Gefundenes Fressen

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Kuhnert war sich bewusst gewesen, dass ein Film, auf You Tube gestellt, sehr wahrscheinlich das Ende seines politischen Aufstiegs bedeutet hätte. Er war Pragmatiker und stand vor dem wichtigsten Schritt seiner Karriere.

Linda Mörike hatte ihn, einer Eingebung folgend, in dem Glauben gelassen, aufgenommen worden zu sein, zumal er für die Ablehnung ihrer Bewerbung bei der Mordkommission verantwortlich war.

Sie hatte amüsiert beobachtet, wie die Pressesprecherin des LKA bemüht gewesen war, Contenance zu wahren. Jede Hektik vermeidend, hatte Greta Engholm ihre Haare gerichtet, mit zittrigen Händen die Knöpfe ihrer Bluse geschlossen und den Rock geradegestrichen. Dann war sie pikiert auf ihren beeindruckenden Highheels aus dem Büro stolziert.

»Bei einer Direktwahl könnten Sie sich meiner Stimme sicher sein«, hatte Linda ironisch bemerkt, als sie allein gewesen waren.

Kuhnert hatte ungehalten abgewinkt und ein paar Sekunden vergehen lassen, bevor er geantwortet hatte. Wahrscheinlich hatte er sicherstellen wollen, dass sein Hirn wieder vollständig durchblutet wurde.

»Ich erspare uns die ›Es ist nicht so wie Sie denken‹-Peinlichkeit.«

»Danke! Ich frage auch nicht, wie es Ihrer Frau und den lieben Kleinen geht.«

Seine Augen hatten gefährlich aufgeblitzt. »Machen wir es kurz! Bei der Verbesserung meiner Lebensqualität erwischt worden zu sein degradiert mich zum Rumpelstilzchen. Ich schulde Ihnen einen Gefallen. Sie sind eine aufstrebende, taffe junge Frau mit hervorragenden Leistungen, und Sie wollen, kaum dass Sie Ihre Ausbildung beendet haben, in der Berliner Mordkommission arbeiten. Habe ich das richtig in Erinnerung?«

»Exakt! Nur haben Sie mein Anliegen abgelehnt.«

Kuhnert hatte einen Augenblick gewartet und dann gönnerhaft geantwortet: »Ihr Wunsch sei Ihnen erfüllt!«

Ein Dank war Linda nicht über die Lippen gekommen.

Er hatte nach der Türklinke gegriffen und ihr in die Augen geschaut. Mit festem Blick, der hatte ahnen lassen, wie er üblicherweise mit Gegnern umzugehen pflegte, hatte er gefragt: »Habe ich Ihr Wort, dass von dem … Personalgespräch mit der Pressereferentin nichts an die Öffentlichkeit dringt?«

Drei Wochen nachdem Ralf Kuhnert seine Ernennungsurkunde zum kommissarisch eingesetzten Polizeipräsidenten in den Händen gehalten hatte, war der Versetzung Linda Mörikes entsprochen worden, gegen den Widerstand des Chefs der Abteilung LKA 1 Max Herting. Am vergangenen Freitagnachmittag hatte sich Linda Mörike in der Keithstraße 30, Berlin-Tiergarten, gemeldet. Noch immer klangen Hertings Worte in ihren Ohren: »Mein liebes Fräulein!«

Der Leiter des LKA 1 hatte tatsächlich »Fräulein« gesagt, als redete er mit einem der Hunde, die er in seiner Freizeit züchtete, bezeichnenderweise Riesenschnauzer.

»Wie auch immer Sie es angestellt haben, die Stelle bei der Mordkommission zu bekommen – beim ersten groben Fehler, der Ihnen unterläuft, versetze ich Sie in den Innendienst. Da können Sie dann Rotlichtvergehen bearbeiten, bis Sie grün sind.«

Als Rotlichtvergehen wurden die Delikte jener Autofahrer bezeichnet, denen es an Kreuzungen und Gehwegen an Geduld mangelte. Herting hatte jedes freundliche Wort vermieden und Linda Mörike nur den Namen ihres Mentors genannt: Hans Morgenstern. Er würde sich um sie kümmern.

Ein Geräusch riss sie aus ihren Gedanken. Die Katze spitzte wachsam die Ohren. Als Linda endlich das Smartphone in einer der vielen Taschen ihrer Angeljacke gefunden hatte, war schon geraume Zeit vergangen.

»Hallo?«

»Mörike, sind Sie es?«

Sie wusste genau, wer an der anderen Seite der Leitung sprach. Dennoch konnte sie der Versuchung nicht widerstehen. »Mit wem spreche ich?«

»Lassen Sie den Scheiß! In dreißig Minuten am Hundeauslaufgebiet im Mauerpark. Melden Sie sich bei Morgenstern! Es gibt Arbeit.«

Das Gespräch war beendet.

