Der Krimi in Literatur, Film und Serie

Tekst
0
Recenzje
Przeczytaj fragment
Oznacz jako przeczytane
Czcionka:Mniejsze АаWiększe Aa

2.2 Gängige Strukturen, Themen und Motive des Krimis

Im Mittelpunkt eines Krimis stehen Verbrechen und der Versuch ihrer Aufklärung (natürlich kann es auch nur ein Verbrechen sein, oft sind es aber mehrere) mit Hilfe von Indizien. Auf die Genealogie und Bedeutung des Wortes Verbrechen weist etwa das Grimmsche Wörterbuch hin: „die alte sinnliche bedeutung zerstücken, verstümmeln ist in der schriftsprache nicht erhalten, sondern durch die zusammensetzung mit zer verdrängt; nur in den mundarten, in welchen die zusammensetzung mit zer unüblich ist“. Eingebürgert hat es sich, unter Verbrechen eine „rechtverletzende handlung, mit der nebenbedeutung der absichtlichen“, zu verstehen (Grimm 2019). Was jeweils unter einem Verbrechen als ‚rechtsverletzender Handlung‘ zu verstehen ist, hängt von den entsprechenden Gesetzen einer Zeit und in einer Gesellschaft ab und kann strittig sein, wie etwa die zahlreichen Krimis zeigen, die Gerichtsverhandlungen zum Gegenstand haben.

Protagonist*innen der Handlung sind demnach vor allem Verbrecher- und Ermittlerfiguren, dazu kommen Helferfiguren auf beiden Seiten. Je nach Handlung können eher bereits geschehene oder zu erwartende Verbrechen im Mittelpunkt stehen. Oft wird zunächst die Vorgeschichte eines Verbrechens geschildert. Handlungen, Motive und Symbole dienen in dem Fall als Vorausdeutungen auf das kommende Geschehen und werden später Teil der Ermittlung. Spannung wird auch dadurch erzeugt, dass das Verbrechen einerseits motiviert, andererseits aber durch falsche Fährten (‚red herrings‘) und irreführende Hinweise in seiner Motivierung verunklart wird. Auf die Spitze getrieben wird die Konzentration auf Indizien- und Täter*innensuche mit dem ‚locked-room-mystery‘, mit dem Geheimnis des verschlossenen Raums (vgl. Alewyn 1998, 71), wie es sich in der als Muster des Genres angesehenen Erzählung Edgar Allan PoePoe, Edgar Allans findet, The Murders in The Rue MorgueThe Murders in the Rue Morgue (1841).

Die Voraussetzungen der Entwicklung eines solchen Genres im 18. Jahrhundert werden in der Regel mit Begriffen wie Aufklärung und dem bereits verwendeten Begriff Moderne bezeichnet und mit der Ablösung des christlichen Weltbildes durch das naturwissenschaftliche sowie mit der Entstehung einer bürgerlichen Öffentlichkeit in Verbindung gebracht. So hat Bertolt BrechtBrecht, Bertolt mit Blick auf den Kriminalroman von der „Annäherung an den wissenschaftlichen Standpunkt“ gesprochen (Brecht 1998, 34). Im 18. Jahrhundert verändern sich die ursprünglich noch weitgehend verbindlichen, wenn auch (etwa durch Ereignisse wie den 30-jährigen Krieg) bereits erschütterten Eckpfeiler zentraleuropäischen Lebens, dies betrifft sowohl die Abhängigkeit des Individuums von religiösen wie weltlichen Rahmensetzungen. Die Stellung des Individuums innerhalb einer Ständepyramide, in die es hineingeboren wurde, hat weitgehend ausgedient. Das Bürgertum entsteht und mit ihm ein neues Konzept von Individualität, das durch eine auf gesellschaftlichen Fortschritt orientierte Bildung, für die Vernunft und Tugend zentrale Begriffe sind, nun als neues Paradigma die größtmögliche Freiheit des Individuums setzt.

Nun erst kann ein Konzept „individueller Schuld“ (Luhmann 2016, 51) entstehen. Zugleich entfällt ein Anspruch auf ‚höhere‘ Gerechtigkeit, sofern die Individuen nicht weiterhin Religionen oder Ideologien vertrauen, auch wenn die Spuren solcher Konzepte bis in die normativen Ordnungen der Realität wie der Literatur weiterwirken. Die gewonnene individuelle Freiheit hat Folgen, die nicht immer absehbar sind: „Auch beste Absichten können üble Folgen haben und auch ein einwandfrei geführtes Leben kann miserabel enden“ (Luhmann 2016, 95).

