Blaulichtmilieu

Tekst
0
Recenzje
Przeczytaj fragment
Oznacz jako przeczytane
Czcionka:Mniejsze АаWiększe Aa

Kapitel 6

23. Mai

Der nächste Morgen brachte einige Überraschungen.

Marie besuchte die Kollegin Zander im Dezernat für Staatsschutz im vierten Stock, um die neuesten Erkenntnisse mit ihr auszutauschen.

»Schön, dass du vorbeikommst«, sagte Zander und reichte Marie die Hand. »Ich bin Elke.«

»Marie. Sag mal, hast du den Sohn des Gemüsehändlers in deiner Kundenkartei? Er heißt Altay.«

»Altay Kabaoglu?«, fragte Elke Zander. »Moment. Den Namen habe ich schon mal gehört.«

Sie drehte ihren Bürostuhl zum PC und tippte. Dann wartete sie und klickte etwas an. Ohne den Blick vom Bildschirm zu nehmen, sagte sie: »Wusste ich es doch. Altay Kabaoglu, 24 Jahre, deutsche Staatsbürgerschaft. Wir haben ihn bei einer als Drogenrazzia getarnten Großkontrolle in einem Lokal erwischt, das uns als Treffpunkt radikaler Moslems bekannt ist. Das war … Moment … vor einem Dreivierteljahr, im letzten August.«

»Mit wem hat er sich dort getroffen?«

»Hier steht nichts. Das ist seltsam … Ach, ich erinnere mich: Er war gerade auf der Toilette, als wir den Laden stürmten. Sicher war er im Lokal mit anderen Leuten verabredet, aber wir wissen nicht mit wem.«

»Und danach? Habt ihr ihn nicht im Auge behalten?«

»Nein, dazu war er nicht auffällig genug. Wir haben seine Personalien aufgenommen, ihn in die Kartei eingetragen und laufen lassen. Wir haben ihn noch ein- oder zweimal beobachtet, als er eine der von uns überwachten Moscheen besucht hat, aber nie in Begleitung.«

»Wir wissen also nicht, ob oder mit wem er den Anschlag gemeinsam geplant haben könnte.«

»Richtig. Beides ist möglich, doch wir kennen seine Kontakte nicht.«

»Wie viele waren denn in dem Lokal, in dem er euch zum ersten Mal über den Weg gelaufen ist?«

»Willst du die alle vorladen?«

»Auf jeden Fall. Es geht um 19-fachen Mord!«

Elke hob die Hände. »Das kannst du gerne machen, aber ich sage dir gleich, dass das nichts bringt. Von denen wird dir keiner sagen, mit wem Kabaoglu zusammen war oder ob die was im Schilde führten. Wenn es um was Handfestes wie Alibis ginge, wäre ich bei dir, aber so …«

Marie seufzte. »Könnten eure Teams die Augen nach Altay offen halten?«

»Natürlich. Ich gebe sein Bild und die Informationen gleich weiter.«

Kaum war Marie wieder an ihrem Arbeitsplatz, erwartete sie die nächste Überraschung: Arthur Thewes kam herein und legte ihr einen Notizzettel auf den Tisch.

»Was ist das?«, fragte sie.

»Stations- und Zimmernummer von Wolfgang Boskop im Berufsgenossenschaftlichen Unfallkrankenhaus Boberg.«

»Was soll ich damit?«

»Hinfahren. Es scheint, als gehe es stramm bergauf mit ihm. Er hat heute Morgen selbst darum gebeten, mit der Polizei zu sprechen, und wir als Freund und Helfer …«

»Ist das nicht Markus’ und Johannes’ Aufgabe?«

»Die machen gerade eine Zeugenbefragung in Norderstedt. Ich möchte nicht, dass Boskop oder seine Ärzte es sich anders überlegen, deshalb ist es jetzt dein Job. Also los, worauf wartest du?«

Die dritte Überraschung des Tages war Boskop selbst: Er war kaum wiederzuerkennen. Er saß im Bett, das Rückteil fast senkrecht, und begrüßte Marie freundlich. Ruß, Staub und Blut hatten ihn am Ort der Explosion offenbar schlimmer verunstaltet als die Brandwunden. Zwar war seine linke Gesichtshälfte von der Schläfe bis zum Kinn mit Verbänden abgedeckt, aber die Nase und die rechte Seite des Gesichts wirkten komplett unbeschädigt.

»Guten Morgen«, sagte er. Er nuschelte ein wenig; vermutlich schränkte die Verletzung die Kieferbewegung ein. Trotzdem klang seine Stimme fest, der Blick aus seinen Augen war klar. »Sie sind von der Polizei, nehme ich an?«

»Kriminaloberkommissarin Schwartz von der Mordkommission.« Marie zeigte ihren Dienstausweis.

