Das verschleierte Tor

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Narull

Der Grenzübergang zwischen dem Königreich und Narull war gut bewacht und mit Wachtürmen und hohen stabilen Mauern befestigt. Obwohl die beiden Länder diplomatische Beziehungen zueinander unterhielten, Lucek war einer dieser Diplomaten, beäugte man sich an der Grenze misstrauisch. Insbesondere die Einwohner des Königreichs hatten Angst vor einer weiteren Invasion durch das feindliche Narull. Im Königreich hatte niemand wirkliche Ambitionen in das kalte Narull einzufallen, am wenigsten der König selbst. Der größte Teil des Königreichs lag im gemäßigten Süden. Die Menschen waren die Wärme gewohnt und an das angenehme Leben, das damit einher ging. Der nördliche kalte Teil des Königreichs galt für die südlich des Boons lebenden Menschen als exotisch. Wer wollte schon leben, wo es im Winter so kalt war, dass man kaum vor die Tür konnte, wer wollte die Tage frierend im Haus sitzen, wartend, dass die winterlichen Schneestürme vorüber gingen. Erst recht konnten sich die Menschen nicht vorstellen, ein Land zu erobern, das noch kälter war und wo es nur Schnee und Eis gab, so wie im Land der Drachenkrieger.

Jedoch war den Menschen in Narull nicht bewusst, dass ihnen aus dem Süden keine Gefahr drohte. Jeder hatte gehört, dass die Armee des Primus in dem warmen Land hinter den hohen Bergen besiegt und zurück geschlagen worden war, mit Zauberei, wie einige besonders Schlaue wussten und das trotz der vielen Exzarden, die man eingesetzt hatte. Viele Soldaten waren nicht zurückgekehrt und sogar viele der Exzarden hatten in dem Land ihr Leben verloren.

Von offizieller Seite hatte man wenig über die Umstände verlauten lassen, die zur Niederlage im Königreich geführt hatten.

Erst ganz allmählich wurden auch die Möglichkeiten gesehen, die sich durch die neue Nachbarschaft ergaben. Die Händler waren natürlich die Ersten, die versuchten, aus der neuen Situation Profit zu schlagen, und das war gut so, denn wenn man Handel miteinander treiben will, bedarf es eines gesunden Maßes an Vertrauen und Stabilität. Die Händler drängen mit ihrem finanziellen Einfluss darauf, dass der Handelspartner nicht verärgert wird, dass er als vertrauenswürdig eingestuft wird, und da auf beiden Seiten die Händler gleichermaßen diese Interessen vertreten, bewirken sie damit automatisch, dass es zu einem entspannteren Umgang miteinander kommt.

Zu Beginn werden die Händler der ersten Stunde zwar verschrien als geldgierige Abweichler, die mit dem Feind lukrative Geschäfte machen, aber sobald das Risiko geringer wird, drehen die, die vorher so laut dagegen geschrien haben, ihre Fahne in den Wind und wollen nun ebenfalls an dem erträglichen Geschäft teilhaben. Und wehe, sie werden dann daran gehindert.

Und so wurden über die Jahre hinweg bedingt durch den verstärkten Handel die Beziehungen zwischen den beiden Nachbarn zusehends besser.

Aus dem Süden wurden Berge von Kräutern und exotischen Früchten in den Norden geliefert, und im Gegenzug wurde mit Edelsteinen, Gold, Silber und anderen wertvollen Gegenständen bezahlt. Das allergrößte Interesse hatte man in Narull jedoch an Pferden. Pferde hatte man vor dem Überfall des Königreichs nicht gekannt und es war jetzt ein begehrtes Gut.

Von dem regen Handel profitierte die Stadt Haffkom, die früher als Haffkef bekannt gewesen war und die nun als vierzehnte Stadt des Königs geführt wurde. Das brachte sehr viele Veränderungen mit sich. Jetzt war Haffkom eine gerüstete Garnisonsstadt mit einer intakten hohen befestigten Stadtmauer. Die Stadt war gewachsen und hatte an Bedeutung gewonnen. Nur auf dem Markt in Haffkom war es den Händlern aus Narull gestattet, ihre Waren anzubieten. Es wurde nur einigen wenigen Einwohnern aus Narull erlaubt, den Boon zu überqueren, und weiter nach Süden zu reisen. Dadurch wurde der Markt in Haffkom, der natürlich nur in den Sommermonaten abgehalten werden konnte, wichtig und bekannt. Neben den wertvollen Zahlungsmitteln wurden interessante Waren aus dem Norden umgeschlagen, und von hier fanden diese ihren Weg in den Süden.

