Die Welt von Gestern. Erinnerungen eines Europäers

Tekst
0
Recenzje
Przeczytaj fragment
Oznacz jako przeczytane
Czcionka:Mniejsze АаWiększe Aa

Diese wirklich wahrheitsgetreue Schilderung unserer literarischen Frühreife könnte vielleicht zu der Meinung verleiten, wir seien eine besondere Wunderklasse gewesen. Aber durchaus nicht. In einem Dutzend Nachbarschulen war damals in Wien das gleiche Phänomen gleichen Fanatismus und gleicher frühreifer Begabung zu beobachten. Das konnte kein Zufall sein. Es war eine besonders glückliche Atmosphäre, bedingt durch den künstlerischen Humus der Stadt, die unpolitische Zeit, die drängende Konstellation geistiger und literarischer Neuorientierung um die Jahrhundertwende, die sich in uns chemisch dem immanenten Produktionswillen verband, der eigentlich dieser Lebensstufe beinahe zwanghaft zugehörig ist. Im Alter der Pubertät geht das Dichterische oder der Antrieb zum Dichterischen eigentlich durch jeden jungen Menschen, freilich meist nur wie eine flüchtige Welle, und es ist selten, dass solche Neigung die Jugend überlebt, da sie ja selbst nur Emanation der Jugend ist. Von unseren fünf Schauspielern auf der Schulbank ist später keiner auf der wirklichen Bühne ein Schauspieler geworden, die Dichter des »Pan« und der »Blätter für die Kunst« versandeten nach diesem erstaunlichen ersten Anschwung als biedere Rechtsanwälte oder Beamte, die vielleicht heute melancholisch oder ironisch ihre einstigen Ambitionen belächeln – ich bin der einzige unter ihnen allen, in dem die produktive Leidenschaft angehalten hat und dem sie Sinn sowie Kern eines ganzen Lebens geworden ist. Aber wie dankbar gedenke ich noch jener Kameradschaft! Wieviel hat sie mir geholfen! Wie haben diese feurigen Diskussionen, dies wilde Überbieten, dies gegenseitige Sich-Bewundern und Sich-Kritisieren mir Hand und Nerv frühzeitig geübt, wieviel Ausblick und Überblick auf den geistigen Kosmos gegeben, wie beschwingt uns alle über die Öde und Tristheit unserer Schule emporgehoben! »Du holde Kunst, in wie viel grauen Stunden …«, immer wenn das unsterbliche Schubertlied anklingt, sehe ich in einer Art plastischer Vision uns auf unseren jämmerlichen Schulbänken mit gedrückten Schultern und dann auf dem Heimweg strahlenden, erregten Blicks, Gedichte kritisierend, rezitierend, leidenschaftlich alle Gebundenheit an Raum und Zeit vergessend, wahrhaft »in eine bessere Welt entrückt«.

