Der Krimi in Literatur, Film und Serie

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1.3 Gratifikationen für Krimi-Leser*innen

Lesezeit ist Lebenszeit, auch wenn sie nicht gewaltsam verkürzt wird. Von solchen gewaltsamen Verkürzungen handelt dieser Band Gott sei Dank nur in Theorie und Fiktion. Gibt es in der Realität überhaupt Fälle, in denen Bücher getötet haben? Umberto EcoEco, Umbertos Roman Der Name der RoseDer Name der Rose (1980) schildert einen solchen Fall, dort ist es bekanntlich ein an den Seiten vergiftetes Buch, das lesehungrige Mönche ihr Leben kostet. Der im Mittelalter spielende Kriminalfall – die augenzwinkernden Verweise auf Conan DoyleConan Doyle, Arthurs Figuren Sherlock Holmes und Doktor Watson sind offensichtlich – würde auch in die Reihe der zu behandelnden Bücher gehören, wenn genug Raum für alles wäre, was wichtig ist. Ebenso die Verfilmung von 1986, eine der überzeugenderen Literaturverfilmungen mit deutscher Beteiligung. Regie führte Jean-Jacques AnnaudAnnaud, Jean-Jacques und die Hauptrolle spielte Ex-James-BondJames Bond Sean ConneryConnery, Sean. Das Beispiel zeigt, dass Tragik und Komik nah beieinander liegen: AristotelesAristoteles’ Buch über die Komödie ist es, das als verschollen gilt und aus dem die Mönche ihre verbotenen Lesefrüchte kosten. Dass das Buch mit der Bibliothek des Klosters verbrennt, ist ein wunderbarer Roman- und Film-Trick. So liefert Eco eine fiktionale Erklärung für das faktuale Fehlen eines der (vermutlich) einst realen Bücher, die grundlegend für unsere Kultur waren oder gewesen wären.

Ecos metafiktionaler Roman zeigt deutlich: Fiktionen modellieren mögliche Wirklichkeiten. Es wird zu diskutieren sein, wie sie dies tun und weshalb. „Nichts entspannt so sehr wie Mord und Totschlag“, titelte der Tagesspiegel (Huber 2016). Die besondere Konjunktur des Genres erklärt Joachim HuberHuber, Joachim wie folgt:

Das Publikum sucht über die Klammer aus Verbrechen und Entertainment ja seiner Alltagserschlaffung zu entkommen. Alltag, das ist zwar die gemeinhin gewollte Lebensform, gerne abgesichert über ein Kordon aus Versicherungen gegen das Nicht-Alltägliche, aber dieser Alltag hat eben seinen sehr niedrigen Thrill-Horizont. Da kommt der Fernsehkrimi gerade recht: Teilhabe und Teilnahme an fremder Gefahr bis hin zum Mord, das Schlimmste, was passieren kann, sind Schweißausbruch und Angst vorm Gang in den Keller. Spannung wird Entspannung, Entspannung wird Spannung, das klingt nach Paradox und ist doch nur die Klammer, die Krimi und Krimifan umfasst. (ebd.)

Antje StrubelStrubel, Antje kommt im Deutschlandfunk zu einem etwas anderen Befund: „Die Konjunktur von Krimis in einer Gesellschaft, heißt es, weise auf steigende soziale Spannungen hin“ (Strubel 2007). Bedeutet dies aber nun, dass Krimis das Animalische im Menschen verarbeiten helfen oder befördern, dass sie soziale Spannungen reduzieren oder verstärken? Wenn Strubel, die selbst Schriftstellerin ist, die Lektüre des von ihr besprochenen Bandes mit Kriminalerzählungen von Håkan NesserNesser, Håkan als „Zeitverschwendung“ abtut (ebd.), dann wird offensichtlich, dass sie andere Maßstäbe an die Lektüre anlegt als jene nach Entspannung suchenden Rezipient*innen.

