreißig sein. Die Sorgen der letzten Nacht hatten Spuren in ihrem Gesicht hinterlassen.

Die beiden Kriminalbeamten zeigten schweigend ihren Ausweis. »Frau Eichner? Dürfen wir …«

Hinter ihr trat ihr Mann in die Tür. Auch ihm stand die Sorge um den Sohn ins Gesicht geschrieben. Zitternd legte er die Hände auf ihre Schultern. Die Frau nickte den beiden Beamten statt einer Antwort zu. Hans Morgenstern und Linda Mörike gingen langsam den Flur entlang. Sie wurden in die Küche geführt, einen kleinen, gemütlichen Raum, an dessen Wänden Urlaubsfotos und Zeichnungen hingen. Am Türrahmen konnte Morgenstern Striche erkennen, an denen jeweils ein Datum stand. Danach war Sebastian das letzte Mal vor drei Tagen gemessen worden. Morgenstern hätte gern ein Glas Wasser getrunken, aber das war jetzt unwichtig.

»Ich denke, es ist besser, wenn wir uns setzen«, begann er vorsichtig. Im selben Moment wurde ihm bewusst, dass auch jahrelange Erfahrung in einer solchen Situation nicht helfen konnte.

»Haben Sie ihn gefunden?« Die Stimme der Frau sollte fest klingen, was aber nicht gelang.

»Setzen Sie sich bitte!«

Die Frau überhörte seine Aufforderung. »Was ist mit Sebastian?« Ihre Hände umklammerten die Tischplatte. Sie schwankte.

Linda Mörike sah es und trat sicherheitshalber einen Schritt vor. Morgenstern wünschte sich weit weg. Er zögerte, als könnte sich doch noch alles als Irrtum erweisen.

Sebastians Mutter starrte ihn an. Sie wusste es. Ohne dass ein Wort über seine Lippen gekommen war. Nur glauben konnte sie es nicht. Wollte sie es nicht. Jede Faser ihres Körpers weigerte sich, das Unvorstellbare zu akzeptieren.

Morgenstern musste sie über den Tod ihres Kindes informieren. Ein offizieller Vorgang. Sein Job. »Es tut mir leid. Ich muss Ihnen die traurige Mitteilung überbringen, dass Ihr Sohn …«

Die Frau schüttelte energisch den Kopf. Sie griff in die Luft, als versuchte sie sich festzuhalten. Tränen liefen über ihr Gesicht. Sie schaute ihn an, verstand nicht, wollte nicht verstehen. Ihre Augen starben, und Morgenstern hasste sich plötzlich, hasste seinen Beruf – und beendete dennoch den Satz. »Sebastian ist … er ist … tot.«

Er bemerkte zu spät, dass ihre Beine nachgaben. Linda Mörike griff nach der Frau und verhinderte, dass sie zu Boden ging. Erst jetzt reagierte ihr Mann, nahm sie in den Arm, hilflos, auch er kaum verstehend, was geschehen war. Wut und Verzweiflung ließen den Körper seiner Frau zucken. Mit geballten Fäusten schlug sie um sich, kämpfte gegen einen imaginären Feind, und als dieser nicht zu stellen war, schlug sie auf ihren Mann ein. Sie hämmerte gegen seine Brust. Er hielt sie fest, wartete, bis ihre Kraft nur noch für Tränen reichte. Vorsichtig ließ er sie auf einen Stuhl gleiten und setzte sich daneben.

Morgenstern nickte Linda Mörike dankbar zu. Er ahnte, wie es in der jungen Kollegin aussah. »Es tut uns unendlich leid …«

Die Frau reagierte nicht.

»Was ist passiert?«, fragte Sebastians Vater mechanisch. Er hielt sich tapfer, versuchte, seine Emotionen zu beherrschen und der eigenen Verzweiflung keinen Raum zu geben.

Morgenstern schüttelte den Kopf und antwortete ehrlich: »Wir wissen es nicht. Alles deutet darauf hin, dass Sebastian durch Gift zu Tode kam. Eine Obduktion wird die offenen Fragen beantworten.«

»Gift?« Der Mann schaute die beiden Beamten ratlos an.