*

Eine solche Monomanie des Kunstfanatismus, eine derart bis ins Absurde getriebene Überwertung des Ästhetischen konnte sich natürlich nur auf Kosten der normalen Interessen unseres Alters ausleben. Wenn ich mich heute frage, wann wir die Zeit fanden, alle diese Bücher zu lesen, überfüllt wie unser Tag schon war mit Schul- und Privatstunden, so wird mir klar, dass es gutenteils zum Schaden unseres Schlafs und damit unserer körperlichen Frische geschah. Dass ich, obwohl ich morgens um sieben Uhr aufzustehen hatte, je vor ein oder zwei Uhr nachts meine Lektüre aus der Hand gelegt hätte, kam niemals vor – eine schlechte Gewohnheit, die ich übrigens damals für immer annahm, selbst zur spätesten Nachtzeit noch eine Stunde oder zwei zu lesen. So kann ich mich nicht erinnern, je anders als unausgeschlafen und höchst mangelhaft gewaschen in letzter Minute zur Schule gejagt zu sein, das Butterbrot im Laufen verzehrend; kein Wunder, dass wir bei all unserer Intellektualität alle hager und grün aussahen wie unreifes Obst, überdies in der Kleidung ziemlich verwahrlost. Denn jeder Heller unseres Taschengeldes ging auf für Theater, Konzerte oder Bücher, und anderseits legten wir wenig Gewicht darauf, den jungen Mädchen zu gefallen, wir, die wir doch höheren Instanzen zu imponieren gedachten. Mit jungen Mädchen spazieren zu gehen, schien uns verlorene Zeit, da wir in unserer intellektuellen Arroganz das andere Geschlecht von vornherein für geistig minderwertig hielten und unsere kostbaren Stunden nicht mit flachem Geschwätz vertun wollten. Einem jungen Menschen von heute begreiflich zu machen, bis zu welchem Grade wir alles Sportliche ignorierten und sogar verachteten, dürfte nicht leicht sein. Allerdings war im vorigen Jahrhundert die Sportwelle noch nicht von England auf unseren Kontinent herübergekommen. Es gab noch kein Stadion, wo hunderttausend Menschen vor Begeisterung tobten, wenn ein Boxer dem anderen die Faust in die Kinnlade schmetterte; die Zeitungen sandten noch nicht Berichterstatter, damit sie mit homerischem Aufschwung über ein Hockeyspiel spaltenlang berichteten. Ringkämpfe, Athletenvereine, Schwergewichtsrekorde galten zu unserer Zeit noch als eine Angelegenheit der äußeren Vorstadt, und Fleischermeister und Lastträger bildeten ihr eigentliches Publikum; höchstens der edlere, aristokratischere Rennsport lockte ein paar Mal im Jahr die sogenannte »gute Gesellschaft« auf den Rennplatz, nicht aber uns, denen jede körperliche Betätigung als blanker Zeitverlust erschien. Mit dreizehn Jahren, als jene intellektuell-literarische Infektion bei mir begann, stellte ich das Eislaufen ein, verwandte das von den Eltern mir für eine Tanzstunde zugebilligte Geld für Bücher, mit achtzehn konnte ich noch nicht schwimmen, nicht tanzen, nicht tennisspielen; noch heute kann ich weder radfahren noch chauffieren, und in sportlichen Dingen vermag jeder Zehnjährige mich zu beschämen. Selbst heute, 1941, ist mir der Unterschied zwischen Baseball und Fußball, zwischen Hockey und Polo höchst unklar, und der Sportteil einer Zeitung erscheint mir mit seinen unerklärbaren Chiffern chinesisch geschrieben. Ich bin gegenüber allen sportlichen Geschwindigkeits- oder Geschicklichkeitsrekorden unentwegt auf dem Standpunkt des Schahs von Persien stehen geblieben, der, als man ihn animieren wollte, einem Derby beizuwohnen, orientalisch weise äußerte: »Wozu? Ich weiß doch, dass ein Pferd schneller laufen kann als das andere. Welches, ist mir gleichgültig.« Ebenso verächtlich, wie unseren Körper zu trainieren, schien es uns, Zeit mit Spiel zu vergeuden; einzig das Schach fand einige Gnade vor unseren Augen, weil es geistige Anstrengung erforderte; und – sogar noch absurder – obwohl wir uns als werdende oder immerhin potentielle Dichter fühlten, kümmerten wir uns wenig um die Natur. Während meiner ersten zwanzig Jahre habe ich soviel wie nichts von der wundervollen Umgebung Wiens gesehen; die schönsten und heißesten Sommertage, wenn die Stadt verlassen war, hatten für uns sogar einen besonderen Reiz, weil wir dann in unserem Kaffeehaus die Zeitungen und Revuen rascher und reichhaltiger bekamen. Ich habe noch Jahre und Jahrzehnte gebraucht, um das Gleichgewicht gegen diese kindisch-gierige Überspannung wiederzufinden und die unvermeidliche körperliche Ungeschicklichkeit einigermaßen wettzumachen. Aber im Ganzen habe ich diesen Fanatismus, dieses nur durch das Auge, nur durch die Nerven leben meiner Gymnasialzeit nie bereut. Es hat mir eine Leidenschaftlichkeit zum Geistigen ins Blut getrieben, die ich nie mehr verlieren möchte, und alles, was ich seitdem gelesen und gelernt, steht auf dem gehärteten Fundament jener Jahre. Was man an seinen Muskeln versäumt hat, holt sich später noch nach; der Aufschwung zum Geistigen, die innere Griffkraft der Seele dagegen übt sich einzig in jenen entscheidenden Jahren der Formung, und nur wer früh seine Seele weit auszuspannen gelernt, vermag später die ganze Welt in sich zu fassen.

