Untergang eines Herzens

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Untergang eines Herzens
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Untergang eines Herzens

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Stefan Zweig
Untergang eines Herzens

Zu entscheidender Erschütterung eines Herzens bedarf das Schicksal nicht immer wuchtigen Ausholens und schroff verstoßender Gewalt; gerade aus flüchtiger Ursache Vernichtung zu entfalten, reizt seine unbändige Bildnerlust. Wir nennen dies erste leise Berühren in unserer dumpfen Menschensprache Anlaß und vergleichen erstaunt sein winziges Maß mit der oft mächtig fortwirkenden Gewalt; aber so wenig eine Krankheit mit ihrem Kenntlichwerden, so wenig beginnt das Schicksal eines Menschen erst, sobald es sichtbar und Geschehnis wird. Immer, im Geist und im Blute, waltet das Schicksal längst innen, eh es von außen die Seele berührt. Sich-Erkennen ist schon Sich-Wehren, und ein vergebliches zumeist.

Der alte Mann – Salomonsohn hieß er und durfte sich daheim Geheimer Kommissionsrat nennen – wachte nachts im Hotel von Gardone, wohin er seine Familie anläßlich der Ostertage begleitet, infolge eines heftigen Schmerzes auf: der Leib war ihm wie mit scharfen Dauben umschnürt, kaum rang sich der Atem durch die angespannte Brust. Der alte Mann erschrak, litt er doch häufig an Gallenkrämpfen, und gegen den Rat der Ärzte hatte er statt der verordneten Karlsbader Kur um seiner Familie willen den südlichen Aufenthalt gewählt. Einen Anfall jener gefährlichen Art befürchtend, betastete er ängstlich seinen breiten Leib, um aber bald – erleichtert, mitten im noch fortquälenden Schmerz – festzustellen: nur der Magen drückte ihn hart, offenbar infolge der ungewohnten italienischen Kost oder einer jener leichten Vergiftungen, wie sie dortzulande häufig den Reisenden befallen. Aufatmend fiel die zitternde Hand zurück, aber der Druck blieb und hemmte den Atem: so stöhnte sich der alte Mann schwerfällig aus dem Bett, um ein wenig Bewegung zu machen. Und tatsächlich: im Stehen und noch mehr im Gehen ward der Druck matter. Aber das dunkle Zimmer bot wenig Raum, zudem fürchtete er, die im Schwesterbett schlafende Frau aufzuwecken und unnötig in Sorge zu setzen. So warf er sich den Schlafmantel um, zog Filzpantoffeln über die nackten Füße und tastete vorsichtig in den Korridor, dort ein wenig auszuschreiten und die Beklemmung zu lindern.

Im Augenblick, da er die Tür gegen den dunklen Gang öffnete, hallte durch die breit aufgetanen Fenster die Stunde vom Kirchturm: vier erst wuchtige und dann weich über den See zerzitternde Glockenschläge: vier Uhr morgens.

Der lange Korridor lag vollkommen dunkel. Aber aus deutlicher Erinnerung des Tages wußte der alte Mann ihn geradeausgehend und tiefräumig: so schritt er, ohne der Beleuchtung zu bedürfen, stark atmend von einem Ende zum andern, und nochmals und nochmals, zufrieden gewahrend, daß allmählich jene Klammer um die Brust sich löste. Schon bereitete er sich vor, durch die wohltuende Übung des Schmerzes fast vollkommen entledigt, wieder in sein Zimmer zurückzukehren, als ein Geräusch ihn erschreckt innehalten ließ. Geräusch: ein Wispern von irgend nah her in der Dunkelheit, dünn und doch unverkennbar. Etwas knackte im Gebälk, etwas flüsterte, rührte sich, und schon schnitt für eine Sekunde aus spaltbreit geöffneter Tür ein schmaler Kegel Licht das formlos Finstere durch. Was war das? Unwillkürlich drückte sich der alte Mann in eine Ecke, keineswegs aus Neugier, sondern einzig dem leichtverständlichen Gefühl der Beschämung nachgebend, bei so absonderlich nachtwandlerischem Gebaren ertappt zu werden. Aber wider seinen Willen fast hatte er in dieser einen Sekunde, wo das Licht den Gang überblitzte, wahrzunehmen vermeint, daß aus jenem Zimmer eine weißgekleidete weibliche Gestalt herausglitt und gegen das Ende des Korridors zu verschwand. Und wirklich, dort an einer der letzten Türen des Ganges knackte jetzt eine leise Klinke. Dann alles wieder dunkel und atemstill.

Der alte Mann begann plötzlich zu taumeln wie von einem Stoß gegen das Herz. Dort am äußersten Ende des Ganges, dort, wo jene Klinke verräterisch sich geregt, dort waren ... dort waren doch nur seine eigenen Zimmer, das dreiräumige Appartement, das er für seine Familie gemietet. Seine Frau, sie hatte er vor wenigen Minuten noch schlafatmend verlassen, so konnte – nein, eine Täuschung war unmöglich – diese weibliche Gestalt, die abenteuernd von fremdem Zimmer zurückkehrte, niemand anderes gewesen sein als Erna, seine Tochter, die kaum neunzehnjährige.