Es kommt in der Moderne zu einer „doppeldeutige[n] Konstellation“: Das Subjekt ist einerseits „dasjenige, das unterworfen ist, das bestimmten Regeln unterliegt und sich ihnen unterwirft“, und es wird andererseits „zu einer vorgeblich autonomen, selbstinteressierten, sich selbst verwirklichenden Instanz“ (Reckwitz 2010, 14). Das „hybride Subjekt“ (Reckwitz 2006) wird also krisenhaft geboren. Die neuen Gestaltungsspielräume implizieren Gefahren, gerade in einer nun immer weiter ausdifferenzierten Gesellschaft: „Diese immanenten Heterogenitäten und Fissuren machen die [post-]modernen Subjektformen instabil und lassen sie potentiell als mangelhaft erlebbar werden: die Muster gelungener Subjekthaftigkeit enthalten damit sogleich spezifische Muster des Scheiterns der Identität“ (Reckwitz 2006, 19).

In einer solchermaßen veränderten Welt wird das, was wir unter Verbrechen verstehen, daher überhaupt erst möglich. Die Polizei beispielsweise, wie wir sie kennen, ist ein Produkt des 19. Jahrhunderts. Der Wechsel vom christlichen zum naturwissenschaftlichen Weltbild, vom ausgehenden Mittelalter zur Aufklärung macht ein ganz neues Regelsystem notwendig:

Dieser Wille zur Wahrheit [den die Naturwissenschaften scheinbar kultivieren und so die Aufklärung vorantreiben] stützt sich, ebenso wie die übrigen Ausschließungssysteme, auf eine institutionelle Basis; er wird zugleich verstärkt und ständig erneuert von einem ganzen Geflecht von Praktiken wie vor allem natürlich der Pädagogik, dem System der Bücher, der Verlage und der Bibliotheken, den gelehrten Gesellschaften einstmals und den Laboratorien heute. Gründlicher noch abgesichert wird er zweifellos durch die Art und Weise, in der das Wissen in einer Gesellschaft eingesetzt wird, in der es gewertet und sortiert, verteilt und zugewiesen wird. (Foucault 2000, 15)

Michel FoucaultFoucault, Michel hat eine Geschichte des ‚Überwachens und Strafens‘ geschrieben (Foucault 1994). Im Mittelalter war ein Verbrechen das, was als Handlung nicht nur jemanden individuell oder eine Gruppe schädigte, sondern durch den Verstoß gegen die als göttlich angesehene Ordnung und ihre Vertreter direkt Gott beleidigte: „Das Verbrechen greift über sein unmittelbares Opfer hinaus den Souverän an; es greift ihn persönlich an, da das Gesetz als Wille des Souveräns gilt; es greift ihn physisch an, da die Kraft des Gesetzes die Kraft des Fürsten ist“ (Foucault 1994, 63). Und der hat seine Legitimation von Gott.

So erklärt sich die „peinliche Strafe“ (Foucault 1994, 46) als „Teil eines Rituals“ (Foucault 1994, 47), mit dem es, als Teil der Wiederherstellung der göttlichen Ordnung, auch „um die Rettung der Seele“ ging (Foucault 1994, 61). Deshalb sind die Verfahren damals andere als heute. Bereits ein Verdacht konnte eine aus heutiger Sicht unheimliche Evidenz haben: „Die Beweisführung bei Gericht gehorchte also nicht dem dualistischen System wahr/falsch, sondern einem Prinzip der stetigen Abstufung: eine bestimmte Stufe der Beweisführung bildete bereits eine Schuldstufe und hatte darum eine bestimmte Strafstufe zur Folge“ (Foucault 1994, 57).