*

Dass etwas Neues in der Kunst sich vorbereitete, etwas, das leidenschaftlicher, problematischer, versucherischer war, als was unsere Eltern und unsere Umwelt befriedigt hatte, war das eigentliche Erlebnis unserer Jugendjahre. Aber fasziniert von diesem einen Ausschnitt des Lebens, merkten wir nicht, dass diese Verwandlungen im ästhetischen Raume nur Ausschwingungen und Vorboten viel weiterreichender Veränderungen waren, welche die Welt unserer Väter, die Welt der Sicherheit erschüttern und schließlich vernichten sollten. Eine merkwürdige Umschichtung begann sich in unserem alten schläfrigen Österreich vorzubereiten. Die Massen, die stillschweigend und gefügig der liberalen Bürgerschaft durch Jahrzehnte die Herrschaft gelassen, wurden plötzlich unruhig, organisierten sich und verlangten ihr eigenes Recht. Gerade in dem letzten Jahrzehnt brach die Politik mit scharfen, jähen Windstößen in die Windstille des behaglichen Lebens. Das neue Jahrhundert wollte eine neue Ordnung, eine neue Zeit.

Die erste dieser großen Massenbewegungen in Österreich war die sozialistische. Bisher war bei uns das fälschlich so benannte »allgemeine« Wahlrecht nur Begüterten zugeteilt gewesen, die eine bestimmte Steuerleistung aufzuweisen hatten. Die von dieser Klasse gewählten Advokaten und Landwirte aber glaubten ehrlich und redlich, dass sie im Parlament die Sprecher und Vertreter des »Volkes« wären. Sie waren sehr stolz darauf, gebildete Leute, womöglich akademisch gebildete zu sein, sie hielten auf Würde, Anstand und gute Diktion; in den Sitzungen des Parlaments ging es darum zu wie bei dem Diskussionsabend eines vornehmen Klubs. Dank ihrem liberalistischen Glauben an eine durch Toleranz und Vernunft unfehlbar fortschrittliche Welt meinten diese bürgerlichen Demokraten ehrlich, mit kleinen Konzessionen und allmählichen Verbesserungen das Wohl aller Untertanen auf die beste Weise zu fördern. Aber sie hatten vollkommen vergessen, dass sie nur die fünfzigtausend oder hunderttausend Wohlsituierten in den großen Städten repräsentierten und nicht die Hunderttausende und Millionen des ganzen Landes. Inzwischen hatte die Maschine ihr Werk getan und um die Industrien die früher verstreute Arbeiterschaft gesammelt; unter der Führung eines eminenten Mannes, Dr. Victor Adler, bildete sich in Österreich eine sozialistische Partei, um die Ansprüche des Proletariats durchzusetzen, das ein wirklich allgemeines und für jeden gleiches Wahlrecht forderte; kaum es dann gewährt oder vielmehr erzwungen war, wurde man gewahr, eine wie dünne, wenn auch hochwertige Schicht der Liberalismus gewesen. Mit ihm verschwand aus dem öffentlichen politischen Leben die Konzilianz, Interessen stießen jetzt hart gegen Interessen, es begann der Kampf.