Die vielen Soldaten, die jetzt ständig in Haffkom stationiert waren, und deshalb ihre Familien mitgebracht hatten, trugen dazu bei, dass die lokalen Handwerker eine gute Auslastung hatten. Es wurden neue Häuser gebaut, und der Handel mit Narull spülte Geld in die Kassen der Stadt.

Auch die umliegenden Dörfer profitierten von dem neuen Reichtum in der Stadt. Die Abnahme der Waren, die aus den Dörfern rund um die Stadt kamen, wie Getreide, Gemüse, Lebendvieh, Pferde, Holz, Wolle und Felle, war zu fairen Preisen gesichert.

Was als besondere Ehre angesehen wurde, der König hatte seinen Besuch in Haffkom angekündigt. Im nächsten Jahr wollte er die Stadt besuchen. Schon jetzt machte man sich Gedanken, wie der König empfangen werden sollte. Auch das trug dazu bei, dass Haffkom bekannter und wichtiger wurde. Plötzlich machten sich Menschen aus dem Süden Gedanken, ob sie die abgelegene Stadt einmal besuchen sollten, oder Eltern dachten darüber nach, ob sie ihre Kinder zur Ausbildung nach Haffkom schicken sollten.

Eine wichtige aufstrebende Stadt brauchte natürlich einen fähigen Tom. Blutero thronte hinter einem Schreibtisch auf einem großen Holzstuhl in seinem Audienzzimmer, wie er es nannte. Die Einrichtung hatte er vom alten Tef Lucek übernommen, jedoch hatte Blutero es sich nicht nehmen lassen, ein angemessenes Haus für das Amt des Tom zu bauen. Damals als Lucek sein Amt an ihn hatte abtreten müssen, war Haffkef noch keine königliche Stadt gewesen. Er, Blutero, hatte dieser Stadt zum königlichen „om“ verholfen, er und sein Einfluss in Kiroloom. Es war jetzt seine Stadt.

Trotz seiner 58 Jahre war er nach wie vor gut in Form. Dass seine Gestalt jugendlich, straff und muskulös war, dazu hatte sicher beigetragen, dass er während seiner militärischen Laufbahn viel Zeit in der Natur und auf dem Pferd verbracht hatte.

Seine Macht in dieser Stadt war enorm. Jeder in der Stadt glaubte, dass er mit der Armee den nördlichen Teil des Königreichs befreit hatte, dass er die Drachenkrieger und ihre Exzarden vertrieben hatte. Er hatte schließlich selbst dafür gesorgt, dass die Erscheinungen dieser Feuerdrachen, die tagelang aus dem Fluss emporgestiegen waren, als Hirngespinste abgetan worden waren. Die offizielle Version für König und die Militärs lautete, dass er und natürlich die königliche Armee die Narull besiegt und zurückgeschlagen hatten. Wer wagte schon, das Gegenteil zu behaupten. Der König hatte ihm nicht so recht geglaubt, hatte immer wieder nach diesen Feuerdrachen gefragt, woher er davon wusste, das war Blutero nicht bekannt. Doch das alles war lange her und außerdem schuldete der König ihm etwas. Er hatte ihm seine heiß geliebte Tochter zurückgebracht. Höchstpersönlich hatte er sie nach Kiroloom zurückbegleitet. Wenn es weiter so gut lief wie bisher, vielleicht musste er dann seine politischen Ambitionen in Kiroloom doch noch nicht aufgeben.

Er hatte die Angst vor den Drachenkriegern wach gehalten, und wenn sie drohte, in Vergessenheit zu geraten, dann schürte er sie neu. In Kriegs- und Krisenzeiten, in denen die Einwohner eines Landes um Leib und Leben fürchten mussten, hatten Bürgervertreter mit militärischem Hintergrund einen besonderen Reiz für die Bürger. Der Bevölkerung von Haffkom hatte er ja schon bewiesen, dass er militärisches Geschick besaß, wohingegen der Vorgänger von Lucek genau das Gegenteil bewiesen hatten. Und Lucek selbst war jetzt Botschafter in Narull. Blutero hatte dafür gesorgt, dass Luceks Amt als Diplomat in Narull bei großen Teilen der Bevölkerung als Verrat angesehen wurde. Lucek hatte sein Amt als Tef freiwillig geräumt wegen einer Liebschaft mit der Tochter des Primus. So ein Narr.