Vom Ufer der Spree in Köpenick bis zum Mauerpark in Prenzlauer Berg brauchte man selbst bei wenig Verkehr vierzig Minuten. Verzweifelt schaute Linda erst an sich herab und dann zu der Katze hinüber, die noch immer darauf zu warten schien, dass sich ein weiterer Fisch ihrer erbarmte.

»Das schaffe ich niemals!«

Kommissar Bruno Biondi stand, in eine hautenge Jeans und ein farblich zum Gürtel passendes T-Shirt gekleidet, in der Mitte des Hundeauslaufplatzes im Mauerpark. Wie immer war er perfekt gestylt, getreu dem Motto: Dem Mann deiner Träume kannst du an den unmöglichsten Orten begegnen. Bisher waren seine Bemühungen, einen Partner zu finden, allerdings erfolglos geblieben. Als er den Leiter der Mordkommission entdeckte, tippelte er vorsichtig über den verwilderten Platz. Ob er Hundehaufen oder anderen Bedrohungen auswich, konnte Kriminalhauptkommissar Morgenstern nicht erkennen. Allerdings musste er alle Register der Beherrschung ziehen, um nicht laut loszulachen. Beide Hände leicht gespreizt, auf gleicher Höhe mit den Schultern, als steige er in kaltes Wasser, bemühte sich Biondi, unbeschadet das Eingangstor des Hundeauslaufplatzes zu erreichen. Die Angst, eine der »Tretmienen« zu übersehen, wie er die Hundehaufen nannte, stand ihm deutlich ins Gesicht geschrieben.

»Die Gerichtsmedizin ist gerade fertig geworden. Der Tatort ist freigegeben«, bemerkte Biondi und drückte die Hand seines Chefs wie gewöhnlich einen Deut zu fest, als gelte es, den Nachweis der Männlichkeit zu erbringen. Dann ging er voraus, um Morgenstern den Fundort der Leiche zu zeigen.

»Wer hat Dienst?«

»Unsere allerliebste Matroschka!«

Morgenstern nickte zufrieden. Sonja Bubka verstand ihr Handwerk und erledigte die Arbeit leise und gewissenhaft. Sie würde sich bei ihm melden, sobald Ergebnisse vorlagen. Ihre russischen Wurzeln und die beeindruckende Körperfülle, bei übersichtlicher Größe, hatten ihr den Spitznamen Matroschka eingebracht.

Wie immer bei einem Todesfall hatten die Polizeibeamten das gesamte Terrain abgesperrt und mussten sich nun von wenig einsichtigen Bürgern wütende Bemerkungen gefallen lassen.

Der Junge lag quer über dem Pfad auf dem Rücken und schien in den blauen Himmel zu starren, als suchte er in den Wolkengebilden nach Phantasiegeschöpfen.

Ein paar Kärtchen mit Ziffern dokumentierten jene Stellen, an denen die Spurensicherung fündig geworden war. Routiniert machte ein Polizeifotograf Aufnahmen von einem demolierten Fahrrad. Bruno Biondi spulte nach einem Zeichen seines Chefs wie auf Knopfdruck eine erste Zusammenfassung herunter. Dabei wischte er über den Bildschirm eines iPad, um sicherzugehen, dass er auch keine Informationen vergaß.

»Der Junge wurde von einem Punk gefunden. Eigentlich mehr von dessen Hund. Der Typ lief seine übliche Runde, um Flaschen zu sammeln. Nach seiner Aussage hat er anschließend Freunde besuchen wollen, die sich hier regelmäßig zum Morgenbier treffen. Als er mal pissen musste – seine Worte –, habe der Hund plötzlich komisch gejault. Besorgt habe er nach Bastard, so heißt der Köter, geschaut und dabei die Leiche entdeckt. Fünf Minuten später waren die Kollegen vor Ort.«

Morgenstern drehte sich um und schätzte die Entfernung bis zum Eingangstor. Es konnten nicht mehr als zehn Meter sein. Außerdem wuchsen die Büsche hier nicht sehr hoch. »Woran ist der Junge gestorben?«

»Wahrscheinlich wurde er vergiftet. Genaueres wissen wir nach der Obduktion.«

Morgenstern schaute Biondi erstaunt an. »Deutet etwas auf Rauschgift hin?«

»Nach meinem Wissensstand wurde bisher nichts Derartiges gefunden«, verneinte Biondi.

Morgenstern rieb sich die Stirn und überlegte.