Boskop schaute nur flüchtig darauf, dann nickte er. »Setzen Sie sich.« Er deutete auf die Stühle aus Metallrohr und Plastik, die an einem kleinen Esstisch in der Ecke standen.

Sie zog sich einen heran und nahm Platz. »Herr Boskop«, begann Marie, »ich weiß, Sie haben selbst um das Gespräch gebeten, aber ich möchte Sie darauf hinweisen, dass wir jederzeit abbrechen können, wenn es Ihnen zu viel wird.«

Boskop lächelte, soweit es sein verschorftes Gesicht zuließ. »Vielen Dank, es wird schon gehen. Die Ärzte hier leisten fantastische Arbeit.«

»Das ist schön zu hören. Herr Boskop, würden Sie mir bitte die Geschehnisse vorgestern früh am Flughafen aus Ihrer Sicht erzählen?«

»Also, da war dieser Koffer –«

»Bitte fangen Sie weiter vorne an. Wann sind Sie in den Flughafen gekommen?«

»Das muss kurz vor sieben gewesen sein … Der Mann, der mit dem Koffer, ist der tot?«

»Was? Ja, er ist … Wieso wollen Sie das wissen?«

»Ich habe Angst. Das … in dem Koffer war eine Bombe! Das war doch ein Terrorist! Wenn der mich erkennt, dann … Aber er ist ja tot. Das ist … schrecklich, natürlich ist das schrecklich, aber …«, er lachte heiser, »was soll ich sagen – es ist mein Glück. Das ist … Das klingt ganz furchtbar, oder?« Er drehte den Kopf zur Seite.

»Herr Boskop, Sie können beruhigt sein. Der Mann ist bei der Explosion ums Leben gekommen, und wir gehen mit hoher Wahrscheinlichkeit davon aus, dass es sich um einen Einzeltäter handelte. Sie haben nichts zu befürchten.« Dass sie nicht sicher waren, welche Rolle der flüchtige Altay in der Sache spielte, verschwieg Marie fürs Erste. Der wiederum wusste aller Wahrscheinlichkeit nach nichts von Boskop, also war dieser so oder so nicht gefährdet.

»Wirklich?«, fragte Boskop.

»Auf jeden Fall. Sie waren also etwa um sieben am Flughafen. Was wollten Sie dort?«

»Einkaufen.«

»Einkaufen?«

»Ja, der Supermarkt am Flughafen hat ab morgens um sechs geöffnet, auch sonntags. Ich hatte keine Wurst mehr und keinen Kaffee, und ich wohne in der Nähe des Flughafens.«

»Was haben Sie dann im Terminal 1 gemacht? Der Supermarkt ist ein Stockwerk tiefer.«

»Ich liebe die Atmosphäre dort. Alle sind so aufgeregt, sie brechen auf in ferne Länder, alle freuen sich … Ich lebe alleine, wissen Sie. Ich nehme gerne Anteil an der Freude und Aufregung anderer Leute. Können Sie das verstehen?«

»Ich weiß nicht. Ich finde es sehr hektisch dort.«

»Jedem das Seine, Frau Schwartz. Oder muss es Frau Kommissarin heißen?«

»Was hatten Sie mit dem Koffer zu tun? War es Ihrer?«

»Wozu sollte ich denn einen Koffer zum Einkaufen mitnehmen?«

»Also, was war mit dem Koffer?«

»Nun ja … Der Koffer stand da, ein paar Meter von den ganzen Warteschlangen entfernt, und keiner war da, der auf ihn aufpasste. Verstehen Sie, er war … herrenlos. Man hört ja allerlei über herrenlose Gepäckstücke, und dazu diese ganzen Durchsagen: ›Lassen Sie Ihr Gepäck nicht unbeaufsichtigt.‹ Da habe ich mich gefragt, ob das alles mit rechten Dingen zugeht.«

»Und was haben Sie dann gemacht?«

»Ich wusste nicht recht, was man in so einer Situation macht, da habe ich mir den Koffer erst einmal angesehen.«

»Sie haben ihn sich angesehen? Wieso haben Sie nicht der Polizei Bescheid gesagt?«

»Ach, das wäre doch peinlich gewesen. Ich meine, wie groß war die Wahrscheinlichkeit, dass da tatsächlich eine Bombe drin war? Nachher hätten die meinetwegen den Flughafen evakuiert, nur wegen eines Koffers voller dreckiger Unterhosen oder was die Türken sonst so einpacken. Nein, ich dachte, ich schaue mir das erst genauer an.«

»Was vermuteten Sie denn zu sehen?«

»Ja, was weiß ich – irgendwas. Wie wenn man bei einem kaputten Auto die Motorhaube aufmacht und reinschaut, auch wenn man keine Ahnung davon hat.«

»Und was ist danach geschehen?«, fragte Marie.