Vor dem Audienzzimmer gab es ein kleines Wartezimmer, in dem die Leute warteten, die einen Termin mit ihm hatten. An manchen Tagen war das Zimmer voll, denn auch Leute, die keinen Termin hatten, versuchten zu ihm vorzudringen. Meist hatten sie kein Glück, denn wer nicht wichtig genug war, um bei seinem Sekretär einen Termin machen zu können, den empfing der Tom nicht. Und die Vorgabe, wer wichtig war, kam von Blutero selbst, und wer einen Termin machen durfte, das stimmte sein Sekretär sehr eng mit ihm ab.

Auch wenn er einer der Wichtigen war, langweilte ihn sein Gegenüber. Der Händler, der ihm gegenüber saß, war reich und ein angesehener Bürger der Stadt. Auch er hatte von den neuen Handelsmöglichkeiten profitiert, und war daher ein großer Anhänger von Lucek gewesen, da dieser ein vehementer Fürsprecher und Kämpfer für die guten Handelsbeziehungen zu Narull war. Aber er war auch ein großer Anhänger von Blutero, denn ein kluger Geschäftsmann versuchte sich immer mit der Obrigkeit gut zu stellen. Da geht es um Steuern, um Konzessionen, um die besten Plätze auf dem Markt, um günstige Grundstücke für ein Ladengeschäft und um vieles andere mehr. Und genau um all diese Themen ging es auch heute bei ihrer Unterredung. Der Händler sprach, oder besser gesagt, er leierte seine Wünsche, Sorgen und Nöte herunter fast ohne Punkt und Komma. Außer dass er ihn langweilte, war ihm der Händler zuwider. Er hatte eine feuchte Aussprache und war dick. Seine geröteten mit Äderchen durchzogenen Wangen deuteten eindeutig darauf hin, dass er zu viel Alkohol trank, und zudem müffelte er leicht säuerlich, als ob es schon eine Weile her wäre, dass er sich gründlich gewaschen hätte. Blutero suchte nach einem Grund, das Gespräch abzubrechen. Er hatte nun wahrlich genug Zeit und Geduld mit diesem ...

In diesem Moment ging die Tür auf und Blutero hatte seinen Grund. Sein Sekretär Fohin hatte einen Mann im Schlepptau, der, da war sich Blutero sicher, keinen Termin hatte. Er hatte auch nicht in dem kleinen Wartezimmer warten müssen, denn die Liste derer, die dort auf ihn warteten, lag immer in Form eines Blattes Papier vor Blutero auf dem Schreibtisch.

 

„Herr. Es tut mir Leid, dass ich eure Unterredung unterbrechen muss, aber es ist eine wichtige Nachricht eingetroffen, die ihr unbedingt sofort hören solltet.“

„Ist schon gut. Ich denke wir waren sowieso gerade fertig. Fohin würdet ihr bitte meinen Gast hinaus führen.“

Und zum Händler gewandt fügte er hinzu.

„Ich danke euch für die Zeit, die ihr euch genommen habt. Es ist immer wieder interessant, euren Standpunkt zu hören.“

„Äh, ja, äh, gut ...“, der Händler war durch die Unterbrechung und den abrupten Abbruch des Gesprächs etwas fassungslos.

„Äh, ich werde euch weiter auf dem Laufenden halten.“

Dann begab er sich schwerfällig und sichtlich um einen würdevollen Abgang bemüht zur Tür. Als er sich noch einmal umdrehen wollte, um sich ein letztes Mal zu verabschieden, hatte Fohin die Tür bereits hinter ihm geschlossen und deutete mit dem ausgestreckten Arm höflich aber bestimmt auf die Ausgangstür. Mit einem unzufriedenen Grunzen und jetzt auch deutlich seinen Unmut zeigend, schlug der Händler die vorgeschlagene Richtung ein.

Im Audienzzimmer kam man indessen sofort zu Sache.

„Nun, Schwitter. Was gibt es Neues, das so wichtig war, meine wichtige Unterredung mit dem lokalen Handel zu unterbrechen?“

Schwitter der Leiter des lokalen Gefängnisses hielt seinen Hut in der Hand und drehte ihn nervös an der Krempe hin und her.