Mit der Aufklärung entsteht ein individualitätsbasiertes Konzept von Humanität, das auch dazu führt, dass das frühere Strafsystem nicht mehr ‚verstanden‘ wird. Foucault stellt wohl auch deshalb etwas ironisch fest, dass „man die Strafen, die sich ihrer ‚Gräßlichkeit‘ nicht schämten, durch solche“ ersetzte, „die sich ihrer ‚Menschlichkeit‘ rühmten“ (Foucault 1994, 75). Oder noch schärfer: „Die ‚Aufklärung‘, welche die Freiheiten entdeckt hat, hat auch die Disziplinen erfunden“ (Foucault 1994, 285). Es lassen sich also nicht nur Brüche, sondern auch Kontinuitäten feststellen, ebenso in der Tradierung religiöser Muster. Im deutschsprachigen Raum wirkt das christliche Weltbild sogar in der feudalen politischen Ordnung weiter. Noch 1813 ist „Mit Gott für König und Vaterland“ die Devise des von Friedrich Wilhelm III. von Preußen gestifteten Landwehrkreuzes.

Dennoch verändert sich die Machtverteilung immer mehr von der horizontalen auf die vertikale Ebene. Um unter solchen Umständen noch eine funktionierende Gesellschaftsordnung gewährleisten zu können, muss ein immer ausgeklügelteres System implementiert werden, in dessen Zentrum die Selbstdisziplinierung des Subjekts oder Individuums steht. FoucaultFoucault, Michel nennt dies „eine neue ‚politische Ökonomie‘ der Strafgewalt“ (Foucault 1994, 103). Zum Modell wird das von Jeremy BenthamBentham, Jeremy erdachte Panoptikum, das „die Schaffung eines bewußten und permanenten Sichtbarkeitszustandes beim Gefangenen“ zur Folge hat (Foucault 1994, 258). Die Gefängniszellen sind kreisförmig um einen Turm herum organisiert, aus dem heraus in die Zellen gesehen werden kann – aber nicht umgekehrt. Die Strafgefangenen können also nie sicher sein, wann sie überwacht werden. Das Panoptikum wird zum Modell der neuen, individualisierten Gesellschaft:

Derjenige, welcher der Sichtbarkeit unterworfen ist und dies weiß, übernimmt die Zwangsmittel der Macht und spielt sie gegen sich selber aus; er internalisiert das Machtverhältnis, in welchem er gleichzeitig beide Rollen spielt; er wird zum Prinzip seiner eigenen Unterwerfung. (Foucault 1994, 260)

Das Panoptikum wird zum „Ei des Kolumbus im Bereich der Politik“, denn es „kann sich wirklich in jede Funktion integrieren (Erziehung, Heilung, Produktion, Bestrafung)“ (Foucault 1994, 265). In einer solchen „Disziplinargesellschaft“ (Foucault 1994, 269) gibt es erstens keinen „Raum des Privaten“ (Hamann 2016, 29), der es erlauben würde, eine Grenze zum Politischen zu ziehen, und zweitens sind auch Krimis Teil der Ökonomie der Selbstdisziplinierung, etwa indem sie den Leser*innen vor Augen führen, welche Konsequenzen bei Straftaten drohen, oder indem sie ihnen ein Ventil bieten, Figuren ihre Aggressionen stellvertretend ausleben zu lassen, also ihre Impulskontrolle in der Realität stärken. Als problematisch werden daher immer wieder Produktionen gesehen, denen etwa das Potenzial zugeschrieben wird, gewaltstimulierend zu wirken – dies wäre der gegenteilige Effekt. Andererseits zeichnet es gerade die im Kulturbetrieb besonders wertgeschätzten Krimis aus, dass sie Aspekte der Disziplinargesellschaft für die Leser*innen transparent machen und so dabei helfen, die skizzierten Mechanismen kritisch zu hinterfragen, sofern sie einer ‚Unterwerfung‘ des Subjekts dienen.

 

Ein Beispiel für eine relativ einfache, auf der Ebene der histoire angesiedelte Kritik wären Krimis, die Missstände in Gefängnissen thematisieren; eine ebenfalls Ende des 18. Jahrhunderts erst in der Form entstehende Einrichtung, der bereits FoucaultFoucault, Michel ein denkbar schlechtes Zeugnis ausstellt: „Das Gefängnis kann gar nicht anders, als Delinquenten zu fabrizieren“ (Foucault 1994, 342). Er sensibilisiert insbesondere für den Effekt der neuen und ‚modernen‘ Strafordnung, tendenziell bereits „die Abweichung von einer Regel, einem Durchschnitt, einer Anforderung, einer Norm“ als möglicherweise bestrafenswert anzusehen (Foucault 1994, 386). Eine Frage bei der Interpretation und Bewertung von Krimis wird es daher sein, ob sie an der „Fabrikation des Disziplinarindividuums“ (Foucault 1994, 397) mitwirken oder in einer über Immanuel KantKant, Immanuel, Friedrich SchillerSchiller, Friedrich und Wilhelm von HumboldtHumboldt, Wilhelm von geprägten aufklärerischen Tradition helfen, Normen und normative Verfestigungen in der Gesellschaft immer wieder neu zu überprüfen. Gerade dafür erscheint die Kunst im Sinne LuhmannLuhmann, Niklass (s.o.) – hier verstanden als Literatur, Film und Serie – als besonders geeignet.

