Auf dem hohen Berg

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»Schweinsköpfe«, sagte Straub und musste lachen. Die Fotografien, es waren acht Stück, zeigten überwiegend etwas fülligere Frauen, die dabei waren, ihre Reize zu enthüllen oder die bereits alle Hüllen hatten fallen lassen. Eine räkelte sich bäuchlings und wie ein Säugling auf einem weißen Fell und sah dabei den Betrachter mit großen und ernsten Augen an. Eine andere war nackt bis auf die Strümpfe; sie hatte einen Fuß auf einen plüschigen Schlafzimmerhocker gestellt und war im Begriff, einen Strumpf abzurollen. Ihr Hintern war Straub zu groß und zu fleischig. Am besten gefiel ihm die mit den dunklen hochgesteckten Haaren und dem leicht anzüglichen Lächeln. Sie verbarg sich zwischen Palmblättern, tat so, als würde sie Verstecken spielen und zeigte dabei weniger als die anderen, dieses Wenige aber – eine ihrer kleinen Brüste, ein langes Bein und natürlich ihr einladendes Lächeln – war weit erotischer als bei den Damen auf den anderen »künstlerischen Aktfotografien«. Auch hatte diese Karte, im Gegensatz zu den anderen, am unteren Ende so etwas wie ein Motto stehen, einen Titel: »Komm, fang mich doch!«, stand da.

Straub besah sich die Fotografien alle noch einmal. Dann nahm er sieben davon und warf sie in den Küchenherd. Die Versteckspielerin aber legte er in die Schublade seines kleinen Esstisches. Sie gefiel ihm.

Kapitel 4

Etwa eine Woche nach Straubs Ankunft auf der Station, kündete sich der Winter mit allen Vorzeichen an, die ihm zu Gebote standen. Vorzeichen, die wohl jeder Laie falsch gedeutet hätte.

Die Temperatur auf dem Gipfel stieg mittags auf zwölf Grad Celsius, Plusgrade wohlgemerkt. An der schindelgetäfelten Außenwand des Turms staute sich die Wärme, und Straub konnte zu seinem kleinen Mittagsmahl draußen sitzen – im Unterhemd. Die Dohlen kamen angeflattert und balgten sich um ein paar Krümel von Straubs Brot.

Er genoss den Blick auf den weiten weißen Schneeferner. Und wenn er aufstand und einmal am Münchner Haus entlangging, bis die Ausschau nach Norden frei wurde, dann sah er über den spaltendurchfurchten Höllenthalferner und das gleichnamige Tal hinaus in die voralpine Landschaft, wo sich die Berge im flacheren Land auswellten wie das Meer an einem Strand.

Bis um zwei Uhr war der Himmel völlig wolkenlos, und die Sicht reichte bis zu den Dolomiten. Die Luft war seidig weich, der Himmel so klar – alles in allem kein gutes Zeichen zu dieser vorgeschrittenen Jahreszeit.

Am späteren Nachmittag legte der Himmel einen zarten Schleier an. Nun trug er einen wässrigen Grauton, durch den jedoch das Blau immer noch zart durchschimmerte. Und dann kam Wind auf, der sich innerhalb einer Stunde zu einem gehörigen Sturm steigerte.

Straub hatte sich fast schon mit dem Gedanken angefreundet, dass es in diesem Jahr vielleicht gar keinen richtigen Winter geben würde. Dass der Herbst sich halten würde bis Januar – und dann gleich ein ganz frühes Frühjahr einsetzte. Er hätte nichts dagegen gehabt. Den Wetterstatistiken zufolge hatte es diese Spitzen nach oben wie nach unten in den letzten hundert Jahren immer einmal gegeben: Sommer, die besonders verregnet, Winter die besonders schneearm waren. Ausgesprochen kalte Augustwochen, unerklärlich warme Januars und Februars. Aber die Erfahrungswerte besagten doch, dass in der Regel Schnee das letzte Laub von den kahl werdenden Bäumen schüttelte, dass also auf den Herbst der Winter folgte, und dass so ein Winter in diesen Breiten fast ein halbes Jahr lang dauern konnte, bisweilen sogar länger.