„Ja. Eine äußerst wichtige Nachricht, die ich euch gleich mitteilen wollte, da ihr doch derjenige wart, der angeordnet hat, ... dass dieser junge Mann, dieser ... aus dem Dorf Hallkol, ... sein Name lautet Stonek,“, Blutero wurde hellhörig, „ja, dieser junge Mann, er ist heute Nacht, ... er ist, nein er wurde, und dabei wurde die gesamte Wache überwältigt, ... nun er ist geflohen, befreit worden von mindestens ... .“

Schwitter brach ab, da der Tom ihn mit offenem Mund anstarrte. Schnell schaute Schwitter beiseite und konzentrierte sich darauf, was er hatte sagen wollen und fuhr dann aber genauso unkonzentriert und stockend wie bisher fort.

„Nun. Das wollte ich Ihnen, ... da Sie ja sehr daran interessiert schienen ... was mit dem jungen Mann ist ...“

„Was!!!“, bellte der Tom und unterbrach den Leiter des Gefängnisses. Das Gesicht des Tom war jetzt rot angelaufen.

„Was!!!“, der Tom war hinter seinem Tisch aufgestanden und er krallte sich daran fest. Man merkte ihm an, dass es ihm schwer fiel, Schwitter nicht an den Hals zu gehen.

„Habe ich euch nicht gewarnt, dass man versuchen wird, ihn zu befreien!!!“

Schwitter antwortete nicht.

„Habe ich euch nicht befohlen, den Gefangenen so zu bewachen, dass niemand ihn befreien kann!!!“

„Wie könnt ihr es wagen mir so eine Nachricht ...“, Blutero atmete schwer, „ich sage euch, wenn wir im Krieg wären, hätte ich euch hinrichten lassen. Ihr seid ein unfähiger Nichtsnutz. Das war eine einfache Aufgabe für einen zweitklassigen Rekruten.“

Es dauerte eine Weile, bis sich der Tom wieder einigermaßen beruhigt hatte, aber schließlich kam der kühle Kommandant wieder hervor, übernahm wieder die Führung und drängte den cholerischen Teil in ihm zurück.

Er hörte den weiteren Ausführungen Schwitters zu, die unter dem Blick von Blutero immer unzusammenhängender und wirrer wurden.

Als der Leiter des Gefängnisses begann, sich in seinen Aussagen nur noch zu wiederholen, schnitt ihm Blutero das Wort ab, rief seinen Sekretär herein und gab ihm einige wenige aber präzise Anweisungen. Damit wurde eine umfangreiche Suche nach Stonek und seinen Befreiern stabsplanmäßig in die Wege geleitet. Schwitter stand kleinlaut dabei und wagte nicht, etwas einzuwenden. Kurz darauf verließen einige gelb gewandete Agenten das Haus des Tom.

***

Man nahm die Töne nicht als Flötenspiel wahr, jedoch hörte man sie schon von Weitem. Sie gruben sich ins Bewusstsein und wurden dann zur Gewissheit. Was diese Gewissheit ausdrücken sollte, wussten weder die Grenzwächter des Königreichs noch die von Narull, sie merkten einfach, dass etwas gewiss war. Und Frieden, ja tiefen Frieden verspürten sie. Manche der Wachen schlossen die Augen auf der Stelle, an der sie gestanden hatten und lauschten, andere starrten mit offenen Augen vor sich hin. Die, die gerade gegessen hatten, hörten auf zu kauen und wieder andere hielten mitten in einem spannenden Kartenspiel inne.

Es dauerte noch eine geraume Zeit, bis man die Gestalten, die gemächlich den Weg entlang geritten kamen, sehen konnte, doch sie wurden nicht wirklich wahrgenommen, da die Wachen mit Lauschen beschäftigt waren. Der Vordere der drei war Hanrek und er hielt seinen Stab an den Mund und spielte die Flöte, die in diesem Stab eingearbeitet war. Als er an dem jungen Heronussbaum vorbei kam, der die Grenze des Königreichs gegenüber den Exzarden aus Narull verteidigen sollte, verneigte er sich vor ihm. Die tiefe Ehrfurcht vor dem Baum schwang in seinem Flötenspiel mit und veränderte einen Moment lang die Stimmung in dem lang gezogenen Tal, der Passage vom Königreich nach Narull. Kurz darauf konzentrierte sich Hanrek wieder auf die Stimmung, die er ursprünglich vermitteln wollte und alle Lebewesen im Tal vollzogen den gleichen Stimmungswechsel wie Hanrek von tiefer Ehrfurcht nach friedvoller Gelassenheit.