Der alte Mann schauerte am ganzen Leib, so durchfrostete ihn das Entsetzen. Seine Tochter Erna, das Kind, das helle übermütige Kind – nein, das konnte nicht möglich sein, er mußte sich getäuscht haben. – Was sollte sie denn da tun im fremden Zimmer, wenn nicht ... Wie ein böses Tier stieß er den eigenen Gedanken von sich weg, aber herrisch krallte sich das spukhafte Bild der fliehenden Gestalt in die Schläfen, nicht loszureißen mehr, nicht mehr abzutun: er mußte Gewißheit haben. Keuchend tastete er die Wand des Korridors entlang bis zu ihrer Tür, nachbarlich der seinen. Aber entsetzlich: gerade hier, gerade bei dieser einen Tür im Gange, dieser einzigen Tür, zitterte ein dünner Faden Licht durch die Fuge, und aus dem Schlüsselloch stach verräterisch-weißer Punkt: um vier Uhr morgens hatte sie noch Licht in ihrem Zimmer! Und neues Zeugnis: eben knackte innen der elektrische Kontakt, der weiße Faden Licht fiel spurlos ins Schwarze – nein, nein, hier half kein Sichselbstbelügen – Erna, seine Tochter, sie war es, die da nächtlich aus fremdem Bett in das ihre schlich.

Der alte Mann zitterte vor Grauen und Kälte; gleichzeitig brach ihm Schweiß aus dem Leibe und überschwemmte die Poren. Die Tür einschlagen, mit den Fäusten sie zerprügeln, die Schamlose, war sein erstes Gefühl. Aber die Füße schwankten unter dem breiten Leib. Kaum noch fand er Kraft, sich in sein Zimmer und zum Bett zu schleppen; dort fiel er mit dumpfen Sinnen in die Kissen wie ein gefälltes Tier.

Der alte Mann lag reglos in seinem Bett; seine Augen starrten offen in das Dunkel. Neben ihm ging unbesorgt und satt der Atem seiner Frau. Erster Gedanke war, sie wachzurütteln, die schreckhafte Entdeckung zu berichten, sich das Herz auszuschreien, auszutoben. Aber wie das aussprechen, laut in Worten, das Entsetzliche? Nein, nie, nie käme ihm dies Wort über die Lippe. Aber was tun? Was tun?

Er versuchte nachzudenken. Aber die Gedanken taumelten wie Fledermäuse blind durcheinander. Es war ja so ungeheuerlich: Erna, das zarte, wohlerzogene Kind mit den schmeichelnden Augen ... wann, wann hatte er sie noch über dem Schulbuch lesend gefunden, mit dem kleinen rosigen Finger die schweren Schriftzeichen mühsam nachziehend ... wann sie nur in ihrem blaßblauen Kleidchen von der Schule zum Zuckerbäcker geführt, den Kinderkuß gefühlt von dem noch bezuckerten Mund ... War das nicht gestern gewesen? ... Nein, das lag Jahre zurück ... aber wie kindlich hatte sie ihn gestern, ja wirklich gestern noch gebettelt, er möchte ihr den blaugoldenen Sweater kaufen, der in der Auslage sich so bunt vordrängte. »Papachen, bitte! bitte!« – mit gefalteten Händen und dem Lachen, dem selbstgewiß-frohen, dem er nie widerstehen konnte ... Und jetzt, jetzt schlich sie, zehn Zoll von seiner Tür, nachts hinaus in das Bett eines fremden Mannes und wälzte sich dort gierig und nackt ...

»Mein Gott! ... mein Gott!« ... er stöhnte unwillkürlich auf, der alte Mann. »Diese Schande! diese Schande! ... mein Kind, mein zartes, behütetes Kind mit irgendeinem Mann ... Mit wem? ... Wer kann es nur sein? ... Wir sind doch erst drei Tage hier in Gardone, und sie hat keinen von den geschniegelten Laffen vorher gekannt, nicht diesen schmalköpfigen Conte Ubaldi, nicht den italienischen Offizier und diesen Mecklenburger Herrenreiter ... erst beim Tanzen am zweiten Tage sind sie bekannt geworden, und schon soll sie einer ... Nein, das kann nicht der Erste gewesen sein, nein ... das muß schon früher begonnen haben ... zu Hause ... und ich weiß nichts, ich ahne nichts, ich Narr, ich geschlagener Narr ... Aber was weiß ich denn überhaupt von ihnen? ... Den ganzen Tag schufte ich für sie, sitze vierzehn Stunden im Kontor, genau so wie früher mit dem Musterkoffer auf der Bahn ... nur Geld für sie zu schaffen, Geld, Geld, damit sie schöne Kleider haben und reich werden ... und abends, wenn ich heimkomme, müde, zerschlagen, da sind sie fort: im Theater, auf Bällen, in Gesellschaft ... was weiß ich denn von ihnen, was sie treiben den ganzen Tag? ... Nur das weiß ich jetzt, daß mein Kind nachts mit ihrem jungen reinen Leib zu den Männern geht wie eine von der Straße ... Oh, diese Schande!«

Der alte Mann stöhnte immer wieder auf. Jeder neue Gedanke riß die Wunde tiefer: ihm war, als läge sein Gehirn blutig offen und wühlten rote Maden darin.