Zum Abend hin entwickelte sich der Sturm zum Orkan. Wenn Straub vor die Tür trat, musste er sich festhalten, damit er nicht einfach umgeweht wurde. Die Wolken, die sich allmählich gebildet hatten, um dann als immer gewaltigere Wogen aus dem Westen daherzukommen, wurden über die Gipfel hinweggefegt. Sie lösten sich auf und formierten sich neu. Im Licht des abnehmenden Mondes, der mal vernebelt, mal ganz dominant am Himmel stand, wurde dieses Wetter zum grandiosen und zugleich furchteinflößenden Schauspiel.

Ein Föhnsturm, der ungehindert über den Gipfel jagte, der an der Station rüttelte, dass die Balken nur so ächzten, der gegen das Haus schlug und es zum Erzittern brachte, der in den Kamin fuhr und den Rauch beißend in die Räume drängte. Und der den Wetterwart Anselm Straub die ganze Nacht lang kein Auge zumachen ließ. Es erging ihm wie einem Kapitän auf stürmischer See, der nur hoffen konnte, dass sein Schiff den Kurs halten und wenn schon nicht den Kurs halten konnte, so doch we­nig­stens nicht auseinanderbrach.

In diesen Stunden, allein auf dem hohen Berg, zweifelte er daran, dass es eine gute Entscheidung gewesen war, sich in eine solche Wildnis zu begeben. Er hatte immer über den Winter nachgedacht und sich gesagt, dass ihm die Kälte nicht so viel ausmachen würde. Er hatte sich gefragt, wie er mit dem Alleinsein zurechtkommen könnte. Und die Antwort war, dass ihm die Zeit allein mit sich selbst bestimmt ganz guttäte, bevor er eine Familie gründen und Kinder in die Welt setzen wollte. Über die Gewalt der Stürme und darüber, dass er Stürme nicht gut ertrug, hatte er vor sich keine Rechenschaft abgegeben. Dabei wäre es so naheliegend gewesen …

Er wusste ja genau, woher seine Angst rührte, wie sie aufgekommen war und sich in ihm festgesetzt hatte.

Vier oder fünf Jahre musste er gewesen sein, damals. Er war an der Hand seiner Mutter in der Stadt spazieren gegangen. Wahrscheinlich hatte er nicht gewusst, dass es sich um die Ludwigstraße unweit des Odeonsplatzes handelte, wo alles geschah, was ihn so verstörte. Sicher hatte er es nicht gewusst, nicht wissen können. Dieses Wissen hatte sich nach und nach hinzuaddiert. Sie waren aus dem Hofgarten gekommen, waren vorbeigegangen am Café Putscher, und er glaubte immer noch, sich erinnern zu können an seine Freude, die vielen Kutschen und Gespanne zu sehen, die auf der breiten Prachtstraße unterwegs waren.

»Oh, dieser schreckliche Trubel«, hatte hingegen seine Mutter gesagt und ihn noch fester an der Hand genommen.

Und dann war es passiert: Eine plötzlich aufkommende, um eine Straßenecke fahrende Windbö hatte seiner Mutter den Hut vom Kopf gerissen. Einen Baretthut, mit Federn und seidenen Blütenblättern kunstvoll verziert. Der Hut wurde in die Luft gerissen, hochgewirbelt, stürzte in den Staub der Straße, geriet neuerlich in die Klauen des Windes, rollte hierhin, rollte nach da, wurde erneut nach oben katapultiert, um schließlich im Pferdedreck zu landen und von den Gäulen der nächsten daherkommenden Kutsche zertreten zu werden.

In dem Moment, da der Wind den Hut fortgerissen hatte, stieß Straubs Mutter einen lauten, hellen, angstvollen Schrei aus. Nur ganz kurz. Aber doch in einer Art, die ihn, den kleinen Buben, bis ins Mark erschütterte. Der kurze Schrecken seiner Mutter übertrug sich auf ihn – um bei ihm ein lang anhaltender, ein ewig währender Schrecken zu werden. Er schrie wie am Spieß. Und er hasste den Sturm.