Noch bevor er etwas sagen konnte, fuhr Biondi fort: »Glasige Augen hatte der Hund nicht.«

»Der Hund von dem Punk?«

»Von Tierärzten weiß ich, dass die Jungs sich um ihre Tiere ausgesprochen liebevoll kümmern. Wir dürfen davon ausgehen, dass unser Punk ab und an sein Bier mit Bastard teilt. Aber dass beide gemeinsam auf eine psychedelische Reise gehen, können wir sicherlich ausschließen.«

Morgenstern verdrehte die Augen. »Ist der Mann noch da? Ich möchte gern mit ihm sprechen.«

»Er ist unten bei den Kollegen und klagt über seinen Umsatzausfall.«

»Wie bitte?«

»Es geht um die Flaschen, die ihm die anderen Sammler inzwischen weggeschnappt haben. Der Typ ist ein bisschen neben der Spur. Er will nicht gehen, bevor er Finderlohn bekommt.«

Dass jemand für den Fund einer Leiche Geld verlangte, ließ Morgenstern nur den Kopf schütteln. Er würde mit dem Kerl reden und ihm, wenn dabei etwas herauskam, ein Frühstück spendieren. »Ist schon ein Todeszeitpunkt bestimmt worden?«

Erneut wischte Biondi über das iPad, bis er die entsprechende Angabe fand. »Wahrscheinlich ist der Junge zwischen 12 und 19 Uhr am gestrigen Tage gestorben. Genau lässt sich das aufgrund der Hitze nur im Labor bestimmen.«

Morgenstern brauchte einige Sekunden, bis er begriff. »Im Mauerpark liegt fast einen Tag lang die Leiche eines Kindes – und niemand bemerkt etwas?«

»Die Eltern haben um 21 Uhr eine Vermisstenanzeige aufgegeben. Der Junge heißt Sebastian Eichner. Alles wurde nach Vorschrift behandelt. Das übliche Prozedere.«

Das übliche Prozedere bestand darin, ein Formular auszufüllen und die Eltern zu beruhigen. Mehr als einhunderttausend Vermisstenanzeigen gab es pro Jahr. Die meisten Gemeldeten waren Ausreißer und tauchten wieder auf.

»Seid ihr sicher, dass es sich um den vermissten Jungen handelt?«

»Wir haben einen Brief in der Tasche gefunden. Der Absender ist eindeutig …« Biondi brach ab.

Morgenstern wusste, dass sein Assistent selbst von einer Familie träumte. Biondi ließ keinen Zweifel daran, später einmal ein Kind zu adoptieren. Morgenstern hatte das mit Unverständnis zur Kenntnis genommen. Für ihn bestand die Familie aus Vater, Mutter und Kind. Dafür war er von Anna als hoffnungsloser Chauvi-Saurier bezeichnet worden.

 

Inzwischen transportierten Mitarbeiter der Gerichtsmedizin die Leiche ab. Auf dem Boden blieb nur die nachgezeichnete Kontur des toten Körpers übrig.

Morgenstern schaute sich um, wissend, dass es auf jedes Detail ankam. Auch wenn er es nicht hätte erklären können, sagte ihm sein Instinkt, dass etwas fehlte.

Weiter unten gab es Tumult. An der Polizeiabsperrung versuchte jemand, sich Zutritt zu verschaffen. Morgenstern, der nichts mehr am Tatort tun konnte, begab sich zu der jungen Frau, die ungewöhnlich gekleidet war und mit wütendem Gesicht einem Polizisten gestenreich etwas zu erklären versuchte. Biondi folgte ihm, dankbar, den Hundeplatz endlich verlassen zu können.

»Kann ich behilflich sein?«, fragte Morgenstern und schaute die Frau von oben bis unten an. Sie trug Anglerklamotten. Ein ausgeblichenes T-Shirt mit einem lachenden Hecht konnte an Lächerlichkeit kaum überboten werden. Die Hose, die mit einer Vielzahl von Taschen ausgestattet war, erinnerte an eine Kampfmontur. Außerdem trug die Frau Schuhe, die mit Metallgewebe verstärkt waren.

»Mörike. Kommissarin Linda Mörike. Ich soll mich bei meinem Vorgesetzten melden, Herrn Morgenstern. Aber dieser sture Kerl lässt mich einfach nicht durch.«

Der angesprochene Polizist hielt erneut die Hand vor ihren Körper, ohne sie zu berühren. Zweifelsfrei stand er regelmäßig wütenden Bürgern gegenüber. Mit der Zeit hatte er wie viele seiner Kollegen eine Art Lotuseffekt entwickelt, der alle Fragen und Beschimpfungen abperlen ließ.

»Können Sie sich ausweisen?«, fragte Morgenstern.