»Da war was am Griff«, sagte Boskop. »So was wie ein Schalter. Mit Kabeln.«

»Sind Sie sicher?«

»Natürlich! Ich wollte zur Polizei, aber dann kam dieser Mann, der sah arabisch aus oder vielleicht türkisch, ich weiß es nicht, und der schrie mich an und stieß mich weg.«

»Und was dann?«

»Er hat nach dem Koffer gegriffen, und ich dachte, er will den Schalter drücken und die Bombe in die Luft jagen. Ich hatte Angst um mein Leben, verstehen Sie? Deshalb habe ich versucht, ihm den Koffer wegzunehmen, damit er nicht an den Schalter kommen kann. Ich konnte doch nicht zulassen, dass jemand einfach so aus fehlgeleitetem Fanatismus diese ganzen Menschen umbringt!«

»Wie kommen Sie darauf, dass er ein Fanatiker war?«

»Das … nun ja, es war ein südländischer … Welchen Grund sollte sonst so jemand haben, ein Selbstmordattentat zu begehen? Das kann doch nur ein Islamist gewesen sein. Und im Fernsehen sagen sie auch, dass der IS dahintersteckt.«

»Ich verstehe«, sagte Marie. »Aber konkrete Hinweise auf das Motiv des Täters haben Sie nicht, richtig?«

»Konkrete Hinweise – er hat nicht ›Allahu Akhbar‹ gerufen, wenn Sie das meinen. Doch es war ein Türke oder sonst so ein Orientale, und er hatte eine Bombe. Und ich kann eins und eins zusammenzählen.«

»Sie wollten ihm also den Koffer wegnehmen?«

»Ja, richtig. Ich habe am Koffer gezogen, und er hat am Koffer gezogen, oben am Griff, und dann muss ich abgerutscht sein. Ich fiel nach hinten, bin noch einige Schritte weggestolpert und dann gestürzt. Und plötzlich war es, als ob die ganze Welt zusammenstürzen würde. Ich wusste sofort: Das war die Bombe, jetzt stirbst du.« Er fuhr sich mit der Hand über die Augen, berührte dabei die verbrannte Gesichtshälfte und zuckte zusammen. »Wissen Sie, ich bin nicht besonders religiös, aber Gott scheint seine schützende Hand über mich gehalten zu haben, sonst wäre ich nicht mehr hier.« Er lachte matt.

 

»Können Sie sich erinnern, was nach der Explosion passiert ist?«, fragte Marie.

Boskop schüttelte den Kopf, so gut er konnte. »Nein. Nur noch an einen Sanitäter, der mir sagte, dass alles gut wird.«

»Ist Ihnen noch mehr aufgefallen?«

»Nein. Zurzeit fällt mir nichts mehr ein.« Boskop tastete nach der Bedienung für das Bett und stellte das Rückenteil auf Liegeposition. »Wenn Sie mich jetzt bitte entschuldigen wollen. Ich würde mich gerne ausruhen. Ein andermal mehr.«

»Natürlich. Ich lege Ihnen meine Visitenkarte auf den Nachttisch. Sie können mich jederzeit anrufen.«

Boskop nickte und wedelte schwach mit der Hand.

Marie trat hinaus auf den Krankenhausflur mit den grellen Neonröhren und dem quietschenden Linoleum. In einer Nische stand ein Wasserspender; sie füllte einen Pappbecher, trank und dachte nach. Was Boskop berichtet hatte, klang glaubhaft und schlüssig. Sie würde es überprüfen, aber sie hatte keinen Grund, an seinen Aussagen zu zweifeln. Für einen verhinderten Selbstmordattentäter hielt sie ihn auf jeden Fall nicht.

Ein Stück den Flur hinunter fand sie das Dienstzimmer und klopfte an. Eine Schwester öffnete, Marie zeigte ihren Dienstausweis und bat um ein Gespräch mit dem Stationsarzt. Der kam rund zehn Minuten später, führte sie in den Aufenthaltsraum und bot ihr Kaffee an, den sie dankend annahm.