»Hat Ihr Sohn gern experimentiert? Hatte er einen Chemiebaukasten oder Ähnliches?«

Sebastians Vater schüttelte den Kopf.

»Freunde von ihm vielleicht?«

»Nicht, dass ich wüsste.«

Mühsam erhob sich Morgenstern. »Können wir uns Sebastians Zimmer ansehen?«

Der Raum war erstaunlich groß. An der linken Wand befand sich ein Hochbett. Darunter eine Arbeitsplatte, auf der Schulhefte und Bücher lagen. Alles war sorgsam aufgeräumt. Rechts neben der Tür stand ein antiker Wäscheschrank. Daneben eine alte Truhe, gefüllt mit Spielzeug. Den Fußboden bedeckte ein Teppich aus einem Wirrwarr gewebter Straßen und Plätze. Auf der anderen Seite drängten sich flache Regale mit Büchern, Spielen und Sportgeräten aneinander. An der Wand klebten einige Bilder, darunter eines von der Tour de France. Ein Mann stand in den Pedalen und kämpfte sich einen Berg hoch. An den Straßenrändern jubelten begeisterte Zuschauer. Im Hintergrund erhob sich der Gebirgszug der Pyrenäen. Es war das typische Zimmer eines Elfjährigen.

Auf der Rückfahrt schwieg Morgenstern. Mit starrem Blick konzentrierte er sich auf den Straßenverkehr. Erst als sie auf dem Hof des Landeskriminalamts anhielten und er den Motor abstellte, bemerkte er: »Sie haben gut reagiert. Es war mein Fehler. Ich hätte damit rechnen müssen, dass Sebastians Mutter zusammenbricht.« Er machte eine Pause und musterte die junge Polizistin genau, bevor er fragte: »Kommen Sie damit klar?«

Statt zu antworten, nickte sie kurz – und zu heftig.

Morgenstern ließ ihr ein paar Sekunden Zeit. Als ihr Schweigen fast unerträglich wurde, ergänzte er: »Normalerweise werden neue Kollegen sukzessive eingearbeitet. Sie wollen sofort das ganze Programm. Ihr Wunsch wurde mir mitgeteilt.«

Er legte erneut eine kurze Pause ein, ohne den Blick von ihr zu wenden. »Wie auch immer Sie es angestellt haben, den direkten Weg zur Mordkommission zu nehmen – passen Sie auf sich auf! Die Fäden, die einen halten, sind manchmal dünner, als man denkt. Sie sind sehr jung. Bürden Sie sich nicht zu viel auf!«

»Sie klingen wie mein Vater«, antwortete Linda Mörike schließlich und löste den Gurt.

Morgenstern zog den Autoschlüssel, machte aber keine Anstalten auszusteigen. Ohne sie anzuschauen, ergänzte er: »Da Naivität nicht Ihr Problem ist und Selbstüberschätzung offensichtlich auch nicht in Betracht kommt, frage ich mich, warum Sie sofort in die Mordkommission versetzt werden wollten.«

Linda Mörike schwieg wieder. Sie spürte, dass ihr Chef jede ihrer Regungen genau studierte. Was hätte sie antworten sollen? Dass sie den Berliner Polizeipräsidenten mit heruntergelassenen Hosen ertappt und die Gelegenheit genutzt hatte, ihr Anliegen durchzusetzen? Dass persönliche Gründe sie dazu antrieben, im LKA Berlin zu arbeiten? Niemand wusste, was sie hier tatsächlich wollte. Der einzige Mensch, der sie hätte verstehen können, war vor Jahren gestorben. Ihre Mutter. Da war sie kaum sechzehn Jahre alt gewesen. Die Mutter hatte ihr Geheimnis nicht mit in den Tod genommen. »Ich liebe ihn, aber er ist nicht dein Vater.« Aus den letzten blassen Sätzen hatte Linda erfahren, dass ihr richtiger Vater Kommissar einer Mordkommission war, in Berlin. Aber sie hatte keinen Namen, keine Beschreibung, kein Detail, das ihr weiterhelfen konnte.