Nicht zu vergessen ist, dass Krimis Waren sind. Es ist daher kein Zufall, dass sich etwa auch das Börsenblatt des deutschen Buchhandels mit der Frage der Krimi-Konjunktur beschäftigt hat. Michael Roesler-GraichenRoesler-Graichen, Michael nennt Zahlen aus dem Jahr 2011, an denen sich grundsätzlich wenig geändert haben dürfte:

Spannungsliteratur hat Konjunktur: mehr als ein Viertel der gesamten Belletristikproduktion der deutschen Verlage sind Krimis, Thriller oder Mischformen, die auch Elemente aus Science-Fiction und Fantasy enthalten können. Die Tendenz ist insgesamt gleichbleibend, auch wenn es laut ‚Buch und Buchhandel in Zahlen‘ für das vergangene Jahr einen leichten prozentualen Rückgang zu verzeichnen gibt (2010: 27 Prozent; 2009: 28,3 Prozent). […] Während die Zahl der Novitäten auf hohem Niveau bleibt, wird das Spektrum der Krimireihen breiter und die Genredifferenzierung immer größer. Beispiele sind die neue Reihe Polaris von Rowohlt, die Internationalisierung des Regionalkrimis (Luxemburg, Bretagne, Mallorca etc.) und die immer ausgefallenere Spezialisierung (Wein-, Kaffeehaus-, Schrebergarten-, Wilhelm-Busch-, Gänse-Krimi). (Roesler-Graichen 2011)

Es gilt das Gesetz von Angebot und Nachfrage: Wenn sich Krimis nicht so gut verkaufen würden, gäbe es viel weniger davon. Die genannten Subgenres deuten an, dass Gewalt dabei nicht nur auf Menschen beschränkt bleibt. Zu den besonders originellen Beispielen gehören die millionenfach verkauften Schafskrimis (Glenkill. Ein SchafskrimiGlenkill. Ein Schafskrimi, 2005; Garou. Ein Schaf-ThrillerGarou. Ein Schaf-Thriller, 2010) und der Papageienkrimi (GrayGray, 2017) von Leonie SwannSwann, Leonie, einer in Dachau geborenen Autorin, die unter Pseudonym schreibt.

Umso dringender gestaltet sich nach der Frage, was ein Krimi überhaupt ist oder sein kann, die Frage, welche Gratifikationen Krimis bereitstellen, um so erfolgreich sein zu können. Die in den letzten Jahrzehnten boomenden Regionalkrimis beispielsweise punkten mit ihrem Bezug zu einem Ort oder einer Landschaft, wobei das Bedürfnis nach Identifikation mit einer Herkunftsregion ebenso eine Rolle spielen dürfte wie das nach lokalen Sensationen, auch wenn sie nur fiktiv sind. Besonders bekannte Orte und Landschaften bieten darüber hinaus Leser*innen Anknüpfungspunkte, die diese Gegenden vielleicht nur von Urlauben kennen. Allein die Topographie sorgt für eine erhöhte Aufmerksamkeit, vergleichbar etwa mit der früher so populären Heimatliteratur.

Wenn nachfolgend bestimmte Erzähltexte, Filme und Serienfolgen ausgewählt werden und der Vorschlag gemacht wird, die Geschichte der modernen Kriminalliteratur bereits im 18. Jahrhundert und hier vor allem mit Friedrich SchillerSchiller, Friedrichs Der Verbrecher aus verlorener EhreDer Verbrecher aus verlorener Ehre und Der GeisterseherDer Geisterseher zu beginnen, dann wird dies bei einem so populären und bekannten Genre vielleicht bei einigen zögerliche Zustimmung, bei anderen aber prinzipiellen Protest hervorrufen. Nun kann ein solches Büchlein – wie jede Publikation – nur ein Diskursbeitrag sein, der im besten Falle weitere Diskursbeiträge provoziert. Wenn diese Einführung Interesse genug wecken sollte, dass das für die Produktion und Rezeption von Literatur und Film zentrale Genre weniger stiefmütterlich behandelt wird, dann ist schon viel gewonnen.

*****

Mein Dank gebührt allen, die mit mir über das Thema diskutiert und mir Anregungen gegeben haben, dazu zählen Helga Arend, Renate Giacomuzzi, Klaus Kanzog, Nicole Mattern, Kirsten Reimers, Helmut Schmiedt und andere, die bitte nicht böse sind, wenn sie hier nicht namentlich genannt werden.