 

Ich erinnere mich noch aus meiner frühesten Kindheit an den Tag, der die entscheidende Wendung im Aufstieg der sozialistischen Partei in Österreich brachte; die Arbeiter hatten, um zum erstenmal ihre Macht und Masse optisch zu zeigen, die Parole ausgegeben, den ersten Mai als Feiertag des arbeitenden Volkes zu erklären, und beschlossen, in geschlossenem Zuge in den Prater zu ziehen, und zwar in die Hauptallee, wo sonst an diesem Tage nur die Wagen und Equipagen der Aristokratie und der reichen Bürgerschaft in der schönen breiten Kastanienallee ihren Korso hielten. Entsetzen lähmte bei dieser Ankündigung die gute liberale Bürgerschaft. Sozialisten, das Wort hatte damals in Deutschland und Österreich etwas vom blutigen und terroristischen Beigeschmack wie vordem das Wort Jacobiner und später das Wort Bolschewisten; man konnte es im ersten Augenblick gar nicht für möglich halten, dass diese rote Rotte aus der Vorstadt ihren Marsch durchführen werde, ohne Häuser anzuzünden, Läden zu plündern und alle denkbaren Gewalttaten zu begehen. Eine Art Panik griff um sich. Die Polizei der ganzen Stadt und Umgebung wurde in der Praterstraße postiert, das Militär schussbereit in Reserve gestellt. Keine Equipage, kein Fiaker wagte sich in die Nähe des Praters, die Kaufleute ließen die eisernen Rolläden vor den Geschäften herunter, und ich erinnere mich, dass die Eltern uns Kindern streng verboten, an diesem Schreckenstage, der Wien in Flammen sehen konnte, die Straße zu betreten. Aber nichts geschah. Die Arbeiter marschierten mit ihren Frauen und Kindern in geschlossenen Viererreihen und mit vorbildlicher Disziplin in den Prater, jeder die rote Nelke, das Parteizeichen, im Knopfloch. Sie sangen im Marschieren die Internationale, aber die Kinder fielen dann im schönen Grün der zum erstenmal betretenen »Nobelallee« in ihre sorglosen Schullieder. Es wurde niemand beschimpft, niemand geschlagen, keine Fäuste geballt; kameradschaftlich lachten die Polizisten, die Soldaten ihnen zu. Dank dieser tadellosen Haltung war es dem Bürgertum dann nicht mehr lange möglich, die Arbeiterschaft als eine »revolutionäre Rotte« zu brandmarken, es kam – wie immer im alten und weisen Österreich – zu gegenseitigen Konzessionen; noch war das heutige System der Niederknüpplung und Ausrottung nicht erfunden, noch das (freilich schon verblassende) Ideal der Humanität selbst bei den Parteiführern lebendig.