»Aber warum habe ich das alles geduldet? ... Warum liege ich jetzt noch da und quäl mich ab, indes sie sich satt schläft mit ihrem unzüchtigen Leib? ... Warum bin ich nicht gleich hineingefahren in das Zimmer, damit sie weiß, ich kenne ihre Schande? ... Warum habe ich ihr nicht die Knochen zerprügelt? ... Weil ich schwach bin ... weil ich feig bin ... Immer war ich schwach gegen sie beide ... alles habe ich ihnen nachgegeben ... ich war ja stolz, ihnen das Leben leicht sein zu lassen, wenn schon meines verdorben war ... mit den Fingernägeln habe ich das Geld zusammengekratzt, Pfennig für Pfennig ... das Fleisch hätte ich mir von den Händen reißen lassen, sie nur zufrieden zu sehen ... Aber kaum ich sie reich gemacht, schon haben sie sich meiner geschämt ... nicht elegant genug bin ich ihnen mehr gewesen ... zu ungebildet ... wo hätte ich Bildung lernen sollen? Mit zwölf Jahren haben sie mich schon aus der Schule genommen, und ich hab verdienen müssen, verdienen, verdienen ... Musterkoffer tragen, von Dorf zu Dorf fahren, und dann von Stadt zu Stadt agentieren, ehe ich mein eigenes Geschäft auftun konnte ..., und kaum waren sie oben und im eigenen Haus, da mochten sie meinen alten ehrlichen guten Namen nicht mehr ... den Kommissionsrat, Geheimrat habe ich mir kaufen müssen, damit man sie nicht mehr Frau Salomonsohn anspricht, damit sie vornehm tun können ... Vornehm! Vornehm! ... Ausgelacht haben sie mich, wenn ich mich wehrte gegen die Vornehmtuerei, gegen ihre ›feine‹ Gesellschaft, wenn ich ihnen erzählte, wie meine Mutter, Gott hab sie selig, das Haus führte, still, bescheiden, nur für den Vater und uns ... altmodisch haben sie mich genannt ... ›Du bist altmodisch, Papachen‹, hat sie immer gespottet ... ja, altmodisch, ja ... und jetzt liegt sie mit fremden Männern in fremdem Bett, mein Kind, mein einziges Kind ... Oh, diese Schande, diese Schande ...«

 

So furchtbar stieß dem alten Mann die seufzende Qual aus der Brust, daß die Frau an seiner Seite erwachte. »Was ist's?« fragte sie schlaftrunken. Der alte Mann rührte sich nicht und hielt den Atem an. Und so lag er reglos im finstern Sarg seiner Qual bis in den Morgen hinein, von den Gedanken zerfressen wie von Würmern.

Morgens am Frühstückstisch war er als Erster zur Stelle. Aufseufzend setzte er sich hin, jeder Bissen widerte ihn an.

»Wieder allein«, dachte er, »immer allein! ... Wenn ich morgens ins Büro gehe, schlafen sie noch behäbig und faul von ihren Tanzereien und Theatern ... wenn ich abends heimkomme, sind sie schon fort auf Vergnügung, in Gesellschaft: da können sie mich nicht brauchen ... oh, das Geld, das verfluchte Geld hat sie verdorben ... das hat sie mir fremd gemacht ... Ich Narr hab es zusammengescharrt und mich dabei selber bestohlen, mich hab ich arm gemacht damit und sie selber schlecht ... fünfzig sinnlose Jahre habe ich geschuftet, keinen freien Tag mir gegönnt, und jetzt bin ich allein ...«

Er wurde allmählich ungeduldig. »Warum kommt sie nicht ... ich will mit ihr reden, ich muß es ihr sagen ... wir müssen weg von hier, sofort ... warum kommt sie nicht ... wahrscheinlich ist sie noch müde, schläft prächtig mit gutem Gewissen, indes ich mir das Herz zerreiße, ich Narr ... Und die Mutter putzt sich stundenlang, muß baden, sich appretieren, maniküren, frisieren lassen, die kommt nicht vor elf herab ... ist es da ein Wunder? ... was soll da werden aus einem Kind? ... Oh, das Geld, das verfluchte Geld.«

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