Außerdem danke ich Kathrin Heyng von der Verlagsgruppe Narr Francke Attempto sehr herzlich für Ihre Unterstützung von Anfang an und für die wie stets umsichtige und freundliche Betreuung des Projekts.

Fragen zu diesem Kapitel:

Weshalb ist der Krimi ein so populäres Genre?

Welches sind die wichtigsten Merkmale eines Krimis?

Weshalb ist es ein Problem, die Geschichte des Genres mit Poes Erzählung über die Morde in der Rue Morgue beginnen zu lassen?

Wie lässt sich der Krimi unterteilen?

Weshalb sind Abgrenzungen zwischen Genrebezeichnungen mit Kriminalhandlung schwierig?

Inwiefern ist die Bewertung von Kriminalerzählungen historisch und kulturell variabel?

Welche Überschneidungen gibt es zu Drama und Lyrik?

Welche Überschneidungen gibt es zu anderen Genres?

2. Merkmale
2.1 Was ist ein ‚Krimi‘?

Es gibt, wie wir noch sehen werden, viele Genredefinitionen und verschiedene Begriffe, die hier unter ‚Krimi‘ als Oberbegriff zusammengefasst werden sollen. So finden sich etwa im Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft unter der Überschrift „Kriminalroman“ Unterkategorien wie „Detektivgeschichte“ und „Thriller“ (Wörtche 2007, 342). Das Lemma ‚Kriminalroman‘ wurde gewählt, obwohl der Autor des Artikels zugesteht: „Einen konsensfähigen Begriff des Kriminalromans gibt es nicht“ (Wörtche 2007, 343). Das ältere Reallexikon der deutschen Literaturgeschichte verwendet dagegen „Kriminalgeschichte“ als strukturbildenden Begriff und erläutert, es handele sich um „eine Sammelbezeichnung für erzählende Werke, in deren Mittelpunkt Verbrechen und Verbrecher und deren gerichtliche Verfolgung und Bestrafung stehen“ (Frenzel 1984, 895). Dieser Begriff kursiert immerhin bereits, wie Edgar MarschMarsch, Edgar gezeigt hat, seit dem Ende des 18. Jahrhunderts (Marsch 1983, 7). Richard AlewynAlewyn, Richard stellt in seinem einflussreichen Beitrag zum Thema fest, „Krimi“ sei nur die „Koseform“ für „Kriminalroman“ und es komme oft zu einer Verwechslung mit dem „Detektivroman“, den er nun seinerseits in den Mittelpunkt rückt (Alewyn 1998, 52).

Die einschlägigen Definitionen konzentrieren sich auf Prosa und vor allem auf den Roman. Was aber ist mit anderen Gattungen der Prosa (unabhängig von Dramen und Balladen, auf die hier nicht eingegangen werden kann), in denen Verbrechen geschildert werden, also beispielsweise mit Märchen? Volker LadenthinLadenthin, Volker hat, mit jedem Recht, eine Anthologie der „Märchen von Mördern und Meisterdieben“ erstellt (Ladenthin 1992) – wären das keine Krimis? Und wie ist es mit jenen Texten, die das Verbrechen, aber nicht die polizeiliche oder gerichtliche Verfolgung schildern und in denen vielleicht sogar keine Bestraftung des Täters erfolgt? Das ältere Reallexikon sieht die vorgestellte Genredefinition der Kriminalgeschichte jedenfalls als „weitmaschig“ an (Frenzel 1984, 895).

 

Peter NusserNusser, Peter wählt für seine grundlegende Einführung zunächst eine Unterscheidung in Verbrechens- und Kriminalliteratur (Nusser 2009, 1). Wenn die Verbrechensliteratur „nach den Motivationen des Verbrechers“ fragt und die Kriminalliteratur die „Anstrengungen, die zur Aufdeckung des Verbrechens und zur Überführung und Bestrafung des Täters notwendig sind“, in den Mittelpunkt stellt (ebd.), dann wird man bei der Suche nach Beispielen feststellen, dass sich auch die Kriminalliteratur in der Regel für die „Motivationen des Verbrechers“ interessiert, eben um ihm auf die Spur zu kommen. Wie würde man beispielsweise eine der erfolgreichsten Krimiserien aller Zeiten einordnen – ColumboColumbo mit Peter FalkFalk, Peter. Die legendäre US-amerikanische Serie wurde in den USA von 1968 bis 1978 und dann wieder von 1989 bis 2003 in insgesamt 69 spielfilmlangen Folgen ausgestrahlt. Als Vorbild für die Filmfigur gilt eine literarische Figur: der Untersuchungsrichter Porfirij Petrowitsch aus Fjodor DostojewskijsDostojewskij, Fjodor Michailowitschs Roman Schuld und SühneSchuld und Sühne (1866).