»Schwesternkaffee«, sagte der Arzt, ein jungenhaft wirkender Mann Mitte 30 mit Kunststoffbrille und weißem Polohemd statt Arztkittel. Auf seinem Namensschild stand »Dr. Kreuzer, Stationsarzt«. »Benutzen wir hier auch zur Wiederbelebung.« Er gab reichlich Milch in den Kaffee, dann schob er ihr die Packung hinüber. »Was kann ich für Sie tun?«

»Ich wollte mich nach dem Gesundheitszustand von Herrn Boskop erkundigen.«

»Sie wissen schon, dass die ärztliche Schweigepflicht mir verbietet, Ihnen Auskünfte zu erteilen?«

»Sicher. Ich möchte mich nur mit Ihnen absprechen, ab wann Herr Boskop Ihrer Ansicht nach uneingeschränkt vernehmungsfähig ist.«

»Waren Sie nicht gerade bei ihm?«

»Ja, aber nur kurz. Wie Sie sich vorstellen können, habe ich viele Fragen an Herrn Boskop, die mir unter den Nägeln brennen.«

Dr. Kreuzer zuckte die Schultern. »Das ist schwer zu sagen. Herr Boskop hat uns mit seiner raschen Besserung sehr überrascht. Zwar hat sich bald nach der Einlieferung herausgestellt, dass seine Verletzungen weit weniger gravierend waren als befürchtet. Wie schnell es mit ihm aufwärts ging, hat uns aber doch verblüfft. Der Unfall ist gerade mal drei Tage her, und er gibt schon Interviews.«

»Das heißt bei uns Vernehmung.«

»Weiß ich.«

»Moment – er hat schon mit der Presse gesprochen?«

Dr. Kreuzer runzelte die Stirn. »Kurz bevor Sie kamen. Hat er nichts davon gesagt?«

»Nein. Wissen Sie, worum es ging?«

»Keine Ahnung. Ich schätze mal, das werden Sie in spätestens zwei Stunden im Fernsehen sehen.«

Und damit kündigte sich die nächste Überraschung an.

Auf der Rückfahrt zum Polizeipräsidium klingelte Maries Telefon. Thewes war dran.

»Wer war dieses Arschloch, das dich gestern im Büro besucht hat?«, fuhr er sie statt einer Begrüßung an.

»Was? Wen meinst du?«

»Na, wen wohl? Diesen Kerl, der gestern in unsere Nachmittagsbesprechung geplatzt ist, du weißt schon.«

Ja, Marie wusste es. »Was ist mit ihm?«

»Siehst du keine Nachrichten?«

»Tut mir leid, Chef, ich arbeite. Und im Auto sehe ich grundsätzlich nicht fern«, sagte sie etwas schnippischer, als sie wollte.

»Ja, ja, schon gut. Melde dich bei mir, wenn du da bist.« Er legte auf.

Was, in drei Teufels Namen, hatte Tim nun schon wieder verbockt? Konnte der Kerl nicht einfach aus ihrem Leben verschwinden? Hatte sie nicht genug um die Ohren?

Sie überlegte, aufs Gas zu treten, entschied sich aber dagegen. Wenn das mit Arthur so weiterging, wollte sie ihm lieber keinen Strafzettel wegen Geschwindigkeitsübertretung erklären müssen.

Also zügelte sie ihre Ungeduld und stand erst 20 Minuten später vor Arthurs Büro. Sie holte tief Luft, drückte die Klinke hinunter und trat ein.

Und musste sich das Lachen verbeißen.

Neben dem Schreibtisch ihres Chefs stand ein rosa Hundekörbchen. Darin saß die entzückendste französische Bulldogge, die Marie sich vorstellen konnte, und sah sie mit aufgestellten Ohren erwartungsvoll an. Der Kontrast zwischen Arthurs finsterem Blick unter zusammengezogenen Augenbrauen und den treudoofen Kulleraugen der »blöden Töle« war zu viel für die härteste Mordermittlerin.

»Wage es nicht«, knurrte Arthur, dem Maries zuckende Mundwinkel nicht entgangen waren. »Kein Wort!«

Sie schüttelte den Kopf und presste die Lippen aufeinander. Rasch ging sie zum Besucherstuhl vor Thewes’ Schreibtisch und setzte sich so, dass Minnie außer Sichtweite war. Das half jedoch nichts, denn der Hund kam prompt um den Tisch gedackelt, setzte sich vor sie und sah sie mit schief gelegtem Kopf an. Marie blickte stur zu Arthur und bemühte sich um Fassung.

Der drehte sein Notebook zu Marie. »Da. Erklär mir das bitte.«

Er startete die Aufzeichnung der Fernsehnachrichten. Sie war, das konnte Marie an der Zeitangabe in der Bildecke erkennen, weniger als eine Stunde alt.

Das Bild zeigte Boskop in seinem Krankenbett, von genau derselben Stelle aus aufgenommen, an der Marie gesessen hatte. Boskop wirkte gefasst, aber erschöpft. Marie war sich mittlerweile nicht mehr sicher, wie viel davon echt und wie viel gespielt war.