In dieser Nacht auf der Zugspitze war er voller Angst. Er stellte sich vor, wie der Orkan seinen Turm aus den Verankerungen riss und ihn über sechshundert Höhenmeter auf den Höllenthalferner hinabstürzen würde. Er hörte das Geschirr in den Schränken klappern und konnte geradezu körperlich spüren, dass dieser Sturm versuchte, die Läden an den kleinen Fenstern aus ihren Scharnieren zu reißen.

Straub war nie ein frommer Mensch gewesen, sonst hätte er vielleicht den Blick zum kleinen Kruzifix gerichtet, das im Eck über seinem Esstisch hing und vom flackernden Licht beleuchtet wurde. Er hielt nicht viel von Kirche und Glauben; was er glaubte war, dass die Welt mit der Wissenschaft zur Gänze zu erklären sei. Und dass alles andere, zumindest fast alles andere, Romantik und Märchenzauber wäre.

Doch die Angst war da. War riesengroß. Gewaltig wie die Wolken am frühen Abend. Aus einem der Schränkchen, worin Töpfe, Geschirr und Gewürze lagerten, holte er sich die Rumflasche und trank mindestens so viel, wie in eine Tasse gepasst hätte. So wurde der Sturm leiser und nach und nach verlor er tatsächlich an Bedrohlichkeit.

Er schlief dennoch unruhig, wälzte sich hin und her, träumte wirres Zeug – das Schellen des Telefons am frühen Morgen war eine Erlösung. Er vertröstete den Kollegen um eine Viertelstunde. Dick eingepackt ging er hinaus, um die Wetterwerte erst einmal im Augenschein zu prüfen. Und er war mehr als erstaunt über die völlige Windstille, die jetzt herrschte. Nichts regte sich. Das Gebirge lag da in völliger Lautlosigkeit. Im Osten zeigte sich ein erster heller Schimmer. Und über ihm und im Westen standen die Sterne am Himmel.

Noch hielt der Föhn, der in der Nacht so gewütet hatte, den Winter um ein paar Stunden auf. Aber wenn der Föhn dann zusammenbrechen würde, käme der große Wettersturz. Das stand ganz außer Zweifel. Es war eine Frage von Tagen, vielleicht auch nur noch Stunden. Er wusste es, und wenn er es nicht gewusst hätte, so hätte er es im Urin gespürt. Ganz sicher.

An diesem Morgen war Lidia von Berneis sehr zeitig auf. Sie hatte bereits am Vortag ihr großes Gepäck aufgeben lassen; in Dresden würde alles vom Bahnhof abgeholt werden.

Sie hatte sich von den Schafflers schon am Vorabend verabschiedet und dabei versprochen, im nächsten Frühsommer wieder ins Haus Alpenblick zu kommen. Die Betreiber der Pension hatten es sich aber nicht nehmen lassen, die »liebe Frau von Berneis« nach frühem Frühstück noch einmal in aller Form und mit herzlicher Rührung zu verabschieden. Karl Schaffler selbst brachte sie, nachdem er ihr eine wunderbar weiche und warme Decke umgelegt hatte, mit seinem Einspänner zum Bahnhof.

Dieser Schaffler war ein guter Geschäftsmann, hatte es im Leben zu einigem Erfolg gebracht, was gewiss auch daran lag, dass er die Schliche von Lieferanten durchschaute, dass er niemandem leicht auf den Leim ging. Nur: Auf Frauen verstand er sich nicht besonders. Und so war er kein bisschen verwundert darüber, dass die vorzüglich gekleidete Frau von Berneis einen Koffer mit sich führte, den sie dann beim mehrmaligen Umsteigen zumindest so weit selbst zu tragen hätte, bis ein Dienstmann ihr gegen kleines Entgelt die unbequeme Last abnehmen würde. Auch glaubte er ihr, dass sie die nagelbeschlagenen Bergstiefel, die sie an den Schuhbändern zusammengeknüpft hatte und einfach so mit sich trug, in München, wo sie zwei Stunden Aufenthalt haben würde, bei der altrenommierten Schuhmacherei E. Rid & Sohn in der Fürstenstraße zur Nachbesserung der Nähte vorbeibringen wollte.