Es wird zudem an konkreten Beispielen zu zeigen sein, was es heißt, wenn FoucaultFoucault, Michel feststellt: „Aber der Körper steht auch unmittelbar im Feld des Politischen“, wenn er weiter von einer „politische[n] Besetzung des Körpers“ spricht (Foucault 1994, 37) und von einer „Mikrophysik der Macht, die von den Apparaten und Institutionen eingesetzt wird“ (Foucault 1994, 38), hinter denen freilich machtvolle Subjekte stehen oder in denen solche machtvollen Subjekte agieren. Auch der Krimi legt, oft in drastischer Zuspitzung, Zeugnis ab von der „Technologie der Macht über den Körper“ (Foucault 1994, 41). Dies kann mehr oder weniger differenziert ausfallen, wobei etwa die Kritik an der Arbeitsweise der Ordnungsmächte Polizei und Justiz durch vielfache Wiederholung und geringe Variation von Mustern teilweise zu Klischees geronnen ist.

Wenn Ende des 19. Jahrhunderts Sherlock Holmes die Arbeit der Polizei in den Schatten stellt und Inspektor Lestrade von Scotland Yard Fälle nicht ohne ihn lösen kann, mag diese Art von Kritik noch innovativ gewesen sein. In trivialen Romanen oder gängigen Film- und Fernsehproduktionen wie den Verfilmungen nach Agatha ChristieChristie, Agathas Romanen um die Hobbydetektivin Miss Marple unter dem Titel Agatha Christie’s MarpleAgatha Christie’s Marple (2004-2013) wird freilich vorrangig das Bedürfnis der Zuschauer*innen bedient, sich zur Stärkung des eigenen Egos mit Alltagsfiguren identifizieren und über Repräsentanten der gesellschaftlichen Ordnung den Kopf schütteln oder lachen zu können. Auf der anderen Seite steht das gängige Sehgewohnheiten verunsichernde Verhalten von Täterfiguren, die zur Identifikation einladen – wie im Fall des intellektuellen Kannibalen Hannibal Lecter, gespielt von Anthony HopkinsHopkins, Anthony, in The Silence of the LambsThe Silence of the Lambs (dt. Das Schweigen der Lämmer von 1991; Regie: Jonathan DemmeDemme, Jonathan).

Wie sehr Aufklärung und Individualisierung im Mittelpunkt der sich zeitgleich mit der Moderne entwickelnden Gattung stehen, zeigt die Konzentration auf das Individuelle des Täters und seiner Tat, ebenso des Ermittlers und seiner Methoden. Nicht zufällig erinnert man bestimmte Einzelfiguren, die im Fall von Sherlock Holmes gattungsprägende Funktion haben. Ermittler wie Täter sind oft radikale Individualisten, die – als zwei Seiten einer Medaille, man denke an Holmes’ Antagonisten James Moriarty – das Geschehen bestimmen und einen Kampf ‚Gut‘ gegen ‚Böse‘ ausfechten (hierzu später mehr).