Eine Stimme aus dem Off kommentierte das Bild: »Der verheerende Anschlag auf den Hamburger Flughafen, für den der Islamische Staat die Verantwortung übernommen hat, liegt erst drei Tage zurück, viele Menschen trauern um ihre Angehörigen, andere sind auf dem Wege der Besserung. So wie Wolfgang Boskop, der nur mit sehr viel Glück überlebt hat. Kein anderer Überlebender stand näher am Ort der Explosion als er. Trotzdem hat er sich jetzt schon bereit erklärt, mit unserem Reporter zu sprechen.«

Ein Mikrofon wurde unter Boskops Kinn gehalten. Er sah jemanden außerhalb des Bildes an und lächelte matt. »Ich habe einfach Glück gehabt. Großes Glück. Der da oben wollte mich wohl noch nicht haben.«

»Herr Boskop, unserer Redaktion liegt eine Aufzeichnung der Überwachungskameras vor, die zeigt, dass Sie mit jemand anderem um einen Koffer ringen. Was hat es damit auf sich?«

Boskop überlegte kurz, dann lächelte er wieder. »Ja, das stimmt. Ich hatte den Eindruck, mit diesem Koffer stimme etwas nicht, deswegen wollte ich ihn zur Polizei bringen.«

»Befand sich die Bombe in diesem Koffer?«

»Ja, keine Frage.«

»Sie haben mit dem Besitzer des Koffers gestritten? Warum?«

Boskop runzelte die Stirn. »Tja … Ich konnte ihn doch nicht einfach die Bombe zünden lassen. Es ging ja nicht nur um mein Leben, sondern um all die anderen in der Halle.«

»Sie haben also versucht, die Explosion zu verhindern?«

»Ja, ich habe es versucht. Nicht sehr erfolgreich, wie es scheint, oder?«

Das Bild wechselte und zeigte einen Moderator im Studio. »Erfolgreich oder nicht – Wolfgang Boskop hat sein eigenes Leben aufs Spiel gesetzt, um das vieler anderer Menschen zu retten. Das ist mehr, als man erwarten kann, und viel mehr, als die meisten von uns bereit wären zu geben.«

Der Moderator wendete den Kopf, eine zweite Kamera fing seinen Blick auf. »Wie wir aus der Polizei nahestehenden Kreisen erfahren haben, ist das Überleben von Wolfgang Boskop mehr als ein kleines Wunder. Unser Reporter Martin Kolditz mit den Einzelheiten.«

Wieder ein Schnitt. Das Bild zeigte im Hintergrund das silbern glänzende Gebäude des Polizeipräsidiums und im Vordergrund einen Reporter. Ihm gegenüber niemand anderer als …

»Tim! Mich trifft der Schlag!«

»Tim, aha«, sagte Arthur. »Sind wir also schon per Du mit dem Herrn.«

Marie wedelte mit der Hand, sie wollte das Interview hören.

»Können Sie uns Genaueres zum Ablauf sagen?«, fragte der Reporter. »Hat eventuell einer der Männer versucht, den Anschlag zu verhindern? Sind die beiden Männer unter den Toten?«

»Wir vermuten stark, dass einer der Männer zwar schwer verletzt ist, aber überlebt hat.«

»Obwohl er so nahe bei der Explosion war?«

»Also … Ja.«

»Wie können Sie sich das erklären?«

»Er … er hätte tot sein müssen.«

»Aber er lebt.«

Nachdenkliches Kopfschütteln. »Er hätte tot sein müssen«, murmelte Tim.

Wieder Schnitt auf den Moderator im Studio. »Er hätte tot sein müssen«, wiederholte der. »Und doch – er ist es nicht. Ein Lichtblick in diesem schrecklichen Geschehen: Ein Mann wirft sich mutig dem Attentäter in den Weg, wird zum tragischen Helden, und allen Widrigkeiten zum Trotz überlebt er, obwohl er – Sie haben es gerade gehört – tot sein müsste. Manchmal ist auf das Schicksal eben doch Verlass.«

Er drehte sich zur anderen Kamera. »Weiterhin unklar ist die Identität des Attentäters. Die Polizei …«

Arthur stoppte das Video und sah Marie herausfordernd an.