Es war ein weiterer Besuch bei dem alten Heronussbaum im Wald gewesen, der Hanrek darauf gebracht hatte, auf diese Weise die Grenze zwischen den beiden Ländern zu überqueren. Er dankte Lucek dafür, dass dieser seine Idee, einen Heronussbaum direkt an der Grenze nach Narull pflanzen zu lassen, tatsächlich umgesetzt hatte. Er sollte als Schutz vor Exzarden dienen. Im Hinterland der Grenze hatte man zahlreiche weitere dieser Bäume gepflanzt, jedoch in großem Abstand, da eine Heronuss nur dann keimte, wenn zum nächsten Heronussbaum ausreichend Zwischenraum bestand. Die Auren der Bäume ließen es nicht zu, dass in ihrer unmittelbaren Nähe ein weiterer Heronussbaum wachsen konnte.

Unbehelligt und dabei auch noch Frieden verbreitend, wanderten Hanrek, Mico und Dresson nach Narull hinein. Erst lange, nachdem sie von dem befestigten Weg, der in Narull mittlerweile als der Weg ins Königreich bekannt geworden war, abgewichen waren, setzte Hanrek den Stab ab und befestigte ihn, selbst von tiefem inneren Frieden beseelt, an seinem Sattel.

„So. Jetzt sind wir also in Narull.“, sagte Mico. „Das war ja einfach. Und was jetzt?“

Er schaute von Hanrek zu Dresson und wieder zurück.

„Jetzt machen wir genau das, was wir vorher besprochen haben.“, erwiderte Hanrek, „wir verändern unser Äußeres so, dass wir bei einem flüchtigen Blick als Narull durchgehen.“

Dresson schüttelte leicht den Kopf, widersprach aber nicht.

„Und dann brechen wir auf zum verbotenen Buch, dieser sagenhaften Bibliothek der Narull und hoffen, dass wir dort zum einen die geheime Geschichte fertig lesen können und zum anderen, Informationen über Drachen finden.“

„Ja und das Ganze in einigen wenigen Monaten, damit wir rechtzeitig vor dem Winter wieder ins Königreich zurückkommen.“, dieser Kommentar von Dresson kam in einem provokativen Ton heraus. Man merkte ihm an, dass er den Plan von Hanrek für sehr gewagt hielt. Und der Gedanke, wenn ihnen die Zeit nicht ausreichte, den Winter in Narull zubringen zu müssen, gefiel ihm ganz und gar nicht.

Die Drei machten sich an die Arbeit und kurze Zeit später, hatten sie tatsächlich ihr Aussehen so verändert, dass sie von Weitem als Drachenkrieger durchgingen. Dresson hatte sich seine ursprüngliche Haarfarbe wieder zugelegt und die beiden anderen hatten ihre braunen Haaren so weit aufgehellt, dass sie fast blond waren. Lediglich die braunen Augen von Mico waren für Narull sehr ungewöhnlich.

Sie ritten zurück zum Weg ins Königreich und folgten diesem in Richtung Narull. Der Weg war fast menschenleer. Nur ab und zu kam ihnen ein Händler mit seinem Karren entgegen. Als sie schließlich das Gebirge hinter sich gelassen hatten und die dahinter liegende Ebene erreicht hatten, stapften ihre Pferde schon durch den in Narull in großen Mengen vorkommenden Schnee.

***

„Gibt es in diesem Land eigentlich keine Flüsse? Ihr habt so viel Schnee hier. Was passiert mit dem Schnee, wenn er schmilzt. In welchen Fluss läuft das Wasser ab, wir haben bisher noch gar keinen gesehen?“, fragte Mico bei einer Rast.

„Nun. Es läuft nicht ab, sondern es versickert im Boden. Wenn der Schnee schmilzt, und das passiert nur für wenige Wochen im Sommer, dann wird fast ganz Narull zu einem Sumpfland. Wir haben viele Moore in Narull und dann bekommen wir auch ungemein viele Stechmücken.“

„Stechmücken. Du meinst in ungefähr zwei Monaten werden wir von diesen Blutsaugern aufgefressen und stapfen in Sumpfland herum.“, fragte Mico entsetzt.