Die Frau schaute ihn entgeistert an. »Der Leiter des LKA 1 hat mich herzitiert. Ich werde erwartet.«

»Können Sie sich auswei …«

Sie unterbrach ihn. Morgensterns rechte Augenbraue zuckte kurz. »Wenn Sie mich nicht augenblicklich mit dem Leiter der Mordkommission reden lassen, garantiere ich Ihnen Ärger!«

Kriminalrat Max Herting hatte Morgenstern telefonisch davon in Kenntnis gesetzt, dass er ab Montag als Mentor eingesetzt sei. Morgensterns Protest hatte er mit dem Kommentar abgetan, er habe einen ganzen beschissenen Schrank voller Beschwerden. Die Anweisung komme vom Polizeipräsidenten persönlich. Eine Diskussion verbiete sich daher von selbst.

Hans Morgenstern betrachtete Linda Mörike und gab sich Mühe, ruhig zu antworten. »Für Sie Kriminalhauptkommissar Morgenstern. Und ehrlich gesagt, wollte ich mich erst ab Montag mit Ihnen herumärgern.«

° ° °

Die Greenline 33 Hybrid glitt langsam an der Schilfkante entlang, bis sie zum Stehen kam. Mit einer schwungvollen Bewegung warf Alexander Tibur den Anker in die Havel und wartete, bis die Strömung die Yacht in die richtige Position gedrehte hatte. Gekonnt band er das Tau fest.

Ian McCormik beobachtete interessiert das Geschick und die Ruhe seines Gesprächspartners.

»Would you like a drink?«, erkundigte sich Alexander Tibur.

»Wasser ist besser«, antwortete der Gefragte in einem perfekten, aber deutlich mit amerikanischem Akzent gesprochenen Deutsch.

Alexander Tibur nickte einer hübschen jungen Frau zu, die sofort in der Kajüte verschwand, um das Verlangte zu holen.

»Lassen Sie uns deutsch miteinander reden«, sagte McCormik. »Meine Mutter war Deutsche. Es wird mir guttun, meine Kenntnisse aufzufrischen.«

Schon bei der Begrüßung am Flughafen Tegel hatte der Vorsitzende von LuckyAnimals begriffen, dass er das Dossier einer New Yorker Kanzlei weitgehend als Makulatur betrachten konnte. Zwar hatten deren Wirtschaftsprüfer die Bilanzen der Tibur-Werke wie gefordert analysiert, ihre Beurteilung des Juniorchefs war jedoch ein Witz. Danach hatte McCormik ein Jüngelchen erwartet, das schnell zu Geld kommen wollte und sich mit Glasperlen zufriedengab. Jetzt musste er improvisieren und konnte von Glück reden, wenn es ihm gelang, Alexander Tibur in den nächsten Tagen zur Unterschrift unter den Übernahmevertrag zu bewegen.

Für die ökonomischen Parameter der Tibur-Werke hatte McCormik nur ein müdes Lächeln übriggehabt. Das waren sympathische Zahlen für ein mittelständisches Unternehmen. Dessen ungeachtet ging es um viel mehr. Der Hauptsitz der Tibur-Werke befand sich in Berlin. Produziert wurde an drei Standorten in Deutschland: Oldenburg, Schwarzenberg und Erlangen. In jeder Tierhandlung wurden Produkte der Firma Tibur als hochwertiges Premiumfutter angeboten. Seit der Gründung im Jahr 1955 hatte der Firmengründer Zacharias Tibur die Geschicke des Futtermittelproduzenten gelenkt. Trotz seines hohen Alters schien sich daran in absehbarer Zeit nichts zu ändern. Alle Offerten von LuckyAnimal, sich finanziell an seiner Firma zu beteiligen, waren am Eigensinn des Alten und seinem Ressentiment gegen Konzerne gescheitert.

Alexander Tibur, sein Enkel und der zweite Geschäftsführer des Unternehmens, stand einem Engagement aufgeschlossen gegenüber. Allerdings war der Verkauf der Tibur-Werke erst nach dem Ausscheiden des alten Sturkopfes möglich.

Schon als ihm Tibur junior am Flughafen zur Begrüßung wie selbstverständlich eine Packung Schimmelpenninck überreicht hatte, war McCormik klargeworden, dass der junge Mann besser vorbereitet war als er. Es waren genau jene Zigarillos, die er gern nach einer Verhandlung auf seinem Bootssteg nahe der Stadt Hampton in Virginia genoss, während er die Segler auf Chesapeake Bay beobachtete.