Sie hob die Hände. »Ich kann nichts dafür.«

»Aber du kennst ihn.«

»Natürlich. Er ist der Notfallsanitäter, der Boskop versorgt hat.«

»Und was wollte er von dir? Noch ein paar Informationen für seine Freunde bei der Presse abgreifen?«

»Was? Willst du mir unterstellen … Nein, Himmel noch mal, er wollte mir etwas zum Fall mitteilen.«

»Und was?«

»Dass … Ach, nichts. Er hat sich da was eingebildet. Wahrscheinlich war er sauer, dass ich ihm das gesagt habe.«

»Na gut. Dann sieh zu, dass das nicht noch einmal vorkommt.«

»Chef, wie soll ich –«

»Rede mit ihm. Mache ihm klar, dass er sich mächtig Ärger einhandelt, wenn er sich noch einmal als ›der Polizei nahestehend‹ ausgibt.«

Marie stöhnte. »Bitte nicht. Kann das nicht Harald machen? Der Typ ist ein Idiot.«

»Dein Idiot, dein Job.«

Marie stand seufzend auf und öffnete die Tür.

»Stopp!«, rief Arthur. »Minnie, du nicht!«

Marie sah nach unten, wo Minnie zwischen ihr und Arthur hin und her blickte. »Tu, was er sagt«, flüsterte sie. »Sonst kriegt er noch schlechtere Laune.«

Sie trat hinaus, Minnie drehte bei und trottete zu ihrem rosa Körbchen zurück.

»Blöde Töle«, hörte Marie, als sie die Tür schloss. »Willst’n Leckerchen?«

Kapitel 7

23. Mai

Für Tim war der Tag gelaufen. Zwar hatte er noch über eine Stunde Schicht, aber da kam nichts Gutes mehr, das war sicher. Nur Kotzbrocken, Besoffene und Simulanten heute. Jetzt war Fahrzeugpflege angesagt. Er war froh, sich mit Schrubber und Schlauch am Rettungswagen abreagieren zu können. Und Mark aus dem Weg zu gehen, denn der hätte ihm bestimmt gerne noch einmal erklärt, dass heute nicht die Patienten die Kotzbrocken seien, sondern er.

Seine Laune stieg minimal mit jedem Quadratmeter, den er den Wagen vom Dreck befreite. Nur kein Einsatz mehr kurz vor Dienstschluss, dann könnte es zumindest ein annehmbarer Feierabend werden.

Wachleiter Bernke trat durch die Tür der Fahrzeughalle, deutete auf Tim und ließ eine junge Frau passieren, die schnurstracks auf ihn zumarschierte.

Marie hatte die Halle noch nicht halb durchquert, da begann sie bereits lautstark vom Leder zu ziehen: »Sag mal, bist du völlig übergeschnappt? Hast du eine Ahnung, welchen Ärger du mir eingebrockt hast?«, keifte sie.

Die Kollegen ließen ihre Putzgeräte sinken. Alle Gespräche verstummten augenblicklich.

»Nun mal halblang. Wovon redest du?«

Sie baute sich vor ihm auf, die Fäuste in die Hüften gestemmt. »›Der Polizei nahestehende Kreise‹ – na, klingelt’s bei dir?«

»Verdammt noch mal, nein!«

»Du willst also bestreiten, dass du dieses Interview gegeben hast?«

»Das … Ach, darum geht’s? Ich mache diesen Reporter kalt!«

»Wieso? Hat er dich gezwungen, mit ihm zu reden?«

»Ich habe nie gesagt, dass ich bei der Polizei bin.«

»Vielleicht muss man das auch nicht, wenn man gerade aus dem Polizeipräsidium kommt?«

»Ich hab ihm sogar extra erklärt, dass ich bei der Feuerwehr bin!«

»Und das soll ich dir glauben?«

»Du kannst meinetwegen an das fliegende Spaghettimonster glauben. Aber: Ich. Habe. Nicht. Gelogen.«

»Wieso dann das Interview?«

 

»Ist das etwa verboten?«

»War das schlau? Ach, vergiss die Frage. Du und schlau, das wird eh nichts.«

»Ja, ich hielt das für schlau. Du hast mir ja nicht zugehört, da dachte ich, vielleicht tut’s die Presse.«

»Und, hat sie?«

»Woher soll ich das wissen? Ich habe nicht gesehen, was sie draus gemacht haben.«

Marie sah auf ihre Armbanduhr. »Gleich kommen die Nachrichten. Gibt’s hier einen Fernseher?«

»Sind Feuerwehrautos rot? Hier lang.«

Er legte den Wasserschlauch beiseite, mit dem er das Auto abgespritzt hatte. Es hatte ihm mächtig in den Fingern gejuckt, einfach den Zeigefinger zu krümmen und sie in den sprichwörtlichen begossenen Pudel zu verwandeln. Das hätte wenigstens seinen Ruf bei den Kollegen wieder aufpoliert, die sich jetzt wochenlang darüber amüsieren würden, wie seine »neue Flamme« ihn rundgemacht hatte. Mark war ein prima Kerl, aber eine Tratschtante sondergleichen – mit Sicherheit kannten die Kollegen bereits jedes kleinste Detail ihres Zusammentreffens am Flughafen.