 

Dass sie den Zug nach Murnau und weiter nach München gar nicht erst besteigen würde, dass sie nur darauf wartete, Schafflers Gefährt am Bahnhofsvorplatz wenden und davonfahren zu sehen, ehe sie sich im Waschraum der Station in eine zünftige Hochtouristin verwandeln wür-

de – das wäre ihm, dem grundguten Pensionsbetreiber, nicht im Traume eingefallen.

Als eineinhalb Stunden später beim Bahnhofsvorstand zu Garmisch ein feiner Reisekoffer abgegeben wurde, dessen Inhalt aus einem Rock, einer Bluse, einer Weste sowie Damenstrümpfen, Korsett, Handschuhen, Schuhen und einem Hütchen bestand, war Lidia längst aus dem Ort geschlichen, war an der Partnach entlang gewandert – einen Weg, den sie schon kannte – und dann mutig und völlig allein auf dem Steig, der ausgesetzt die Vordere Klamm durchzog, hinein ins Gebirge.

Sie war so voller Freude. Der Tag war so schön. Nachts hatte es gestürmt. Aber der Sturm hatte alle Wolken vertrieben und den Himmel blau gefegt. Der Morgen war mild, sehr mild für die Jahreszeit. Und außerdem konnte sie sich auf geradezu mädchenhafte Art daran ergötzen, dass ihr das Schelmenstück am Bahnhof so problemlos gelungen war. Jetzt trug sie zu den Nagelschuhen feste Strümpfe, die bis übers Knie reichten, unter dem Lodenrock eine Pumphose, einen gestrickten Pullover und eine Weste aus Jägerleinen. Bis auf die Stiefel war all das und dazu noch der erdfarbene Rucksack im Koffer versteckt gewesen. Auch eine Feldflasche, zwei Scheiben Brot, die sie beim Frühstück abgezweigt hatte sowie zwei Äpfel und eine Birne.

In der Klamm aber überkam sie dann doch ein Gefühl der Unsicherheit und der Besorgnis. Der zum Teil in den Fels gehauene oder mit Balken das tosende Wasser überspannende Weg war auch wirklich dazu angetan, düstere Gedanken aufkommen zu lassen: Bestimmt hundert Meter tief hatte sich hier der Wildbach in das Gestein gefressen. An Stellen, wo sie stehen bleiben und hochschauen konnte, führten nasse, lotrechte, sich nach oben noch verengende Felswände einem schmalen Streifen Himmel entgegen. Das Wasser prasselte hernieder, in rauschenden Kaskaden und in dünnen Tropfenfäden, es rauschte und rann, es wütete und es plätscherte, Moose und Flechten strotzten vor Nässe.

Sie hätte die Klamm auch umgehen und den Weg über die Partnachalm nehmen können oder, etwas umständlicher, übers Graseck. Aber sie wollte es so. Würde sie sich nicht abschrecken lassen von dieser düsteren, feuchten, um diese frühe Stunde besonderes kalt und bedrohlich wirkenden Engstelle auf dem Weg hinauf zur Zugspitze, dann gäbe es wohl nicht mehr viel, was sie von ihrem Vorhaben noch abhalten konnte.

Dunkel waren die in den Fels gehauenen Gänge, und ständig tropfte es in ihr zurückgestecktes Haar, ins Gesicht und manchmal auch in den engen Kragen, von wo es den Nacken hinunterrann und sie schütteln machte. Wie war sie froh, als die Schlucht, in der die Partnach so furchterregend gegen die Felsen schlug, langsam breiter wurde, als mehr Licht einfiel, die steilen Felswände zurücktraten und dort, wo die Landschaft sich schließlich weitete, auch der Wildbach einen vergleichsweise ruhigen Lauf nahm, Harmlosigkeit vorgaukelte.

Sie machte eine kurze Rast, aß die Hälfte von einem ihrer Äpfel und war ein wenig darüber verwundert, dass sie sich beim ersten Mal, da sie durch die Klamm gegangen war – damals aber in Begleitung ihres Gemahls und eines Partenkircher Führers – so gar nicht gefürchtet hatte, diesmal aber doch sehr.