Lieutenant (Inspektor) Columbo, der für die Mordkommission des Los Angeles Police Department arbeitet, wird in jeder Folge mit einem Mordfall konfrontiert, bei dem ihm sehr bald klar wird, wer der Täter ist. Seine Aufgabe ist es nun, die Tat auch zu beweisen – dafür beschäftigt er sich intensiv mit dem Motiv des Täters und dem Hintergrund der Tat. Die Rollen der Täter*innen wurden oft prominent besetzt, u.a. mit Faye DunawayDunaway, Faye, Martin LandauLandau, Martin, Janet LeighLeigh, Janet, Vera MilesMiles, Vera, Leonard NimoyNimoy, Leonard, Donald PleasencePleasence, Donald, Vincent PricePrice, Vincent oder Robert VaughnVaughn, Robert. Zu Mördern wurden auch Sympathieträger wie der Sänger Johnny Cash oder der frühe Musicalstar (Mary PoppinsMary Poppins; 1964) und spätere Krimi-Ermittler Dick van Dykevan Dyke, Dick (Diagnosis MurderDiagnosis Murder, dt. Diagnose: Mord; 1993 bis 2001 in 178 Folgen).

Dies nur als Beispiel für die Schwierigkeiten, denen man sich ausgesetzt sieht, wenn man sich mit Begriffsdefinitionen des Krimis beschäftigt, auch wenn Definitionen ja eigentlich in der Lage sein sollten, halt- und überprüfbare Kurzcharakterisierungen zu liefern.

Wer Interesse an der bisherigen ‚idealtypischen‘ (Nusser 2009, 2) Begriffsbildung hat, der sei auf die älteren gängigen Einführungen verwiesen. Wer jedoch das Unbehagen über die geringe Trefferquote solcher Definitionen nachvollziehen kann, der möge mit auf die Reise gehen, den Krimi weniger aus Definitionen abzuleiten und stattdessen mehr auf die konzeptionellen Hintergründe und auf die Realisierungen in Literatur, Film und Serie zu achten – um zu einem (hoffentlich) ganzheitlicheren Verständnis des Genres zu gelangen.

Es gibt einige wenige grundlegende Merkmale des Krimis, die sich in einer Minimaldefinition so zusammenfassen lassen:

Ein Krimi handelt von einer im Rahmen der für die fiktionale Realität geltenden Normen strafbaren Tat (oder von mehreren solcher Taten), um die herum Figuren und Handlung organisiert sind, und von deren Aufdeckung mit Hilfe von Indizien (‚clues‘), erschwert durch falsche Fährten (,red herrings‘). Zentral für den Krimi ist Spannung, vor allem Handlungs- und Rätselspannung, die auf die Frage nach dem Täter, nach den Motiven oder nach den Folgen der Tat zielen kann.

Die Bedeutung der (Handlungs-)Spannung und der Indizien bei der Aufklärung des Falles hat beispielsweise bereits der Philosoph Ernst BlochBloch, Ernst hervorgehoben (Bloch 1998, 41). Oft falle, so stellt er weiter fest, der Krimi „mit der Leiche ins Haus“ (Bloch 1998, 45). Die Leiche könne aber auch etwas „anderes“ sein. Bloch verweist beispielsweise auf Heinrich von KleistKleist, Heinrich vons Lustspiel Der zerbrochne KrugDer zerbrochne Krug (1808), in dem es neben der Frage, wer den Krug zerbrochen hat, vor allem darum geht, wer die junge Eve nachts besucht und damit ihre Jungfräulichkeit bedroht hat.