 

Linda Mörike öffnete die Wagentür und stieg aus. Morgenstern würde sich mit den Informationen zufriedengeben müssen, die in ihrer Akte standen.

Einen Moment lang starrte sie auf die Fassade des Gebäudes. Hinter einem der Fenster saß ein Mann, der von ihrer Existenz nichts wusste. Sie würde ihn ausfindig machen. Linda hatte sich nach dem Tod der Mutter geschworen, ihren Erzeuger zu finden.

Die erste Meldung in den Nachrichten sprach vorsichtig von einem toten Kind, das im Ortsteil Prenzlauer Berg im Hundeauslaufgebiet des Mauerparks gefunden worden sei. Der Nachrichtensprecher las den Text sachlich vor: »Die Umstände, die zum Tod des Kindes geführt haben, sind derzeit noch unklar. Die Kriminalpolizei hat die Ermittlungen aufgenommen.«

Gegen 20 Uhr wurde in der Online-Ausgabe der Berliner Allgemeinen eine kurze Nachricht veröffentlicht:

Bei der im Mauerpark gefundenen Kinderleiche handelt es sich wahrscheinlich um den vermissten elfjährigen Sebastian E. aus Prenzlauer Berg. Alles deutet darauf hin, dass der Junge vergiftet wurde. Weitere Informationen entnehmen Sie der morgigen Printausgabe.

Gegen 22 Uhr beendete Morgenstern seinen Bericht. Wie immer zu Beginn neuer Ermittlungen hatte er ausführlich alle in die Wege geleiteten Maßnahmen dokumentiert. Der Ordner war angelegt, alle Formblätter waren ausgefüllt und die ersten Erkenntnisse notiert. Viel gab es noch nicht. Das würde sich in den nächsten Tagen ändern. Das Räderwerk hatte begonnen, sich in Bewegung zu setzen. Vorerst bestand der Kreis der ermittelnden Beamten aus wenigen Kollegen, auf die Morgenstern sich verlassen konnte. Die einzige Ausnahme war Linda Mörike, die er schwer einschätzen konnte, geschweige denn, dass sie ihm sonderlich sympathisch erschien.

Missmutig schaute er auf die Uhr, dann auf ihre Personalakte. Der Tag war sowieso hinüber.

Neben den persönlichen Daten fanden sich ein paar Zeugnisse, die alle durchweg beeindruckend waren, ihn aber nicht interessierten. Praktische Erfahrungen besaß sie nicht, sah man von einem vierteljährigen Praktikum bei den Kollegen des Rauschgiftdezernats ab. Auch die Beurteilung dieser Dienststelle war überaus positiv. Grundsätzlich beachtete Morgenstern solche Einschätzungen wenig. Seine Erfahrung hatte ihn gelehrt, dass erst die Praxis darüber entschied, ob jemand für den Beruf geeignet war. Zu oft hatte er erlebt, dass gutausgebildete Berufsanfänger dem Druck nicht standhielten.

Linda Mörike stammte aus Niederkrüchten, einem kleinen Ort am Niederrhein nahe der holländischen Grenze. Mönchengladbach lag nicht weit entfernt.

Morgenstern ließ die Akte im obersten Schubfach verschwinden und schaute sich noch einmal um. Als das Telefon klingelte, erschrak er heftig, weniger wegen des lauten Tons als wegen der Tatsache, dass ihn um diese Zeit überhaupt noch jemand anrief. Er erkannte die Nummer auf dem Display und überlegte, ob er überhaupt rangehen sollte. Nach dem dritten Klingeln nahm er den Hörer ab.