Beim Rückweg, das nahm sie sich jetzt ganz fest vor, würde sie die Partnachklamm meiden.

Aber das Weitere konnte sie in der Tat jetzt nicht schrecken. Nicht, dass noch fast zweitausend Höhenmeter zu bewältigen waren, nicht, dass es noch viele Kilometer bis zum Ende des Reinthales waren, wo dann erst der steile Aufstieg begann, und auch nicht, dass Heinrich Schwaigers »Führer durch das Wetterstein-Gebirge«, den sie sich in der neuesten, 1901 erschienenen Auflage beim Partenkircher Buchhändler besorgt hatte, für den gesamten Anstieg zum Gipfel zehn Gehstunden veranschlagte. Wie hätten zehn Stunden auch schrecken können in Anbetracht Schwaigers euphorischer Beschreibung der Aussicht vom kreuzbestückten Zugspitzgipfel?

»Die Aussicht, insbesondere vom Ostgipfel, von dem man auch das Höllenthal mit dem zerklüfteten Ferner und den Blassenkamm überblickt, ist eine der großartigsten und lohnendsten in den nördlichen Alpen. Sie erstreckt sich von den Höhen des Donauthales bis zum Ortler und der Berninagruppe, vom Salzkammergut bis in die Ostschweiz zum Tödi. Im Westen und Südwesten übersieht man die Felshörner der Lechthaler und Allgäuer Alpen, unter denen insbesondere der Hochvogel hervortritt, nach Norden zu jenseits des Ammer- und Esterngebirges die schwäbische und oberbayerische Hochebene mit den Spiegeln des Ammer- und Würmsees; im Osten ragen die Spitzen des Karwendels hervor; den Glanzpunkt der Rundschau bilden aber im Süden die Firnhäupter der Centralalpen, von den Tauern angefangen bis in die Schweiz, besonders hervorragend die Oetzthaler- und Stubaiergruppe …«

So wanderte Lidia von Berneis nun taleinwärts an der Partnach entlang, angetrieben von einer schwärmerischen Begeisterung für die Natur im Allgemeinen und das Gebirge im Besonderen. Sie schritt kraftvoll aus, denn sie war ausdauernd und von guter Konstitution. Ihren Mangel an alpiner Erfahrung trachtete sie – so sie sich dessen überhaupt in vollem Ausmaße bewusst war – genau dadurch wettzumachen, dass sie über gute Ausdauer und Gesundheit verfügte und noch am selbigen Tag die Knorr­hütte, wenn nicht gar den Gipfel erreichen würde.

Dass sie beim Münchner Haus verschlossene Türen vorfinden würde, das war ihr wohl bewusst. Doch sie rechnete fest mit dem jungen Meteorologen. Der würde sie schon unterbringen können, irgendwo für eine Nacht.

Was gäbe das ein Mäulerzerreißen bei den Menschen daheim, dachte sie. Wenn die wüssten. »Stellen Sie sich vor, die Frau von Berneis. Haben Sie’s gehört. Hat die Nacht bei einem Wetterwart auf dem Berg verbracht. Nur sie und er …«

Dabei, so dachte sie weiter, ist das ja noch ein junger Bub. Und ich für ihn, na ja, jedenfalls gewiss nicht im richtigen Alter.

Dass es sie all die Jahre, seit sie Witwe geworden war, nicht bekümmerte, was andere über ihre Art zu leben dachten oder sprachen, war ihr sehr hilfreich.

Zäh, abenteuerlustig und naiv ging sie Schritt für Schritt der Zugspitze entgegen.

Wenn sich Straub im Spiegel betrachtete – das Waschbecken war nur einen Schritt vom Herd entfernt, was den Vorteil hatte, dass er sich zur Körperpflege unschwierig des heißen Wassers aus dem Ofengrandel bedienen konnte – so konnte er sich neu entdecken. Er konnte sehen, wie sein rötlichblonder Bart zaghaft wuchs, konnte seinen Augen ablesen, ob er müde oder munter, niedergeschlagen oder euphorisch war, er konnte, wenn er sein Spiegelbild lange genug fixierte, sogar eine Ahnung bekommen, wie er als Alter aussehen würde, worin er mehr seinem Vater und worin mehr seiner Mutter ähnelte.