»Ich hatte das Glück, Paul Auster an der Universität in Alabama zu hören«, bemerkte Alexander Tibur. Er lächelte, während er an den Vortrag dachte. »Auster referierte über Mr. Bones, den alles verstehenden Hund. Und er sprach natürlich vom Paradies für Vierbeiner, jenem wunderbaren Ort mit den leckeren Würsten und dem Überangebot an läufigen Hündinnen. Timbuktu. Sie kennen den Roman?«

McCormik nickte. Paul Auster war sein Lieblingsschriftsteller und hatte auch das Drehbuch zu Smoke geschrieben. Er liebte diesen Film. Die Geschichte um einen kleinen Raucherladen hatte ihn eines gelehrt: Zuzuhören und sich für andere zu interessieren öffnete Tür und Tor.

»Sie haben Ihre Hausaufgaben gemacht. Ich bin beeindruckt«, bemerkte McCormik und öffnete die Schachtel mit den Zigarillos. Freundlich hielt er sie dem Gastgeber hin. »Ich weiß nicht mal, ob Sie überhaupt rauchen.«

Alexander Tibur verneinte. Die junge Frau stellte ein Glas Eiswasser auf den Tisch, lächelte strahlend und zeigte mit einem Finger zum Sonnendeck. »Wenn Sie etwas benötigen oder ich etwas für Sie tun kann …«, gekonnt legte sie eine Kunstpause ein, » … lassen Sie es mich wissen!«

McCormik blickte ihr taxierend hinterher, besaß aber den Anstand, nicht hinzusehen, als sie ihr Bikinioberteil auszog. Leicht fiel ihm das nicht. Er schätzte sie auf Mitte dreißig. Für Frauen mit überzeugenden Proportionen, die der Natur nicht künstlich nachhelfen mussten, hatte er ein Faible. Genüsslich zog er an dem Zigarillo und beobachtete die kleinen Segelboote auf dem Wasser. Netter Versuch!, dachte er dabei und registrierte mit Genugtuung, dass Tibur junior auch Fehler machte. Der Kerl glaubte ernsthaft, mit einem schönen Extra den Preis steigern zu können. Aber hier ging es nicht um den Kauf eines Gebrauchtwagens. Sobald die Übernahme der Tibur-Werke notariell beglaubigt war, würde er sich die verchromte Stoßstange gratis holen. McCormik schmunzelte bei dem Vergleich. Er fixierte sein Gegenüber und zog noch einmal an dem Zigarillo. »Alles hängt davon ab, ob der alte Mann Ihnen seinen Anteil überschreibt. Bisher scheint er sich ja noch zu sträuben. Gibt es einen neuen Stand?«, fragte McCormik und blies den Rauch in die Luft.

»Was das Unternehmen angeht, ist er äußerst misstrauisch. Ich muss den richtigen Moment abwarten, um ihm die Pläne vorzulegen, und bitte Sie daher noch um etwas Geduld.«

Der Amerikaner verdrehte die Augen. »Kann er nicht einfach abtreten? Ihr Großvater hat ein biblisches Alter!«

»Es ist sein Werk. Er hat die Firma aus dem Nichts aufgebaut und behandelt sie wie sein Kind.«

»Zeit ist Geld! Wenn es um finanzielles Engagement geht, sind Kapitalanleger hochgradig gläubig. Nächstenliebe ist garantiert keine Option. Geduld auch nicht. Ich muss dem Vorstand nach meiner Rückkehr Rede und Antwort stehen. Und nur zur Erinnerung: LuckyAnimals hat bereits in Sie investiert!«

Der Mann, der eben noch einen perfekten Seemannsknoten zu binden verstanden hatte, wirkte plötzlich nervös. Tatsächlich hatte er einen Vorschuss erhalten. McCormik entging weder seine Anspannung noch der unruhige Blick, den er der Frau auf dem Sonnendeck zuwarf.

»Ohne die Zusage meines Großvaters sind mir die Hände gebunden. Das war von Anfang an klar. Ich habe das Ihren Anwälten auch gesagt. Entweder er überträgt mir die Firma, oder wir müssen warten, bis er das Zeitliche segnet.«

McCormik kannte die Problematik, aber die Zeit lief ihnen davon. LuckyAnimals hatte in den vergangenen Jahren eine Menge Geld in den europäischen Markt und in Imagekampagnen gesteckt – mit wenig Erfolg. Streng genommen war die Situation katastrophal. Die Werbeplakate für ein Spezialfutter, die mit Geruchsstoffen imprägniert gewesen waren, hatten ihnen zwar Aufmerksamkeit eingebracht, allerdings nicht mit dem gewünschten Ergebnis. Hunde hatte der Duft wie erwartet geradezu magisch angezogen, die mediale Reaktion darauf war jedoch einer Katastrophe gleichgekommen. Die Presse hatte sich über die Manipulation der hechelnden Gassi-Gänger köstlich amüsiert und die LuckyAnimals-Läden als Schnüffelshops bezeichnet.