Dennoch dürfte, außer in der Kinder- und Jugendliteratur (hier ist es, wie in Erich KästnerKästner, Erichs Emil und die DetektiveEmil und die Detektive von 1929, eher der Diebstahl), der Mord den Regelfall darstellen. Die Figuren, die im Mittelpunkt stehen, sind Opfer und (Straf-)Täter und solche, die die Täter verfolgen. Dabei handelt es sich vor allem um Polizist*innen oder (Privat-)Detektiv*innen, aber auch um Anwält*innen, an der Verbrechensaufklärung interessierte Bürger*innen oder Zeug*innen des Verbrechens, ebenso auf anderem Wege am Geschehen Beteiligte – wobei die Rollen wechseln und beispielsweise Ermittler*innen oder auch Täter*innen zu Opfern werden können.

Breiten Raum der Handlung nimmt die Schilderung oder die Erörterung des Verbrechens bzw. der Verbrechen ein. Zum üblichen Spannungsaufbau des Detektivromans hat beispielsweise Richard AlewynAlewyn, Richard festgestellt: „Die zentrale Frage im Detektivroman ist die Frage: Wer ist der Täter? Oder: Whodunit?, wie der englische Slang die Gattung treffend bezeichnet“ (Alewyn 1998, 57). Auf der Suche nach den Täter*innen kommen dann die Indizien oder ‚clues‘ ins Spiel (Alewyn 1998, 61), dies betont auch den rätsellösenden Spielcharakter der Gattung. Nicht zufällig gibt es seit 1948 ein populäres Brettspiel namens Cluedo, bei dem ein Mordfall aufgeklärt werden muss. Denn es gilt: „Die Kunst der Detektion besteht darin, Clues zu sehen und zu lesen“ (Alewyn 1998, 62).

Zu fragen ist, was mit einer Kategorie „Verbrechensliteratur“ gewonnen ist. Welcher Krimi handelt nicht von Verbrechen, welche/r Polizist*in oder welche/r (Hobby-)Detektiv*in untersucht es nicht, welche Gerichtsverhandlung dreht sich nicht genau darum, welche Verfolgungsjagden im Thriller haben es nicht zum Anlass oder zur Wirkung? So handelt zwar der US-amerikanische Spielfilm Bonnie und ClydeBonnie und Clyde von 1967 (Regie: Arthur PennPenn, Arthur; mit Faye DunawayDunaway, Faye und Warren BeattyBeatty, Warren) wie andere Verfilmungen dieser ‚wahren Geschichte‘ von einem Pärchen, das raubend und mordend Anfang der 1930er Jahre durch den Süden der Vereinigten Staaten zieht. Abgesehen davon, dass die „Motivationen des Verbrechers“ (Nusser 2009, 1) in den Verfilmungen ganz unterschiedlich beleuchtet werden, ist diese eine Verfilmung wohl vor allem deshalb so bekannt, weil sie das Verbrechen als Road Movie inszeniert und an der Verfassung einer von der Jugend als erstarrt und einengend empfundenen Gesellschaft der späten 1960er Jahre starke Zweifel anmeldet.

Gattungsunterscheidungen wie jene zwischen Detektivgeschichte und Thriller sind selbst zum Stereotyp geronnen: „Dominiere die Zukunftsspannung in ‚Thrillern‘, so die Geheimnis- oder Rätselspannung im Detektivroman, der darin dem ‚analytischen Drama‘ gleiche“ (Anz 1998, 157; vgl. u.a. auch Wörtche 2007, 342). Wenn allerdings Gattungsdefinitionen und -unterscheidungen davon abhängig gemacht werden, ob die Handlung auf die Rekonstruktion eines Geschehens in der Vergangenheit oder auf ein Geschehen in der Zukunft gerichtet ist, dann wird vernachlässigt, dass selbst die eine Rekonstruktion unternehmende Handlung eine auf die Zukunft gerichtete sein muss, weil es ja darum geht, eine*n Täter*in dingfest zu machen – dies ist nicht selten mit Momenten der Gefahr oder sogar weiteren kriminellen Handlungen bis hin zum Mord verbunden.