Wie lange hatte er sich selbst nicht mehr so gesehen, sich selbst nicht mehr wahrgenommen. Da hatte es dieses Alleinsein gebraucht dazu. Jetzt, da selbst die Dohlen fort waren und sich seine sozialen Kontakte auf die zweimaligen Telefonate am Tag beschränkten, da wurde ihm sein Spiegelbild zum ersten Ansprechpartner in allen Lebenslagen. Mit den Finken konnte er nicht viel anfangen. Die hüpften auf ihren Stangen im Käfig herum und zwitscherten vor sich hin.

Das Haupthaar wuchs natürlich auch. In einer Schublade im Arbeitszimmer hatte er einen Haarschneider gefunden. Erst hatte er gedacht, es sei ein Instrument zur Schafschur. Aber es war tatsächlich eine Apparatur zum Kahlscheren des Schädels. Ein Gedanke, mit dem er sich nicht recht anfreunden konnte. Lieber würde er sich die Haare wachsen lassen, so wie Robinson Crusoe auf seiner einsamen Insel.

Wie Robinson, dachte er. Ich werde aussehen wie Robinson.

Am frühen Nachmittag begann es zu nieseln. Nur ein Hauch von Nässe zunächst, so sanft und so leicht wie Löwenzahnsamen in der Frühlingsluft. Doch aus dem Nieselregen wurde Regen, der immer mehr an Stärke zunahm und schließlich in Schnee überging. Da war es kurz nach drei. Als er um fünf die Wettermeldung durchgab, lagen auf der Terrasse vor Wetterstation und Münchner Haus ziemlich exakt achtunddreißig Zentimeter frisch gefallener Schnee.

Der Winter war jetzt da.

Kapitel 5

Er war in den Tagen seit seiner Ankunft immer ruhiger geworden. Nach den Verunsicherungen beim plötzlichen Alleinsein, nach den Schocks von unendlicher Leere im unendlich erscheinenden Raum, nach den angstvollen Stunden im ersten Sturm, nach erstem Heimweh und erster Sehnsucht nach Familie, Braut, Kollegen, nach alledem hatte sich sein Zustand mehr und mehr gefestigt. Nach seinem Körper schien sich nun auch seine Seele allmählich auf dem hohen Berge eingerichtet zu haben.

Die Stille wurde ihm vertraut.

Und jetzt, da der Schnee in dicken Flocken fiel, war die Stille noch tiefer und allumfassender als sonst.

Es war, als wenn die Welt im Weiß zur Ruhe käme.

Straub hatte sich eine nach Phantasierezept zusammengekochte Suppe – die Hauptzutaten waren Kartoffeln, Brot und Zwiebeln – warm gemacht, er war nach dem Essen noch einmal ins Arbeitszimmer gegangen, um seine Sachen zu ordnen und morgen in aller Früh wieder griffbereit zu haben und er hatte bei der Gelegenheit den gerahmten Text der »Münchner Neuesten Nachrichten« noch einmal überflogen. Auch Enzenspergers Erfahrungen im ersten Zugspitz-Jahr hatten zu seiner Beruhigung und Heimischwerdung beigetragen.

»Ich komme zu einer weiteren Frage, derjenigen, die ich im Sommer durchschnittlich zwanzigmal im Tage zu hören bekam: ›Ja, da müssen Sie doch vor Langeweile sterben!‹ Indes zur Langeweile fehlt mir schon das Nötigste – die Zeit. Die Ablesung der Instrumente zu den fixen Terminen, das Instandhalten und Reparieren der Registrierinstrumente, die Wolkenbeobachtungen, die Führung des meteorologischen Tagebuchs, die rechnerische Verwertung der Beobachtungen, die photographischen Arbeiten …«

Er hätte diesen Enzensperger gerne einmal kennengelernt. Aber dazu bestand ja keine Möglichkeit mehr. Gestorben mit gerade einmal dreißig Jahren.