Nicht erst seit diesem Fehlschlag war in der Vorstandsetage in Virginia klar, dass sie einen Katalysator brauchten, wenn sie im lukrativen Old-Europe-Markt Erfolg haben wollten. Die Investoren an der Börse wurden langsam unruhig. Nach dem Fiasko mit den präparierten Plakaten hatte ein Gerücht auf dem Finanzparkett die Runde gemacht: Der Konzern sei angeschlagen. Erste Experten sprachen inzwischen von einer Gewinnwarnung. LuckyAnimals sei ernüchternd phantasielos. Noch ließen sich die Anleger mit ein paar Bilanzierungstricks beruhigen. Aber wenn keine Aussicht bestand, erfolgreich auf dem europäischen Markt zu wachsen, würde die Börse sie gnadenlos abstrafen.

Der Name einer alteingesessenen, renommierten deutschen Firma würde ihnen ermöglichen, durch die Hintertür Einlass zu bekommen. LuckyAnimals brauchte Tibur. McCormik wusste das.

»Es ist schön hier«, sagte er und ergänzte, nachdem er den letzten Zug seiner Schimmelpenninck genossen hatte: »In vierzehn Tagen eröffne ich die Europazentrale in München. Bis dahin gibt es einiges zu tun. Es wäre wirklich schade, wenn wir das hier nicht wiederholen könnten.«

° ° °

»In zehn Minuten im Beratungsraum«, informierte Kriminalhauptkommissar Hans Morgenstern seinen Kollegen Bruno Biondi, der auf dem Weg zur Küche war, um sich einen Tee zu kochen. »Sag Paul Brenecke Bescheid!«

Im Landeskriminalamt waren um diese Zeit die meisten Bürotüren abgeschlossen. Nur wenige Mitarbeiter hatten am Sonntag Dienst. Morgenstern hielt es zum jetzigen Zeitpunkt der Ermittlungen für ausreichend, mit einigen bewährten Kollegen die Lage zu sondieren.

Seit dem Morgen hatte er nichts gegessen. Jetzt war es 17 Uhr. Er spürte einen unangenehmen Druck im Magen. Auch wenn noch einiges vorzubereiten war, musste er vor der Besprechung unbedingt eine Kleinigkeit zu sich nehmen.

Während er energisch von seiner Frühstücksschrippe abbiss, die Anna ihm kommentarlos gemacht hatte, suchte er ein paar Unterlagen zusammen. Erst jetzt bemerkte er, dass seine Freundin statt Butter einen vegetarischen Aufstrich verwendet hatte. Leberwurst auf Grünkernpaste war ihre kleine Rache für das verpatzte Frühstück. Dennoch ließ Morgenstern es sich nun schmecken.

Kriminalrat Max Herting übertrug seinem besten Mann mit Vorliebe Tötungsdelikte, auf die sich die Presse gierig stürzte. Der Leiter des LKA 1 setzte den Chef der Mordkommission für den aktuellen Fall bewusst ein, um sich von Kritikern nicht unterstellen lassen zu müssen, er nehme den Tod des Jungen nicht ernst. Morgenstern hatte einen tadellosen Ruf und verfügte über umfangreiche kriminalistische Erfahrung.

Tatsächlich standen die sieben Berliner Mordkommissionen unter massivem Druck. Ralf Kuhnert hatte den Posten des Polizeipräsidenten übertragen bekommen, schwammig über Synergieeffekte philosophiert und pressewirksam verkündet, dass man ihn an der Verbrechensstatistik messen solle.

 

Seitdem predigte Herting bei jeder Dienstberatung, dass bei mangelhafter Erfolgsquote die Auflösung ihrer Abteilung drohe. Seine Bemühungen, sich gegen derartige Bestrebungen zu wehren, bestanden ausschließlich darin, die Wünsche aus dem Büro des Polizeipräsidenten kommentarlos umzusetzen. Nur so war zu erklären, warum eine Absolventin ohne Erfahrung der Mordkommission zugeteilt worden war.