»Morgenstern. Mordkommission.«

»Lucatelo. Sigrid Lucatelo. Guten Abend, Herr Kommissar!«

Er verdrehte genervt die Augen. Unter allen Journalisten, die ihm suspekt waren, nahm Lucatelo die unangefochtene Führungsposition ein. »Was wollen Sie?«

»Ich schreibe einen Artikel über den toten Jungen im Mauerpark. Kurze Frage: Können Sie bestätigen, dass er Opfer eines Hundehassers geworden ist?«

Als Morgenstern kurz vor Mitternacht seine Haustür öffnete, war noch viel Bewegung auf der Stargarder Straße. Studenten, Lebenshungrige und Touristen nutzten die warmen Nachtstunden und saßen vor den Lokalen. In einem Restaurant gegenüber der Gethsemanekirche kreischten einige Frauen vor Begeisterung über einen gelungenen Witz. Musik war zu hören. Ein paar Betrunkene ernannten kurzerhand die Straße zur Fußgängerzone und verlangten den Autofahrern einige Geduld ab. Die jungen Männer grölten laut, während sie sich schwankend in Richtung Bahnhof Schönhauser Allee bewegten. Ein alter Mann, dessen Kleidung seinen verwahrlosten Zustand verriet, und sein ebenfalls in die Jahre gekommener Hund schlurften am Zaun der Gethsemanekirche entlang. Vorsichtig trug der Alte einen zugeknoteten Plastikbeutel. Er war einer der wenigen, die den Haufen seines Vierbeiners wie selbstverständlich entsorgten. Bevor er die Tüte wegwarf, stocherte er mit einem Stock in dem Müllbehälter herum, in der Hoffnung, eine Pfandflasche zu finden. Enttäuscht ging er weiter.

Es war ein typischer Abend im Kiez, und wenn Morgenstern nicht so müde gewesen wäre, hätte er noch ein Bier in seiner Lieblingskneipe »Eselsbrücke« getrunken.

Die Wohnungstür fand er unverschlossen vor. Anna lag zusammengerollt in seinem Bett und atmete leise. Er setzte sich neben sie und genoss den Duft, der ihren Körper so anziehend machte. Vorsichtig strich er ihre Haare zur Seite und küsste sie auf den Nacken. Liebevoll ließ er die Hand über ihren Rücken gleiten. Sie rührte sich nicht. Er würde sie nicht wecken. Auch wenn es warm war, deckte er sie sorgfältig zu, um sich dann langsam zu erheben.

»Wehe!«, flüsterte sie. »Wage nicht wegzugehen! Mir gehören noch elf Minuten. Noch ist Sonntag. Mein Sonntag. Also weiterstreicheln! Etwas weiter links unter dem Schulterblatt, und ein bisschen kräftiger, wenn ich bitten darf.«

Morgenstern kam sich hochgradig albern vor. Er saß nur mit Socken bekleidet im Bett. Seine Klamotten vereinten sich zu einem wirren Haufen auf dem Boden. Anna hatte sie dort achtlos hingeworfen. Kissen und Decken bildeten ein Gebirge am Fußende des Bettes. Das Einzige, was ihm geblieben war, um sein Gemächt zu bedecken, wie Anna kichernd seine Männlichkeit zu benennen pflegte, war ein prallgefülltes Kirschkernkissen. Sie hatte es ihm nach ihrem ersten gemeinsamen Wochenende geschenkt, in der festen Überzeugung, dass das ergonomische Gesundheitsvehikel half, sein nächtliches Schnarchen zu minimieren.

Anna hatte sich in den verbleibenden Sonntagsminuten nicht mit dem Streicheln der Rückenpartie zufriedengegeben. Morgenstern hatte es nicht gewagt, ein weiteres »Wehe!« zu provozieren, und sich trotz Müdigkeit um erheblich mehr als ihren Rücken gekümmert, und zwar ausgiebig. Inzwischen war seine Erschöpfung verflogen. Die Befürchtung, völlig übermüdet im Büro zu erscheinen, schob er beiseite. Annas Behauptung, dass er sich lediglich magere elf Minuten bemüht habe, glaubte er natürlich nicht. Da jedoch weder Armbanduhr noch Wecker verlässlich Auskunft geben konnten, denn beide Zeugen hatte sie vorsichtshalber mitgenommen, als sie vor ein paar Minuten in die Küche gegangen war, musste er den Beweis schuldig bleiben.