»Die Show ist zu Ende«, rief er. »Schön weiterputzen!«

Das klang lahm. Aber wenigstens hatte er das letzte Wort.

Sie gingen in den Aufenthaltsraum, er schaltete den Fernseher ein, sie setzten sich auf entgegengesetzte Enden des Sofas und sahen sich das Interview in den Nachrichten an.

»Das war Boskop?«, fragte Tim. »Der ist doch vor drei Tagen erst dem Tod von der Schippe gesprungen.«

»Es ging mir nicht um Boskop.«

»Schon klar. Aber was habe ich denn Schlimmes gesagt? Dass Boskop hätte tot sein müssen. Und?«

»Es ging um die ›der Polizei‹ –«

»›nahestehenden Kreise‹, ich weiß. Doch das habe nicht ich gesagt, sondern die. Und das, was ich unbedingt loswerden wollte, haben sie rausgeschnitten.«

»Und das wäre?«

»Hallo? Dass die Bombe vor dem Turkish-Airlines-Schalter hochgegangen ist?«

»Ich habe dir gesagt, dass das Quatsch ist.«

»Ist es nicht. Wenn du das meinst, bitte. Aber du machst einen Fehler!«

»Hast du Boskop nicht gehört? Die Bombe ist losgegangen, als er mit Kabaoglu um den Koffer gestritten hat. Damit ist doch klar, dass die Bombe gar nicht dort zur Explosion gebracht werden sollte!«

»Wer ist Kabaoglu?«

Marie wurde heiß und kalt. »Vergiss den Namen. Bitte.«

»Ja, ja, mach dir nicht ins Hemd. Meinst du wirklich, da stellt sich einer erst ein Weilchen in die Schlange bei Turkish Airlines – so nach dem Motto: Guck mal, ich bin ganz unauffällig – und dann rennt er mit dem Koffer rüber zur Lufthansa, schreit ›Viva Osama‹ und drückt aufs Knöpfchen?«

»Wir wissen nicht, was er vorhatte. Das ist Gegenstand der Ermittlungen.«

»Aber ihr wisst, wo die Bombe hochgegangen ist. Oder?«

»Das muss nichts zu sagen haben.«

»Aber es kann.«

»Ja, meinetwegen.«

Tim verschränkte die Arme. »Ach?«

»Es kann bedeutend sein. Es kann auch bedeutend sein, dass Vollmond war. Oder eben nicht.«

»Du bist so ein sturer Bock.«

Marie stand auf. »Ich bin nur gekommen, um dich von weiteren Interviews abzuhalten. Das stört unsere Ermittlungsarbeit erheblich.«

Tim lehnte sich vor. »Sag das Zauberwort.«

»Was?«

»Das Zauberwort. Du kennst es doch.«

»Vergiss es.« Marie stand auf.

»Oh.« Tim zog ein Kärtchen aus seiner Brusttasche. »Ist das nicht die Visitenkarte von diesem Reporter?«

Sie seufzte. »Würdest du bitte keine solchen Interviews mehr geben?«

Er steckte die Karte wieder weg. »Kein Problem. Noch einmal legt der Kerl mich nicht rein.«

Marie wandte sich um und ging ohne ein weiteres Wort.

Tim wusste nicht recht warum, aber seine Laune war besser als vorher.

Zumindest bis der Gong ertönte. »Einsatz für Rettungswagen 23 Berta.«

Adieu, Feierabend.

Marie war noch nicht im Wagen, als ihr Mobiltelefon klingelte. Der Chef.

»Besprechungsraum in 20 Minuten«, sagte er, ohne Zeit auf eine Begrüßung zu verschwenden. »Es gibt ein Bekennerschreiben. Ein richtiges.«

»Bin unterwegs.«

Sie brauchte 22 Minuten, was für die Rushhour eine ordentliche Zeit war. Trotzdem war sie wieder einmal die Letzte. Neben ihren Leuten saßen die Kollegen Zander und Behrend vom Staatsschutz mit am Tisch.