„Ich fürchte, das mit den Mücken stimmt, wobei wir uns ja mit unserer Kleidung schützen können.“

„Und das mit dem Sumpfland. Was ist mit dem Sumpfland?“, fragte Hanrek nach.

„Die Hauptstraßen in Narull sind gut befestigt und liegen meist erhöht, sodass man nicht im Sumpf herumstapfen muss. Es sei denn, man will die Straßen nicht benutzen.“, erklärte Dresson.

„Aber das bedeutet ja, wenn man uns entdeckt, dass wir nicht von den Straßen abweichen können, um uns querfeldein durch Narull zu schlagen und unsere Verfolger abzuschütteln.“, Hanrek schaute leicht entgeistert.

Dresson nickte langsam, sagte aber nichts.

„Aber warum hast du uns das nicht gesagt. Das ist doch wichtig.“, wurde Hanrek vorwurfsvoll.

„Ihr habt nicht gefragt, und ich dachte, das wäre klar. Und abgesehen davon, was würde das ändern.“, Dresson war jetzt fast beleidigt.

Hanrek starrte eine Weile vor sich in und seufzte dann schließlich.

„Du hast recht. Ich wäre trotzdem dafür gewesen, dass wir hier herkommen. Aber das macht es nun noch schwerer, als es ohnehin schon war.“

In den nächsten Stunden war Hanrek stiller als sonst und man merkte ihm an, dass er das gerade Gehörte erst noch verdauen musste.

***

Mittlerweile waren sie weit ins Land Narull vorgedrungen. Tagsüber waren sie weite Strecken geritten und nachts schliefen sie in einer der zahlreichen Schenken, die an der Straße lagen.

Wegen der Kälte fiel es nicht auf, wenn sie tagsüber mit ihren großen Kapuzen ihre Gesichter verbargen, sodass niemand sie als Bürger des Königreichs erkennen konnte. Lediglich in den Schenken mussten sie vorsichtig sein. Ohne Kapuzen bestand durchaus die Möglichkeit, dass Mico und Hanrek als Fremde identifiziert wurden. Daher fragte Dresson jedes Mal nach einem Zimmer für die Nacht und nach einer Unterstellmöglichkeit für ihre Pferde, und seine beiden Gefährten schlüpften dann möglichst ungesehen in die Kammer. Ihr Essen nahmen sie auf dem Zimmer ein.

Tag um Tag drangen sie so tiefer in das Land der Narull ein.

Narull wurde nach Süden hin vom großen Gebirge begrenzt. Dieses erstreckte sich über den ganzen Kontinent und zog sich dann auf beiden Seiten genauso schroff und unwirtlich und damit unüberwindbar an den Meeresküsten entlang. Dass sich hinter den Bergen das Meer befand, wusste man in Narull nicht, da es niemandem gelang, die Berge zu überqueren. Das Meer hätte man aber auch nicht als solches erkennen können, da es mit einer dicken, zerklüfteten Eisschicht überzogen war.

Nach Norden wurde Narull ebenfalls von einer Eisschicht begrenzt, die das Leben in diesem Land fast unmöglich machte.

Lediglich das Volk der Schneemenschen wohnte in diesem Land. Ein kriegerisches Volk, das regelmäßig das südlicher gelegene Narull angriff. Das waren unkoordinierte und wild vorgetragene Überfälle, aber da die Schneemenschen sehr groß gewachsen waren und außerdem über große Körperkräfte verfügten, schafften sie es immer wieder, die Armee des Primus in Atem zu halten. Dass es im Norden so kalt und unwirtlich war, half den Schneemenschen, da sie an die Kälte besser angepasst waren als die Narull. Im Norden ging die Sonne nur für ein paar Stunden am Tag auf, meistens war es dunkel, und auch das war etwas, was den Schneemenschen half, denn sie sahen im Dunkeln wie Exzarden. Und daher erfolgten die Überfälle auch meistens nachts.

Wenn die Armee es einmal schaffte, die Schneemenschen mit großer Mühe aufzuspüren, und dann versuchte, sie aufzureiben, zerstreuten diese sich meist innerhalb kürzester Zeit, und machten sich in dem unwirtlichen Land unsichtbar. Sie versteckten sich so gut, dass nur Flüsterer sie aufspüren konnten, und der Primus schickte Flüsterer nur ungern in diesen Teil von Narull. Er wollte die Flüsterer und mit ihnen natürlich die Exzarden lieber in seiner Nähe wissen, da diese ein Garant für seine militärische Stärke und Macht waren.