Paul Brenecke und Bruno Biondi, die Morgenstern im Fall Eichner zur Seite standen, waren erfahrene Kollegen, mit denen er gern zusammenarbeitete. Beide Kommissare pflegten einen hoffnungslosen Widerstreit, bei dem es im Kern um die Frage ging, was mehr Effizienz besaß: Bleistift oder Tastatur. Brenecke, 55 Jahre alt, ehemaliger Kunststudent und bekennender Bleistiftfetischist, der nur angesichts eines chronisch leeren Kühlschranks zur Polizei gegangen war, fühlte sich durch Biondis omnipotentes Computerwissen regelrecht aufs Altenteil abgeschoben. Tatsächlich hätte Biondi mit seinen 33 Jahren Breneckes Sohn sein können. Ein Sohn, der den Vater ständig provozierte und vieles in Frage stellte, was dessen Generation für wichtig erachtete. Morgenstern hielt sich aus den Streitigkeiten heraus, brachte die Rivalität der beiden Kollegen doch im besten Fall die Ermittlungen voran.

Nachdem alle im Besprechungsraum saßen, stellte der Chef der Mordkommission Linda Mörike vor. Erstaunt und skeptisch wurde sie beäugt.

»Kommissarin Linda Mörike ist uns als Unterstützung zugeteilt worden. Sie wird vollständig und ohne Abstriche in die Ermittlungen eingebunden«, informierte Morgenstern.

Konzentriert sortierte er seine Notizen und schien sich zu sammeln. Tatsächlich hoffte er, dass niemand sein Unverständnis zu dem Sachverhalt äußerte. Eine Diskussion über die Personalpolitik der Berliner Polizei konnte er momentan am wenigsten gebrauchen. Es blieb ruhig.

Er legte ein paar Kopien auf den Tisch und wechselte mit Biondi einen kurzen Blick. Ohne ein Wort zu sagen, nahm dieser die Blätter und reichte sie weiter.

»Wir haben ein totes Kind. Morgen wird die Presse erbarmungslos jeden unserer Schritte kommentieren.« Erneut machte er eine kleine Pause. »Das übliche Programm. Gibt es Fingerabdrücke? Wenn ja, sind sie registriert? Fußabdrücke? Größe, Typ, Besonderheiten. Ihr kennt das. Die Jungs von der Spurensicherung sollen so schnell wie möglich liefern.«

An einer Berlin-Karte, die an der Wand hing, deutete er mit dem Kugelschreiber auf vier Punkte. »Ihr prüft bitte alle vorhandenen Außenkameras zwischen U-Bahnhof Eberswalder Straße, U-Bahnhof Bernauer Straße, Gleimtunnel und dem Kino Colosseum! Einige Läden haben garantiert die Fußgängerzone im Bild. Versucht auch, Zeugen ausfindig zu machen! Oberhalb des Mauerparks gibt es eine Graffitiwand. Vielleicht ist einem Sprayer etwas Ungewöhnliches aufgefallen.«

Brenecke und Biondi kannten ihre Aufgaben.

»Wenn die Obduktion abgeschlossen ist, wissen wir genau, um welches Gift es sich handelt. Sobald Moabit Ergebnisse hat, auf meinen Tisch damit!«

Das Institut für Rechtsmedizin der Charité befand sich in Moabit. Dorthin war die Leiche des Jungen gebracht worden. Mit Resultaten war jedoch frühestens am Montagmorgen zu rechnen.

Brenecke machte sich mit einem Bleistift eine Notiz in seine Kladde. Dann ließ er den Stift wieder rotieren. »Eine Frage: Wie gehen wir mit der Presse um?«

»Wir geben keine detaillierten Angaben heraus. Ein Kind ist tot aufgefunden worden, die Mordkommission ermittelt in alle Richtungen. Auf Nachfragen die übliche Formulierung: Aus ermittlungstechnischen Gründen und so weiter.«

Auch dazu kritzelte Brenecke etwas in sein Heft.

»Weitere Fragen?«

Biondi schaute kurz in die Runde. »Wer kümmert sich um die Schule und den Freundeskreis?«

»Klärt das untereinander!« Morgenstern drehte vorsichtshalber seinen Zettel um, obwohl er wusste, dass auf der Rückseite nichts notiert stand. Dennoch blieb die Befürchtung, etwas Wichtiges vergessen zu haben.

»Den Besuch bei den Eltern übernehme ich.«

Die Adresse wurde über den Tisch geschoben. Morgenstern überflog die Zeilen. Die Gegend war ihm bekannt. Berliner nannten sie das Schwabenviertel. Von hier kamen die kleinlichsten Anzeigen wegen Ruhestörung, Falschparkens oder ungebührlichen Verhaltens. So richtig hatte die Seele wahrer Prenzelberger aber erst gekocht, als angebliche schwäbische Patrioten mit einer Spätzle-Attacke auf das Käthe-Kollwitz-Denkmal und einer symbolischen Maultaschenmauer unter dem Motto »Free Schabylon« ihren Anspruch auf einen Schwabenbezirk angemeldet hatten. Free Schwabylon! Allerdings hielt Morgenstern es für denkbar, dass die Idee an irgendeinem Stammtisch entstanden war und die Initiatoren sich köstlich über den medialen Aufruhr amüsierten.