Das Klappern von Geschirr überzeugte Morgenstern, dass Anna nach dem angeblich so kurzen sinnlichen Scharmützel doch der Stärkung bedurfte. Sein männlicher Stolz war wiederhergestellt.

Tatsächlich brachte sie einen Teller mit, auf dem unterschiedlichste Salatblätter, zwei Sorten Tomaten, Scheiben einer ungeschälten Gurke, Sojasprossen und geviertelte Radieschen in einem Nest von Karottenraspeln angerichtet waren. Das Ganze hatte sie in Joghurtsoße ertränkt und mit gerösteten Pinienkernen verziert. Obenauf thronten scharf gewürzte Schafskäsewürfel und zwei Blättchen Basilikum. Anna stellte das Gesundheitsmonstrum auf den Nachtschrank, wechselte das Kirschkernkissen mit der Bettdecke, rückte an ihn heran und begann mit einem Heißhunger zu speisen, der Morgenstern immer wieder erstaunte.

»Mir ist so, als hättest du noch vor kurzem gepredigt, Salat am Abend schüre das Verdauungsfeuer unnötig.«

Anna verdrehte die Augen und ließ es sich schmecken. »Seit wann interessierst du dich überhaupt für ayurvedische Küche?«, murmelte sie mit vollem Mund. »Willst du mal kosten?«

»Ich hatte heute schon Leberwurst auf Grünkernpaste. Noch mehr Gesundes verträgt mein geplagter Körper nicht, fürchte ich.«

Sie kicherte. »Du siehst lächerlich aus mit den Socken.«

Morgenstern bewegte die Zehen und musterte seine Füße mit kritischem Blick. »Findest du? Ich dachte, du stehst total auf graumeliert.«

Anna kommentierte das nicht, stellte stattdessen den Teller auf den Nachttisch und küsste seine Schläfen, die er selbst als rauhaardackelfarben beschrieb.

»Du siehst müde aus. Habt ihr schon eine Spur?«

»Sicher scheint nur, dass der Junge an irgendeinem Gift gestorben ist. Morgen wissen wir mehr.«

Anna schwieg eine Weile, und Morgenstern spürte, wie sie noch ein bisschen dichter an ihn heranrückte.

Schon in der ersten gemeinsamen Nacht hatte sie darauf bestanden, dass er keine Geheimnisse vor ihr haben dürfe. Auch nicht, was die Arbeit anging. Geheimnisse führten zu Missverständnissen, Missverständnisse zu Missverstehen. Beide wussten das. Ihre Ehen waren daran gescheitert. Für Morgenstern und Anna war es die zweite Chance. Dennoch erzählte er nicht alles über seine Ermittlungen. Details waren tabu. Und Anna verstand durchaus, dass er ihre gemeinsame Zeit nicht durch die Schatten von Mördern, Vergewaltigern oder Pädophilen verdunkeln lassen wollte.

»Ich könnte das nicht. Ich würde es nicht übers Herz bringen, Eltern den Tod ihres Kindes mitzuteilen. Wie schaffst du das?«

Morgenstern schwieg. Anna schaltete das Licht aus und drehte sich um. Er legte seinen Arm um sie. Dann schlief er ein.

Montag, 9. Juni

Wenn Hans Morgenstern eine Tageszeitung benötigte, holte er sich die am Bahnhof Schönhauser Allee bei einem Straßenverkäufer. Meist kaufte er ein Produkt seriöser journalistischer Arbeit. Diesmal jedoch verlangte er die Berliner Allgemeine. Wie immer wurde ihm das gute Stück mit den Worten in die Hand gedrückt: »Allet klar, Herr Kommissar! Picke bleibt sauber!«