Ähnlich schwierig ist die Abgrenzung von Thriller und Spionageroman. Nusser ordnet letzteren zwar ersterem unter: „Der Spionageroman ist thematisch, aber nicht strukturell von anderen Erscheinungsformen des Thrillers unterschieden“ (Nusser 2009, 116). Es gebe eine „wesentliche thematische Variation“ in der Behandlung von „politischen Strukturen und Machtverhältnissen, die der Leser normalerweise nicht durchschaut“ (Nusser 2009, 117). Beim paradigmatischen Beispiel des Genres – Ian FlemingFleming, Ians Figur James BondJames Bond – sind die Strukturen und Machtverhältnisse eigentlich nur am Anfang unklar und es dauert nicht lange, bis ein Katz-und-Maus-Spiel zwischen James Bond und seinem Gegenspieler beginnt, der sich auch gern von Auftragskillern und vergleichbar ‚gewöhnlichen‘ Verbrechern helfen lässt. Dabei fällt auf, dass die Rolle des Gegenspielers oft prominent mit Schauspielern besetzt ist, die durch frühere Rollen bekannte Sympathieträger sind, in jüngerer Zeit etwa mit Oscar-Preisträger Christoph WaltzWaltz, Christoph, so dass ein reines Gut-Böse-Schema nur noch für jene funktioniert, die das Spielerische und Ironische des Konzepts ignorieren.

Abgesehen davon, dass die Grenzziehung zwischen Politik und Verbrechen bei vielen Krimis nicht funktioniert, gibt es auch genügend Beispiele für eine Mischung von Ermittlern und Spionen, selbst in Vorabendkrimis wie SOKO WienSOKO Wien. Die Folge Im Paradies (Staffel 11, Folge 7) von 2019 handelt von zwei Morden, die an einem Ort geschehen, an dem die Regierung alten Spion*innen die Möglichkeit gegeben hat, ihren ‚Ruhestand‘ zu verbringen. Der erste Mord geht dann auch auf einen früheren Einsatz zweier Spion*innen zurück und der zweite Mord dient der Sühne des ersten, denn die wichtigste Regel des Zusammenlebens lautet, die Leichen im Keller ruhen zu lassen. Dazu kommt noch die eher zufällige Ergreifung eines Wiener Unterweltbosses, so dass auch die organisierte Kriminalität in dieser Folge eine wichtige Rolle spielt.

Entgegen gängigen Definitionen des Krimis könnte man generell statt von einer Gattung von einer thematischen Ausrichtung oder von einer Schreibweise sprechen. Mord und Totschlag sind schon immer gängige Bestandteile der Handlung von Texten gewesen, bereits die Literatur der griechischen und römischen Antike bietet zahlreiche Beispiele, man denke nur an HomerHomers OdysseeOdyssee. Christof HamannHamann, Christof beginnt seine Zusammenstellung der bedeutendsten Texte der Kriminalliteratur aller Zeiten und Kulturen mit SophoklesSophokles’König OidipusKönig Ödipus (Hamann 2016, 33). Es gibt zahllose Dramen, die von Verbrechen handeln, auch in der deutschsprachigen Literatur, man denke etwa an Bertolt BrechtBrecht, Bertolts DreigroschenoperDreigroschenoper von 1928, die wiederum den Stoff von John Gays The Beggar’s OperaThe Beggar’s Opera von 1728 verwendet. Verbrechen ist, so kann ein Zwischenfazit lauten, auch dann grenzenlos, wenn es um Genretraditionen geht.

Hierzu noch ein frühes bedeutendes Beispiel. Zu den einflussreichsten Textsammlungen der Literaturgeschichte der Welt gehört Tausendundeine NachtTausendundeine Nacht (Alf laila wa-laila) mit Wurzeln in Indien und den arabischen Ländern, sie setzt bereits in der Rahmenhandlung mit Mord und Totschlag ein. Ein genauerer Blick würde zeigen, dass hier zum Teil sehr andere Auffassungen von Recht und Gerechtigkeit vorausgesetzt werden. Den Anfang des Zyklus von Tausendundeine Nacht etwa bildet Die Erzählung von König Schehrijar und seinem BruderDie Erzählung von König Schehrijar und seinem Bruder. Der gehörnte König Schehrijar nimmt, wie bereits sein Bruder vor ihm, blutige Rache an seiner Ehefrau – und nicht nur an ihr:

Der aber ging in sein Schloß und schlug seiner Gemahlin und den Sklavinnen und Sklaven den Kopf ab. Und von nun an nahm König Schehrijar jede Nacht eine Jungfrau zu sich; der nahm er die Mädchenschaft, und dann tötete er sie, um seiner Ehre gewiß zu sein, und so trieb er es drei Jahre lang. Da geriet das Volk in Aufruhr und flüchtete mit den Töchtern, bis keine mannbare Jungfrau mehr in der Stadt war. (Zit. nach Neuhaus 2017c, 57)

Bekanntlich ist es Schehrezad, die buchstäblich um ihr Leben (und das ihrer Schwester) erzählt und den König durch ihre Erzählungen nicht nur zu besänftigen, sondern zudem als Ehemann zu gewinnen weiß. Auch das Nibelungenlied, ein Epos (also ein Langgedicht), in mittelhochdeutscher Sprache tradiert, handelt von Mord und Totschlag, ebenso der Bänkelsang – Lieder, die von fahrenden Sängern etwa auf Märkten gegen Entgelt vorgetragen wurden und die grausame Geschehen farbenfroh ausmalten, von denen (es gab noch keine Zeitungen) die Zuhörer*innen annahmen, dass zumindest die zugrunde liegende Handlung in der Realität stattgefunden hatte.

Wenn wir wieder zur Prosa wechseln und in der Hochliteratur bleiben, dann sind auch Franz KafkaKafka, Franzs Roman Der ProzeßDer Prozeß (1925) und seine Erzählung In der StrafkolonieIn der Strafkolonie (1919) zur Kriminalliteratur zu zählen, denn beide handeln von Verbrechen und ihrer Bestrafung – so unklar die Art der Verbrechen und die Motivation der Bestrafung auch sein mögen.

 

Nun hilft es bei einer Genrebeschreibung wenig, alles zur Disposition zu stellen. Auch wenn man die Geschichte eines Genres neu schreiben möchte, sollte man von dem ausgehen, was man vorfindet. Aber für ein kritisches Verständnis jedes Genres ist es unabdingbar, zumindest zu überlegen, seit wann und weshalb sich jene Strukturen herauspräpariert haben, die es überhaupt erst ermöglichen, von einem Genre zu sprechen.

Was wir unter Krimi verstehen oder unter einem der anderen gängigen Begriffe, ist ein Produkt vor allem des 18. und 19. Jahrhunderts, allerdings nicht erst des „späten 19. Jh.“ (Wörtche 2007, 342). Der Übergang vom christlichen zum naturwissenschaftlichen Weltbild, die Entstehung von Individualität und somit des modernen Subjekts (gefördert durch die Verbreitung von Bildung und Wohlstand), die Ausdifferenzierung der Gesellschaft und die Entstehung einer Literaturgeschichtsschreibung sind Voraussetzungen, auf die hier nicht näher eingegangen werden kann.

Alle Gattungen der Moderne sind Produkte des 18.-20. Jahrhunderts. Selbst die aus der Antike stammenden Begriffe wie Tragödie und Komödie wurden immer wieder neu gefasst und an die jeweiligen theoretischen wie praktischen Referenzrahmen angepasst. Bestenfalls können historische Gattungen vergleichsweise genau beschrieben werden (etwa der Minnesang), weil es sie seit Beginn der Moderne nicht mehr gibt.

Die seit Beginn der Moderne im 18. Jahrhundert geänderte Literaturauffassung führt aber auch dazu, dass im Literaturbetrieb angesehene Texte immer etwas Neues bieten müssen, schließlich lassen sie sich – nach dem autonom-ästhetischen Paradigma von Literatur als Kunst – nur noch aus sich selbst heraus erklären (Luhmann 1997, z.B. 75). Hans-Dieter GelfertGelfert, Hans-Dieter bringt es in seiner Studie Was ist gute Literatur? auf die einfache Formel des ‚Prinzips der Abweichung‘: „Das heißt, das Kunstwerk muss uns mit etwas konfrontieren, das von der erwarteten Normalität abweicht“ (Gelfert 2006, 46).