»Gut«, sagte Arthur, »dann können wir ja anfangen. Vor einer Stunde kontaktierte uns die Redaktion der Hamburger Morgenpost mit der Mitteilung, ein Selbstbezichtigungsschreiben für den Anschlag am Flughafen per E-Mail erhalten zu haben. Sie haben die Mail umgehend an uns weitergeleitet. Die Terrororganisation ›Islamischer Staat‹ reklamiert darin noch einmal die Täterschaft für sich, aber in diesem Fall offenbart der Absender Täterwissen. Ich zitiere: ›Vor Kurzem haben wir die Ungläubigen der Mutter Satans zum Fraß vorgeworfen.‹ Wie Markus gestern erläuterte, ist dies der Spitzname des verwendeten Sprengstoffs TATP. Da wir diese Information nicht veröffentlicht haben, können wir davon ausgehen, dass das Bekennerschreiben echt ist. Was könnt ihr aus Sicht des Staatsschutzes dazu sagen?«

»Wir nehmen es ernst«, sagte Behrend. »Hier ist, wie du ausgeführt hast, offensichtlich Täterwissen vorhanden. Die Formulierung ist zwar gestelzt, aber zumindest halbwegs authentisch. In der weiteren Form weicht das Schreiben jedoch deutlich von den üblichen Bekennerschreiben ab. Auch der Modus der Veröffentlichung ist anders als gewohnt. Normalerweise werden derartige Meldungen von Amak verfasst, der – wenn man so will – Pressestelle des IS. Als Medium dienen üblicherweise eigene Webseiten, soziale Netzwerke und vor allem der Messengerdienst Telegram. Dass eine Selbstbezichtigung per E-Mail direkt an eine Zeitungsredaktion geht, ist ungewöhnlich.«

»Also doch eine Fälschung?«, fragte Harald. »Hat die gestelzte Formulierung eventuell gar nichts mit dem Sprengstoff zu tun?«

Elke Zander schüttelte den Kopf. »Sehr unwahrscheinlich. Für uns ist die naheliegendste Erklärung, dass einer der Täter das Schreiben abgefasst hat, ohne in Kontakt mit den zentralen Strukturen des IS zu stehen. Denkt daran: Der IS ist nicht vergleichbar mit der RAF oder anderen terroristischen Gruppen, die streng zentralistisch organisiert sind. Wir haben zwar eine hierarchisch geführte Militärstruktur, aber die Führung setzt in Bezug auf terroristische Angriffe bewusst auf eine Guerilla-Taktik. Tatsächlich werden seit einiger Zeit Sympathisanten aus mitteleuropäischen Ländern sogar aufgefordert, nicht zum Heiligen Krieg nach Syrien zu reisen, sondern im Heimatland zu bleiben und dort Anschläge zu verüben.«

»Du sagst ›einer der Täter‹. Also doch kein Einzeltäter?«

»Ibrahim Kabaoglu kann die Mail auf jeden Fall nicht geschrieben haben, oder?«

»Altay Kabaoglu?«

Behrend wiegte den Kopf hin und her. »Das ist nicht sicher. Aber der Verdacht liegt nahe.«

»Nahe genug, um einen Haftbefehl ausstellen zu lassen?«, fragte Thewes.

»Welchen Staatsanwalt haben wir?«

»Frau Rupprecht.«

»Die kenne ich. Ist eine Gute, aber man muss sie überzeugen. Ich weiß nicht, ob ihr das ausreicht. Wir können es versuchen, mehr Stichhaltiges wäre jedoch besser.«

»Da kann ich vielleicht etwas beisteuern«, sagte Markus. »Ich habe vor einer Viertelstunde die Mobilfunk-Verbindungsdaten von Altay Kabaoglu erhalten. Kommen euch davon einige Namen oder Nummern bekannt vor?« Er zog einen Zettel aus seiner Mappe und schob ihn zu Elke Zander.

Sie hielt ihn so, dass Behrend mit draufschauen konnte, und gemeinsam gingen sie durch die Liste.

»Die hier«, sagte sie und tippte auf eine Zeile. »Die Nummer kenne ich.«

»Zu wem gehört sie?«

»Wissen wir nicht. Wir haben sie auf einigen Verbindungsprotokollen gesehen, aber es gibt keinen Namen zu der Nummer.«

»Großartig«, sagte Thewes. »Wäre es nicht toll, wenn unsere Telekommunikationsgesetze einfach funktionieren würden?«

»Es fällt auf jeden Fall auf, dass Kabaoglu junior in den Tagen vor dem Anschlag mehrmals mit einigen wenigen Nummern telefoniert hat. Eine von denen kennen wir, und ich möchte wetten, die restlichen Nummern sind auch nicht besser«, sagte Zander.

»Am Tag des Anschlags gab es nur zwei Anrufe auf diese Nummern. Und ein dritter, bei dem ein Name dabeisteht. Scheint die Familie zu sein«, ergänzte Behrend.

Zander nickte. »Besonders auffällig: Seit dem Tag danach herrscht Funkstille. Ich nehme an, der Gesprächspartner hat ihm gesagt, er soll sein Mobiltelefon ausschalten oder am besten gleich wegwerfen.«

To koniec darmowego fragmentu. Czy chcesz czytać dalej?