 

Der Primus hatte seinen Regierungssitz in der Hauptstadt Maunas, die im Osten des Landes lag. Maunas war die größte Stadt in Narull und daneben gab es nur drei andere Städte, die eine ähnliche Größe hatten, dafür gab es ungezählt viele kleinere Dörfer. Von Maunas zogen sich die befestigten Straßen wie ein großes Spinnennetz durch das ganze Land. Diese Straßen verbanden die vielen kleinen Fürstentümer, die es in Narull gab. Sie führten durch meist hügelige Landschaften aber manchmal auch durch größere Ebenen, die nur hin und wieder einmal durch niedere Erhebungen, die die Bezeichnung Berge nicht verdienten, unterbrochen wurden.

Insgesamt lag das Land der Narull viel höher als das Königreich, und außer, dass es viel weiter im Norden lag, war das wohl auch der Grund, warum es hier immer so kalt war.

Ein weiterer Grund für die Kälte waren die eisigen Winde aus dem Norden, die oft gen Süden pfiffen und dort von dem hohen Gebirge zurückgeworfen wurden. Die Kälte, die von den Winden herangetragen wurde, legte sich dann schwer aufs ganze Land und kühlte es herunter, bis die Bäume zu platzen anfingen.

Zum Glück kam diese extreme Kälte nur sehr selten vor und auch nur im tiefsten Winter. Jetzt dagegen wurde es langsam wärmer in Narull, und an manchen Stellen, die tagsüber von der Sonne länger beschienen wurden, begann der Schnee sogar schon langsam zu schmelzen.

***

Obwohl es jetzt schon relativ warm war, bekam Dresson nach einigen Tagen einen hartnäckigen trockenen Husten, der einfach nicht besser werden wollte. Im Gegenteil. Er wurde immer schlimmer, und dann kam auch noch Fieber hinzu. Dresson konnte sich nur noch mit Mühe auf dem Pferd halten. Er war krank und benötigte dringend einige Tage Ruhe, um sich zu erholen.

Hanrek und Mico waren sich einig, bei der nächsten Gelegenheit mussten sie sich eine Unterkunft suchen, damit Dresson wieder zu Kräften kam.

Am Nachmittag kamen sie an eine Straßenkreuzung. Die Straße, der sie gefolgt waren, und die von Süden nach Norden verlief, wurde von einer Straße gekreuzt, die von Westen nach Osten verlief. Es lag eine ungewöhnlich große und schöne Gaststätte genau an dieser Kreuzung. Sie trug den Namen „Zur Kreuzung“ und sie hatte sogar einen neu errichteten Stall, was für Narull ungewöhnlich war, da es ja noch gar nicht so lange Pferde in diesem Land gab. Allerdings hatte der Stall bisher fast noch keine Pferde gesehen.

Dresson erklärte ihnen unter schweren Halsschmerzen und mit einigen Schüttelfrostanfällen, dass die Straße, die sie gerade erreicht hatten, eine der wichtigsten Straßen des Landes war, denn sie verband die beiden größten und wichtigsten Städte von Narull miteinander. Im Osten war dies die Hauptstadt Maunas und im Westen war das Rimpoon. Und nicht weit von Rimpoon entfernt lag ihr Reiseziel, die Bibliothek mit dem Namen „das verbotene Buch“.

Hanrek und Mico beschlossen, in genau dieser Gaststätte länger zu rasten, und sobald es Dresson wieder besser ging, ihre Reise nach Westen fortzusetzen.

Geld war schon von Anfang an eine ihrer größten Sorgen gewesen. Obwohl sie alle drei nicht arm waren, bestand das Problem darin, dass man im Königreich kein Geld bekommen konnte, mit dem man in Narull bezahlte. Folglich hatten sie noch im Königreich einige wertvolle Gegenstände gekauft, die man auch in Narull brauchen konnte. Bei der ersten Gelegenheit hatte Dresson diese dann verkauft, und so kamen sie zu dem Geld, mit dem sie bisher ihre Lebensmittel und das Futter für die Pferde gekauft und ihre Zimmer für die Übernachtungen bezahlt hatten.