Auch in der Folge sind es gerade stark individualisierte Figuren wie Jane Marple (oder Hercule Poirot) bei Agatha ChristieChristie, Agatha oder der ebenfalls bereits erwähnte Hannibal Lecter, die im Gedächtnis bleiben und eine starke produktive Rezeption zeigen, vor allem im Film. So ist allein die Zahl der Verfilmungen mit Sherlock Holmes kaum mehr zu überschauen, das Spektrum reicht von den legendären Schwarzweiß-Verfilmungen (die erste aus dem Jahr 1939) mit Basil RathboneRathbone, Basil in der Hauptrolle über herausragende und mit der Figur frei umgehende Einzelproduktionen wie The Private Life of Sherlock HolmesThe Private Life of Sherlock Holmes (dt. Das Privatleben des Sherlock Holmes) von Star-Regisseur Billy WilderWilder, Billy aus dem Jahr 1970 über die sich um Werktreue bemühende BBC-Produktion Sherlock HolmesSherlock Holmes mit Jeremy BrettBrett, Jeremy in der Hauptrolle aus den Jahren 1984-1994 bis zu der besonders erfolgreichen, ebenfalls von der BBC produzierten Serie SherlockSherlock (seit 2010) mit den beiden zu Stars gewordenen Schauspielern Benedict CumberbatchCumberbatch, Benedict und Martin FreemanFreeman, Martin als Holmes und Dr. Watson.

Wenn die starke Individualität der Figur und ihres Hauptdarstellers zusammenkommen, erlangen solche Filme auch Kult-Status. Ein bekanntes Beispiel hierfür sind die Poirot-Verfilmungen mit Peter UstinovUstinov, Peter, etwa Death on the NileDeath on the Nile (dt. Tod auf dem Nil) von 1978; ebenso die vier Miss-Marple-Filme mit Margaret RutherfordRutherford, Margaret (unter der Regie von George PollockPollock, George) aus den Jahren 1961-64. Als eine Steigerung des Bekanntheitsgrades durch potenzierte Individualität könnte man noch zwei Verfilmungen von Agatha ChristiesChristie, Agatha Roman Murder on the Orient ExpressMurder on the Orient Express (dt. Mord im Orient-Express; 1934) ansehen, die ein kaum überbietbares Starensemble aufweisen. In der Verfilmung von Sidney LumetLumet, Sidney aus dem Jahr 1974 spielen u.a. Albert FinneyFinney, Albert (als Poirot), Lauren BacallBacall, Lauren, Ingrid BergmanBergman, Ingrid, Michael YorkYork, Michael, Jacqueline BissetBisset, Jacqueline, Richard WidmarkWidmark, Richard und Sean ConneryConnery, Sean. In Kenneth BranaghBranagh, Kenneths Verfilmung von 2017 sind es der Regisseur selbst, der ebenso ein berühmter Schauspieler ist (hier als Hercule Poirot), Penélope CruzCruz, Penélope, Willem DafoeDafoe, Willem, Judi DenchDench, Judi, Johnny DeppDepp, Johnny und Michelle PfeifferPfeiffer, Michelle.

Im US-amerikanischen Typus des sogenannten ‚hardboiled detective‘ manifestiert sich eine maskuline Form der Individualität, die einen ‚homme fatal‘ mit Figuren der ‚femme fatale‘ zusammenbringt, wobei der Detektiv ein ‚lonely wolf‘ ist und bleibt. Anders gesagt: Die Detektiv-Figur ist einerseits betont männlich und andererseits einsam und in ihrer Persönlichkeit gebrochen. Sie begegnet immer wieder ebenso mondänen wie zwielichtigen Frauen, wobei solche Bekannt- und manchmal auch Liebschaften selten dauerhafte Folgen zeitigen. Der englische Typus – von Sherlock Holmes über Hercule Poirot bis Miss Marple – wirkt dagegen entsexualisiert. Die Figur scheint größtenteils ohne eine Partner- oder Liebschaft zurecht zu kommen und sich auch keine zu wünschen. Die relative Einsamkeit ist einerseits der weitergetriebenen Individualisierung geschuldet und andererseits der Dramaturgie einer Handlung, die sich auf Verbrechen und deren Aufklärung konzentriert.

Neben anderen, noch zu diskutierenden Faktoren dürfte es gerade der hochgetriebene Individualisierungsgrad der Hauptfiguren sein, der viele Krimis für heutige Rezipient*innen so attraktiv macht. Der Krimi setzt der Suche nach Ordnung in einer unübersichtlich gewordenen Welt ein ‚role model‘ entgegen, das die Unwägbarkeiten, Fährnisse und Paradoxien der Moderne meistert oder zumindest aushält.