Vor Jahren hatte Morgenstern den Mann, der seit seiner Fußballzeit Picke genannt wurde, beim Einbruch in eine Kneipe erwischt. Dummerweise hatte Picke sein eigentliches Ziel aus den Augen verloren gehabt und sich durch die Bestände der Bar getrunken, statt die Kasse zu plündern. Allzu weit war er nicht gekommen, und das Bedürfnis zu schlafen war stärker gewesen als der Durst. Morgenstern war in jener Nacht spät nach Hause gekommen und hatte sich gewundert, dass die Tür der Kneipe offen stand. Er hatte Picke mit einer Flasche im Arm schnarchend auf dem Tresen vorgefunden. Morgenstern hatte den Wirt informiert, und beide hatten lachend ein paar Sessel zusammengeschoben und Picke seinem Rausch überlassen. Auf eine Anzeige hatte der Wirt verzichtet. Man kannte sich.

Seitdem fand man Picke jeden Morgen ab vier Uhr an seinem Platz auf der Eselsbrücke hinter dem S-Bahnhof Schönhauser Allee.

Als Kommissar Bruno Biondi am Montagmorgen Morgensterns Büro betrat, merkte er sofort, dass er seinen Chef in der denkbar ungünstigsten Laune antraf. Offensichtlich war das Studium der Tageszeitung schuld an dessen verbissenem Gesicht. Die Berliner Allgemeine hatte einiges an Unbeherrschtheit über sich ergehen lassen müssen und lag ramponiert auf dem Schreibtisch.

Sigrid Lucatelo hatte Wort gehalten und ihre Ankündigung vom Vorabend, die Öffentlichkeit über das Geschehen im Mauerpark zu informieren, in gewohnter Weise umgesetzt.

Hundehasser erklärt Berliner Hundebesitzern den Krieg Sebastian E. wurde Opfer eines Hundehassers! Musste erst ein Kind sterben, damit die Polizei die Gefahr ernst nimmt?

Am Sonnabendnachmittag starb der Neuberliner Schwabenjunge Sebastian E., elf Jahre, an einem präparierten Trockenfutter. Die Polizei geht von einem tragischen Unfall aus. Wie aus ermittlernahen Quellen zu erfahren war, wurde Sebastian der Anschlag eines fanatischen Hundehassers zum Verhängnis. Was genau passiert ist, steht derzeit noch nicht fest.

Tatsache ist jedoch, dass der Streit zwischen Hundeliebhabern und Hundehassern auf entsetzliche Weise eskaliert ist. Einmal mehr wird deutlich, dass eine überforderte Polizei nur noch dann agiert, wenn etwas wirklich Schreckliches geschehen ist.

 

Morgenstern war durchaus bewusst, dass es nicht Lucatelos Naturell entsprach, ausgewogen über einen Sachverhalt zu berichten. Ihre Taktik, den Tod des Jungen als Aufhänger für eine bestimmte Botschaft zu benutzen, machte den Kommissar jedoch wütend. Dass ein Kind umgekommen war, las sich bei ihr wie eine Mahnung an die Berliner Hundebesitzer, jetzt erst recht auf ihre Lieblinge zu achten.

»Ziemlich viel Detailwissen«, bemerkte Biondi, nachdem er den Artikel gelesen hatte. Er stellte seine monströse Teetasse auf den Schreibtisch. »Ich frage mich, woher sie das alles weiß. Offiziell ist keine Information rausgegangen. Und was sind ermittlernahe Quellen

»Lucatelo hat gestern am späten Abend noch angerufen. Sie wollte wissen, ob ich bestätigen kann, dass es sich bei dem Täter um einen Hundehasser handelt.«

»Und was hast du ihr gesagt?«

»Aus ermittlungstechnischen Gründen …«

Biondi atmete tief ein. »Das klingt nach Ärger. Lucatelo verfügt über Insiderwissen. Ich glaube aber nicht, dass sie das von einem unserer Kollegen hat.«

»Ich treffe mich heute Nachmittag mit ihr. Inoffiziell.«

Einen Augenblick schwiegen beide.