Kaum tauchte die rote Nelke als Parteiabzeichen auf, so erschien plötzlich eine andere Blume im Knopfloch, die weiße Nelke, das Zugehörigkeitszeichen der christlich-sozialen Partei (ist es nicht rührend, dass man damals noch Blumen als Parteizeichen wählte statt Stulpenstiefeln, Dolchen und Totenköpfen?). Die christlich-soziale als durchaus kleinbürgerliche Partei war eigentlich nur die organische Gegenbewegung der proletarischen und im Grunde ebenso wie sie ein Produkt des Sieges der Maschine über die Hand. Denn indem die Maschine durch die Zusammenfassung großer Massen in den Fabriken den Arbeitern Macht und sozialen Aufstieg zuteilte, bedrohte sie gleichzeitig das kleine Handwerk. Die großen Warenhäuser, die Massenproduktion wurden für den Mittelstand und für die kleinen Meister mit ihren Handbetrieben zum Ruin. Dieser Unzufriedenheit und Sorge bemächtigte sich ein geschickter und populärer Führer, Dr. Karl Lueger, und riss mit dem Schlagwort: »dem kleinen Manne muss geholfen werden« das ganze Kleinbürgertum und den verärgerten Mittelstand mit sich, dessen Neid gegen die Wohlhabenden bedeutend geringer war als die Furcht, aus seiner Bürgerlichkeit in das Proletariat abzusinken. Es war genau die gleiche verängstigte Schicht, wie sie später Adolf Hitler als erste breite Masse um sich gesammelt hat, und Karl Lueger ist auch in einem andern Sinne sein Vorbild gewesen, indem er ihn die Handlichkeit der antisemitischen Parole lehrte, die den unzufriedenen Kleinbürgerkreisen einen Gegner optisch zeigte und anderseits zugleich den Hass von den Großgrundbesitzern und dem feudalen Reichtum unmerklich ablenkte. Aber die ganze Vulgarisierung und Brutalisierung der heutigen Politik, der grauenhafte Rückfall unseres Jahrhunderts zeigt sich gerade im Vergleich der beiden Gestalten. Karl Lueger, mit seinem weichen blonden Vollbart eine imposante Erscheinung – der »schöne Karl« im Wiener Volksmund genannt – hatte akademische Bildung und war nicht vergebens in einem Zeitalter, das geistige Kultur über alles stellte, zur Schule gegangen. Er konnte populär sprechen, war vehement und witzig, aber selbst in den heftigsten Reden – oder solchen, die man zu jenen Zeiten als heftig empfand – überschritt er nie den Anstand, und seinen Streicher, einen gewissen Mechaniker Schneider, der mit Ritualmordmärchen und ähnlichen Vulgaritäten operierte, hielt er sorgfältig im Zaum. Gegen seine Gegner bewahrte er – unanfechtbar und bescheiden in seinem Privatleben – immer eine gewisse Noblesse, und sein offizieller Antisemitismus hat ihn nie gehindert, seinen früheren jüdischen Freunden wohlgesinnt und gefällig zu bleiben. Als seine Bewegung schließlich den Wiener Gemeinderat eroberte und er – nach zweimaliger Verweigerung der Sanktionierung durch den Kaiser Franz Joseph, der die antisemitische Tendenz verabscheute – zum Bürgermeister ernannt wurde, blieb seine Stadtverwaltung tadellos gerecht und sogar vorbildlich demokratisch; die Juden, die vor diesem Triumph der antisemitischen Partei gezittert hatten, lebten ebenso gleichberechtigt und angesehen weiter. Noch war nicht das Hassgift und der Wille zu gegenseitiger restloser Vernichtung in den Blutkreislauf der Zeit gedrungen.