»Sie kommen mit!«

Linda Mörike brauchte einen Augenblick, um Morgensterns Anweisung zu verstehen.

Bevor sie sich fragen konnte, ob der Leiter der Mordkommission sie nur mitnahm, damit sie scheiterte, erklärte er: »Ich brauche eine Frau dabei.«

° ° °

Sigrid Lucatelo kochte vor Wut. Nicht grundlos finanzierte die freie Journalistin und Fotografin die Bierkasse ihres Lieblingspunks. Ihr Deal war eindeutig: Gab es etwas Besonderes, dann hatte er gefälligst zuerst sie zu informieren.

»Du findest eine Leiche im Mauerpark«, wiederholte sie fassungslos und gestikulierte wild mit den Händen, »und kommst in deiner bekifften Birne nicht auf die Idee, mich anzurufen! Wozu habe ich dir ein Handy gegeben?«

»Ick dachte, ick muss erst meene Bürjerpflicht erfüllen«, verteidigte sich der Punk.

»Hast du ’ne Schramme, du Arsch?«

Der Punk zog unwillkürlich den Kopf ein. Obwohl Sigrid Lucatelo kleiner war als er, fürchtete er ihre Wut. Auch Bastard hielt es für besser, den Schwanz einzuziehen.

»Hast du eine Ahnung, was Fotoagenturen für exklusive Bilder zahlen?« Lucatelo raufte sich theatralisch die pinkfarbenen Haare, in die sich ein Klecks Violett verirrt hatte. Wütend trat sie gegen den Fressnapf, aus dem Bastard gierig die Reste des gestrigen Abendmahls gefressen hatte. Der Edelstahlbehälter schepperte über die Fliesen und knallte gegen den Türpfosten.

Bastard zuckt ängstlich zusammen und jaulte vorbeugend.

»Bleib ma janz ruhig! Ick hab wat viel Besseres als Fotos.« Der Punk kramte in seinem Rucksack herum und holte eine weiße Plastiktüte heraus, die mit Klebeband verschlossen war. Etwas Goldenes schimmerte durch die Folie. Genau ließ sich nicht erkennen, um was es sich handelte. »Setz dir mal lieber hin! Dit globste sowieso nich. Ick hab die Tatwaffe. Ick weeß, wie der Junge jetötet wurde. Und ick habe och ’ne Theorie. Die Bullen sind eh zu blöd dafür.«

Lucatelo war so erstaunt, dass sie erst einmal schwieg. Was immer der Kerl in der Tüte hatte, ihr Interesse war geweckt.

Die Journalistin zeigte auf den freien Küchenstuhl, nachdem sie sich selbst auf den anderen gesetzt hatte.

»Wat issen dir dit wert?«, fragte der Punk, nun nicht mehr eingeschüchtert, und schaute Lucatelo dabei mit gierigen Augen an.

»Du bist dir schon im Klaren darüber, dass das Entwenden von Beweismaterial strafrechtliche Relevanz hat?«, antwortete die mit Nachdruck und nahm sich eine Zigarette aus ihrer Packung.

»Rele … watt? Dit hab ick jefunden. Finden is doch nich strafrechtlich.«

Neugierig betrachtete Sigrid Lucatelo die Tüte, in der sich ein Gegenstand in der Größe einer Bonbontüte befand. »Okay! Ich gebe dir fünfzig Euro. Und wenn dein Fund wirklich was wert ist, gibt es noch Nachschlag.«

»Unterm Hunni mach ick’s nich. Verstehste?«

Lucatelo lehnte sich zurück und beobachtete den Punk. Bisher hatte er sie nie enttäuscht, und alle Informationen, die er geliefert hatte, waren stets wahr gewesen. Einmal hatte er ihr sogar verraten, wann die nächsten Luxuswagen abgefackelt werden würden. Der Brandstifter stand auf BMWs, 7er Reihe, bevorzugter Jahrgang 2013. »Bei denen züngeln die Flammen so schön in Blautönen«, hatte er geschwärmt, als sie ihn nach dem Grund für seine Vorliebe gefragt hatte. Die Fotos, die sie damals hatte schießen können, waren spektakulär gewesen, und die Bezahlung der Zeitungen hatte ihrem Konto ausgesprochen gutgetan. Aber noch wichtiger war, dass ihr die Szene seitdem einen Riecher nachsagte. Die Fotos hatten ihr sogar die Türen zu jenen Zeitungsredaktionen geöffnet, die bis dahin auf ihre Einsendungen nicht einmal geantwortet hatten.