Bevor Biondi den zusammengerollten Laborbericht über den Tisch reichte, der in der vergangenen Nacht per Fax gekommen war, trank er einen großen Schluck Tee. »Es gibt noch weitere schlechte Nachrichten.«

Morgenstern überflog den Bericht, bis er die Zeile fand, welche die Todesursache nannte. »Zyankali?« Erneut überflog er ungläubig den Laborbericht. Es gab keinen Zweifel. Sebastian war mit Zyankali vergiftet worden. Die Rechtsmedizinerin Sonja Bubka hatte das Ergebnis in einem Satz zusammengefasst und unterstrichen.

»Kennst du dich mit …«, Morgenstern studierte skeptisch die Bezeichnung, » … Kaliumzyanid aus?« Er selbst glaubte sich daran zu erinnern, dass in einem Lehrgang des Bundeskriminalamtes die tödliche Wirkung mit dem gleichzeitigen Versagen von Leber, Herz und Nieren erklärt worden war. Außerdem wusste er, dass es sich um das Kaliumsalz der Blausäure handelte.

Biondi trank erneut einen Schluck Tee, bevor er sagte: »Ich habe ein wenig recherchiert. In den achtziger Jahren gab es eine ominöse Sterbehilfeorganisation, die ihren Mitgliedern Zyankalikapseln zur Verfügung gestellt hat. Den Mitgliedern wurde das Gift noch bis in die neunziger Jahre für gutes Geld frei Haus geliefert. Inge Meysel hat damit kokettiert.«

»Inge Meysel?«, wiederholte Morgenstern erstaunt und legte den Laborbericht so vorsichtig auf den Tisch, als bestehe die Gefahr, dass weitere schreckliche Details daraus hervortraten. Erst dann fragte er: »War das nicht die Mutter der Nation?«

»Jedenfalls liebte sie es, so genannt zu werden. Die alte Dame des Films hatte medienwirksam darauf verwiesen, einmal selbstbestimmt in den Tod gehen zu wollen. Bei einer unheilbaren Krankheit wähle sie den Freitod, hieß es. Angeblich hat sie um den Hals immer einen Schmuckanhänger getragen, in dem sich eine Kapsel befand.«

»Und wie starb sie?«, erkundigte sich Morgenstern, der ahnte, dass Biondi auch dieses Detail aus dem Internet bezogen hatte.

»Pflegebedürftig. Mit 94 Jahren.« Die Galionsfigur der humanen Sterbehilfe hatte sich am Ende eines erfüllten Lebens doch nicht selbst töten wollen.

Was Morgenstern allerdings mehr beschäftigte, war die Aussage der Kriminaltechnik. Im Magen des Jungen waren Reste einer Art Trockenmasse gefunden worden. Alles deutete darauf hin, dass es das Letzte war, was Sebastian zu sich genommen hatte. Neben diversen pflanzlichen Inhaltsstoffen hatten sich auch Substanzen nachweisen lassen, die unter dem Begriff »tierische Nebenerzeugnisse« zusammengefasst wurden. Das war alles andere als appetitlich. Diese Nebenerzeugnisse enthielten Schlachtreste aus Schweinefüßen, Lunge, Innereien und Knochenmehl – nicht unbedingt Bestandteile, die man im Magen eines elfjährigen Jungen vermutete. Das Labor war sich sicher, dass es sich bei dem Gemisch um Trockenfutter für Hunde handelte.

»Lucatelo kann den Bericht unmöglich gekannt haben«, sagte Morgenstern.

»Das sehe ich auch so«, bestätigte Biondi die Einschätzung seines Chefs. »Entweder hat sie einen siebten Sinn, oder sie weiß etwas, das wir nicht wissen.«

Der Rest des Laborberichts versprach, dass weitere Untersuchungen in den nächsten Tagen folgen würden. Die Experten hatten berechtigte Hoffnungen, die Marke des Hundefutters bestimmen zu können. Tierfutterproduzenten machten zwar ein Geheimnis aus ihren Rezepturen, die unterschiedlichen Zusammensetzungen ermöglichten jedoch eine genaue Differenzierung.