Ihr Geld wurde aber immer knapper, und Hanrek und Mico befürchteten, dass es ihnen genau jetzt ausgehen würde. Sie schätzten, dass der Preis für die Übernachtungen in diesem guten Gasthaus immens war und dass sie auch für den Platz, den die Pferde in dem neu gebauten Stall brauchten, einen stolzen Preis zahlen würden. Sie sollten mit allem Recht behalten.

Hanrek und Mico hatten als Erstes die Pferde im Stall untergestellt und dann gemeinsam Dresson, der nicht mehr alleine gehen konnte, in die Schankstube geholfen. Dresson saß jetzt zusammengesunken auf einer Bank nahe am Feuer und atmete schwer die heiße Luft im Raum. Er schwitzte stark und phantasierte.

Die Schankstube war wenig besucht, da es noch zu früh am Tag war. Mico ließ Hanrek bei Dresson und ging allein an die Theke.

„Was hat euer Freund?“, fragte der Wirt sofort, als Mico die Theke erreichte.

Er hatte eine Schürze um den dicken Bauch gebunden und mit einem weißen sauberen Tuch rieb er einige Gläser trocken. Zwischen zwei Gläsern rieb er sich, ohne es überhaupt zu bemerken, geistesabwesend mit dem gleichen Tuch immer wieder über seine glänzende Glatze.

Fasziniert hatte Mico dem Wirt dabei zugeschaut und besann sich erst nach einem Moment auf die ihm gestellte Frage.

„Er hat Husten und außerdem Fieber.“

„Hm.“, machte der Wirt. Man sah ihm an, dass es ihm nicht recht war, dass in seiner Wirtschaft ein Kranker saß.

„Wir würden gerne ein Zimmer mieten, solange bis sich unser Freund wieder erholt hat.“, sagte Mico mit einer arrogant klingenden Stimme.

„Ihr seid nicht von hier, was.“, schaute der Wirt Mico misstrauisch an.

Mico ging nicht auf die Frage ein. Er wollte die Rolle eines überheblichen reichen Reisenden mimen.

„Unseren Freund. Wir würden ihn gerne auf ein Zimmer bringen, damit er sich hinlegen kann. Habt ihr ein Zimmer mit drei Betten für uns?“

Der Wirt zögerte einen Moment, schien nachzudenken, bevor er in ein Fach unter der Theke langte und Mico einen Schlüssel hinlegte.

„Macht 30 Stengel die Nacht. Bezahlt wird im voraus. Essen und Trinken geht extra. Was meint ihr, wie viele Nächte bleibt ihr?“

Das war ein saftiger Preis, 30 Stengel entsprachen im Königreich ungefähr einer Silberkrone. Doch Mico hatte mit so etwas gerechnet, doch trotzdem zog er wie überrascht eine Augenbraue hoch.

„Wir wissen es noch nicht, da wir nicht wissen, wie lange unser Freund krank sein wird. Aber bei dem Preis möchte ich mir das Zimmer erst einmal ansehen, bevor wir uns entscheiden.“, Mico klang sehr überheblich.

Der Wirt war verblüfft.

„Nun, ähh ..., ... gut. Na dann, wie ihr wollt. Wenn ihr dort die Treppe hinauf geht, ist es das zweite Zimmer auf der linken Seite.“

Doch Mico ging noch nicht gleich.

„Unsere Pferde. Was kostet es, sie in eurem Stall einzustellen? Ich hoffe euer Stallbursche ist vertrauenswürdig. Ich möchte nicht eines Morgens in den Stall kommen und unsere Pferde sind weg.“

Der Wirt schaute ihn verdutzt an und bildete mit seinem Mund ein großes O. Er hatte nicht damit gerechnet, dass diese drei Reisenden Pferde hatten. Da es nur so wenige Pferde in Narull gab, waren diese ein Vermögen wert.

Weil er keine Antwort bekam, sprach Mico noch einmal direkt das O an.

„Die Pferde. Der Preis. Habt ihr meine Frage verstanden, guter Mann?“

Der Wirt erwachte wie aus einem Traum.

„Ja. Äh. Die Pferde. Verzeiht. Nun. Das macht pro Pferd und pro Nacht noch einmal 5 Stengel.“

Und dann fragte er vorsichtig.

„Drei Pferde?“, wie wenn er sich so viel Reichtum gar nicht vorstellen könnte.

Mico schaute ihn überheblich an. Dann drehte er leicht den Kopf, sodass er zu seinen Kameraden schauen konnte, und zählte laut, indem er deutlich mit dem Finger auf die einzelnen Personen deutete.