Allerdings hat sich ein Bild des Krimis verfestigt, das quer zu der Entwicklung des Genres steht. Das Erbe der Aufklärung ins Zentrum rückend hat Bertolt BrechtBrecht, Bertolt festgestellt: „Der Kriminalroman handelt vom logischen Denken und verlangt vom Leser logisches Denken. Er steht dem Kreuzworträtsel nahe, was das betrifft“ (Brecht 1998, 33). Das trifft zu 100 Prozent allerdings nur auf triviale Beispiele des Genres zu. Selbst die Krimis, in denen die immer wieder gehandelten Prototypen auftreten, allen voran PoePoe, Edgar Allans Auguste Dupin und Conan DoyleConan Doyle, Arthurs Sherlock Holmes, zeigen deutlich, dass es über die Aufklärung eines Verbrechens hinaus etwas gibt, das ebenso wenig zähmbar ist wie der Gorilla bei Poe oder der Hund der Baskervilles bei Doyle. Man kann es einfangen und bannen und vielleicht sogar töten, aber höchstens für die Dauer der Erzählung, über die hinaus es weiterwirkt.

Helmut HeißenbüttelHeißenbüttel, Helmut hat auf diesen Kern bei Poe aufmerksam gemacht: „Der Täter ist ein Affe. In dieser extremen Polarisierung von Ratio und Unmenschlichkeit erscheint der Doppelmord in der Rue Morgue wie ein Programm, das in so reiner Ausprägung nie wieder eingeholt werden sollte“ (Heißenbüttel 1998, 111). Freilich gibt es in anderen Texten und auch in Filmen nicht weniger extreme Gegensätze, die nur anders angelegt sind und eigentlich Durchkreuzungen von gängigen Mustern darstellen. So ein Gegensatz findet sich beispielsweise in HoffmannHoffmann, E.T.A.s Figur Cardillac in Das Fräulein von ScuderiDas Fräulein von Scuderi. Der Goldschmied ist allseits beliebt und geachtet, er ist ein Künstler par excellence – und zugleich ein Mörder von gleicher Perfektion. In Patrick SüskindSüskind, Patricks Das ParfumDas Parfum – Die Geschichte eines Mörders (1985) besteht der Gegensatz in der Geruchlosigkeit des Protagonisten einerseits und seiner besonderen Geruchswahrnehmung andererseits. In Robert HamersHamer, Robert Kind Hearts and CoronetsKind Hearts and Coronets (dt. Adel verpflichtet) von 1949 wird der Gegensatz zwischen dem eleganten Snobismus der Hauptfigur und der Brutalität ihrer Taten für die Erzeugung schwarzen Humors genutzt. Diese Reihe ließe sich noch lange fortsetzen.

Zumindest für anspruchsvollere Krimis scheinen solche Gegensätze konstitutiv. Zu ihnen passt dann auch die fundamentale Erschütterung der gesamten Ordnung und die trotz allem bleibende Verunsicherung, auf die BrechtBrecht, Bertolt mit der folgenden Bemerkung anspielt: „Ein Abenteuerroman könnte kaum anders geschrieben werden als ein Kriminalroman: Abenteuer in unserer Gesellschaft sind kriminell“ (Brecht 1998, 35). Er ist auf dem richtigen Weg, wenn er der „Klarheit“, die „aber erst nach der Katastrophe“ kommt, so weit misstraut, dass er seine Überlegungen genau an der Stelle abbricht (Brecht 1998, 37).

Die Faszination Brechts für den Krimi lässt sich vielleicht mit einem Wort Richard AlewynAlewyn, Richards besser erklären: „Im Detektivroman dagegen wird eben die dem Leser vertraute Welt verfremdet“ (Alewyn 1998, 69). Dafür werde erst einmal eine vertraute Welt erzeugt. So komme es zu einer „Fremdheitsrelation“, die „aus dem Kontrast zwischen einer Welt der brutalen Gewalttat und der domestizierten Umwelt des Lesers“ entstehe (ebd.). Die wahrgenommene Realität der Leser*innen, auf die der Krimi referiert, wird plötzlich doppelbödig, der Nervenkitzel hält Einzug mit der Frage, ob so etwas nicht jederzeit und überall passieren könnte; zugleich sagt aber die aus der Alltagsbeobachtung gewonnene Erfahrung, dass dies eine unbegründete Sorge ist. Der Krimi wäscht seinen Leser*innen den Pelz und macht sie nicht nass, er sorgt für Erregung und Anspannung im Modus des Möglichen und im sicheren Umfeld des Sessels oder Sofas.