Aber schon tauchte eine dritte Blume auf, die blaue Kornblume, Bismarcks Lieblingsblume und Wahrzeichen der deutschnationalen Partei, die – man verstand es nur damals nicht – eine bewusst revolutionäre war, die mit brutaler Stoßkraft auf die Zerstörung der österreichischen Monarchie zu Gunsten eines – Hitler vorgeträumten – Großdeutschlands unter preußischer und protestantischer Führung hinarbeitete. Während die christlich-soziale Partei in Wien und am Lande, die sozialistische in den Industriezentren verankert war, hatte die deutschnationale ihre Anhänger fast einzig in den böhmischen und alpenländischen Randgebieten; zahlenmäßig schwach, ersetzte sie ihre Unbeträchtlichkeit durch wilde Aggressivität und maßlose Brutalität. Ihre paar Abgeordneten wurden der Terror und (im alten Sinn) die Schande des österreichischen Parlaments; in ihren Ideen, in ihrer Technik hat Hitler, gleichfalls ein Randösterreicher, seinen Ursprung. Von Georg Schönerer hat er den Ruf »Los von Rom!« übernommen, dem – deutsch gehorsam folgend – damals Tausende Deutschnationale, um den Kaiser und den Klerus zu verärgern, vom Katholizismus zum Protestantismus übertraten, von ihm die antisemitische Rassentheorie – »In der Rass’ liegt die Schweinerei«, sagte sein illustres Vorbild –, von ihm vor allem den Einsatz einer rücksichtslosen, blind dreinschlagenden Sturmtruppe und damit das Prinzip, durch Terror einer kleinen Gruppe die zahlenmäßig weit überlegene, aber human-passivere Majorität einzuschüchtern. Was für den Nationalsozialismus die SA-Männer leisteten, die Versammlungen mit Gummiknüppeln zersprengten, Gegner nachts überfielen und zu Boden hieben, besorgten für die Deutschnationalen die Corpsstudenten, die unter dem Schutz der akademischen Immunität einen Prügelterror ohnegleichen etablierten und bei jeder politischen Aktion auf Ruf und Pfiff militärisch organisiert aufmarschierten. Zu sogenannten »Burschenschaften« gruppiert, zerschmissenen Gesichts, versoffen und brutal, beherrschten sie die Aula, weil sie nicht wie die andern bloß Bänder und Mützen trugen, sondern mit harten, schweren Stöcken bewehrt waren; unablässig provozierend, hieben sie bald auf die slavischen, bald auf die jüdischen, die katholischen, die italienischen Studenten ein und trieben die Wehrlosen aus der Universität. Bei jedem »Bummel« (so hieß jener Samstag der Studentenparade) floss Blut. Die Polizei, die dank dem alten Privileg der Universität die Aula nicht betreten durfte, musste von außen tatenlos zusehen, wie diese feigen Radaubrüder wüteten, und durfte sich ausschließlich darauf beschränken, die Verletzten, die blutend von den nationalen Rowdys die Treppe hinab auf die Straße geschleudert wurden, fortzutragen. Wo immer die winzige, aber maulaufreißerische Partei der Deutschnationalen in Österreich etwas erzwingen wollte, schickte sie diese studentische Sturmtruppe vor; als Graf Badeni unter Zustimmung des Kaisers und des Parlaments eine Sprachenverordnung beschlossen hatte, die Frieden zwischen den Nationen Österreichs schaffen sollte und wahrscheinlich den Bestand der Monarchie noch um Jahrzehnte verlängert hätte, besetzte diese Handvoll junger, verhetzter Burschen die Ringstraße. Kavallerie musste ausrücken, es wurde mit dem Säbel zugeschlagen und geschossen. Aber so groß war in jener tragisch schwachen und rührend humanen liberalen Ära der Abscheu vor jedem gewalttätigen Tumult und jedem Blutvergießen, dass die Regierung vor dem deutschnationalen Terror zurückwich. Der Ministerpräsident demissionierte, und die durchaus loyale Sprachenverordnung wurde aufgehoben. Der Einbruch der Brutalität in die Politik hatte seinen ersten Erfolg zu verzeichnen. Alle die unterirdischen Risse und Sprünge zwischen den Rassen und Klassen, die das Zeitalter der Konzilianz so mühsam verkleistert hatte, brachen auf und wurden Abgründe und Klüfte. In Wirklichkeit hatte in jenem letzten Jahrzehnt vor dem neuen Jahrhundert der Krieg aller gegen alle in Österreich schon begonnen.

Wir jungen Menschen aber, völlig eingesponnen in unsere literarischen Ambitionen, merkten wenig von diesen gefährlichen Veränderungen in unserer Heimat: wir blickten nur auf Bücher und Bilder. Wir hatten nicht das geringste Interesse für politische und soziale Probleme: was bedeuteten diese grellen Zänkereien in unserem Leben? Die Stadt erregte sich bei den Wahlen, und wir gingen in die Bibliotheken. Die Massen standen auf, und wir schrieben und diskutierten Gedichte. Wir sahen nicht die feurigen Zeichen an der Wand, wir tafelten wie weiland König Belsazar unbesorgt von all den kostbaren Gerichten der Kunst, ohne ängstlich vorauszublicken. Und erst als Jahrzehnte später Dach und Mauern über uns einstürzten, erkannten wir, dass die Fundamente längst unterhöhlt gewesen waren und mit dem neuen Jahrhundert zugleich der Untergang der individuellen Freiheit in Europa begonnen hatte.