»Hat die Analyse der Fingerabdrücke etwas erbracht?«

Biondi trank den letzten Schluck Tee und stellte die Tasse auf den Tisch. Er war einer der wenigen Männer, die bewusst ihre zwei Liter Flüssigkeit gleichmäßig auf den Tag verteilt zu sich nahmen. »Auf dem Fahrrad befanden sich die Abdrücke Sebastians und die einer anderen Person, ich denke, gleichen Alters. Es sind eindeutig Fingerabdrücke kleiner Hände.«

»Gibt die Kleidung etwas her?«

»Die wird noch von der Kriminaltechnik untersucht. Vielversprechend sind einige Zeugenaussagen, wonach am Samstag drei Jungs gesehen worden sind. Ich habe alle Kollegen informiert. Dem Hinweis wird derzeit nachgegangen.«

»Gibt es schon Informationen aus dem Umfeld der Schule oder aus seinem Freundeskreis?«

»Sebastian war ein normaler Junge. Er gehörte zum guten Durchschnitt. Ruhig, fleißig, unauffällig. Er geht seit einem Jahr hier zur Schule. Unsere Neue trifft sich am späten Vormittag mit der Schulleiterin, um Genaueres zu erfahren.«

Wenn Biondi erwartet hatte, dass sein Chef den Einsatz Linda Mörikes missbilligend zur Kenntnis nehmen würde, hatte er sich getäuscht. Morgenstern stand auf und holte aus dem obersten Fach des Aktenschranks nachdenklich ein Schraubglas mit löslichem Kaffee. Er schaltete einen historischen Wasserkocher an, Modell fünfziger Jahre, und dachte nach. »Hast du eine Ahnung, wie man an Zyankali herankommt?«

Biondi schüttelte den Kopf. Es war jedoch ein zögerliches Schütteln, ein klares Jein. »Offiziell hat man keine Chance. Vielleicht kann man es sich in der Industrie besorgen, in der Galvanik zum Beispiel. Auch Apotheker könnten Zugriff darauf haben. Über den Schwarzmarkt ist es sicherlich auch zu haben«, gab Biondi zu bedenken.

»Untersuch das bitte!«, wies Morgenstern an und goss das sprudelnde Wasser in die Tasse.

»Ihr erstes Kind?«

Die Frage traf Linda Mörike wie ein Faustschlag. Der Mann, der sie gestellt hatte, schaute ernst auf das herausgezogene Fach im Kühlraum der Pathologie. Linda hatte nicht bemerkt, dass jemand hinter sie getreten war.

»Ich habe immer Angst, dass es ein Kind ist«, fuhr der Mann fort und führte langsam die geschlossene Hand an den Mund. Verhalten räusperte er sich, als sei er in einer Opernaufführung, und ergänzte leise: »Entschuldigen Sie, ich habe mich gar nicht vorgestellt. Johannes Manthe, Polizeipsychologe, Seelenklempner, Ersatzpapa oder was immer Sie wollen. Hans Morgenstern hat mich gebeten, nach Ihnen zu sehen.«

Linda reagierte mit einem ungläubigen Kräuseln der Stirn. Die Antwort, die ihr auf den Lippen lag, schluckte sie lieber hinunter. Es war wenig ratsam, sich in der ersten Woche ihres Dienstes noch mehr Feinde zu machen.

»Er sagte mir, dass ich Sie hier finde«, ergänzte Manthe.

Langsam deckte Linda das Gesicht des Jungen zu und schob anschließend das Schubfach zurück, bis ein Klicken bestätigte, dass der zarte Körper wieder dem Frost überantwortet war. Sie versuchte selbstbewusst zu wirken, als sie mit ausladenden Schritten den Raum verließ. Erst im Flur merkte sie, dass sie zu atmen vergessen hatte. Ihre Lungen verlangten nach Luft. Noch im selben Augenblick war ihr bewusst, dass das dem Psychofritzen nicht entgangen sein konnte. Wütend richtete sie den Blick auf ihn.

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