»Aber außerdem muss der Beobachter auf der Zugspitze noch eine Vielseitigkeit besitzen, die zu dem modernen Prinzip der Arbeitsteilung in dia­­metralem Gegensatz steht. Im Nebenberuf ist er Koch, Stubenmädchen, Waschfrau, Schlosser, Schmied, Zimmermann, Telephonarbeiter, Telegraphist, Elektrotechniker, Mechaniker, Uhrmacher, Schiläufer, Schneeschaufler, Kaminkehrer, Holzhacker und Gott weiß, was noch alles …«

Aufgeschrieben war das vor fünf Jahren, aber geändert hatte sich seither wohl nichts. Es bedurfte schon eines besonderen Typ Mannes, so allei­ne zurechtzukommen.

Er legte eine Schelllackplatte auf, eine Operettenmelodie, kramte sich aus dem Regal über der Bank eine alte Zeitschrift und blätterte die Artikel durch, ohne dass einer davon seine Aufmerksamkeit hätte auf sich ziehen können.

Er öffnete eine Flasche Bier, schenkte sich ein kleines Glas ein, schaute durch eines der Fenster ins Schneetreiben hinaus und legte dann ein Scheit ins Herdfeuer. Es war für ihn bislang eine der schwierigsten Aufgaben, diesen Raum tagsüber angenehm warm zu halten, das Feuer nie ganz ausgehen zu lassen und dennoch nachts schlafen zu können. Denn er schlief gern kalt. In seinem Schlafzimmer zu Hause genügte ihm im Winter eine Temperatur von zwölf, dreizehn Grad. Dass es hier nachts wärmer war, hatte in den ersten Tagen zur Folge gehabt, dass er am Morgen mit Kopfschmerzen erwacht war. Aber nach und nach schien sich sein Organismus darauf einzustellen.

Straub zog sich eine dicke Jacke über, ging noch einmal hinauf ins Arbeitszimmer und stieg durch die Luke ins Freie. Die Flocken klatschten ihm nass ins Gesicht, aber da kein Wind ging, war das Schneetreiben nicht einmal unangenehm. Er leckte den Schnee, der ihm auf die Lippen fiel und sofort schmolz. Von den Bergspitzen, die den Schneeferner in weitem Bogen überragten, war nichts zu sehen. Auch nach Norden hin, wo bei klarem Wetter die verstreuten Lichter der Orte im Tal zu sehen waren, herrschten nur Schnee und Finsternis.

 

Wenn ich jetzt auf dem Mond wäre, so dachte Straub, könnte ich nicht ferner der Welt sein. Und er beschloss, sobald sich das Wetter bessern und der Himmel aufklaren würde, wieder einmal mit dem Fernglas den Mond anzuschauen, seine kreisrunden Krater, seine trockenen Meere.

In seiner kleinen Wohnung legte er eine neue Platte auf. Einen Walzer. Er holte die Fotografie der Nackten aus der Schublade und besah sich das Bild. Komm … fang mich doch …

Wie es Elisabeth wohl jetzt ging? Ob sie an ihn dachte? Ob sie ihn vermisste? Irgendwie war es für ihn verwunderlich, dass er hier heroben bislang kaum an sie gedacht, sie noch nicht wirklich vermisst hatte. Natürlich fehlte ihm menschliche Gesellschaft, fehlten Gesichter und Gespräche, Stimmen und Stimmungen. Aber der Gedanke an seine Verlobte hatte ihn bislang nicht gequält. Vielleicht war er zu sehr mit sich und der neuen Situation beschäftigt. Nicht ein einziges Mal hatte er onaniert, seit er hier oben hauste. Das wurde ihm jetzt bewusst.

Vielleicht heute, dachte er. Und er lenkte seine Wahrnehmung auf die Zeichen, die sein Unterleib dazu gab. Ein leichtes angenehmes Ziehen in den Hoden, eine kleine, fast minimale Erregung, das Anwachsen seines Gliedes um ein paar Prozent. Aber nicht mehr. Nicht dieses ihm durchaus vertraute, geradezu nassforsche Durchstrecken des Penis in wenigen Sekunden. Nicht dieses Verlangen, das ihm noch nie eine Frau erfüllt hatte, sondern immer nur er sich selbst.

Er schaute sich die Postkarte mit der nackten Frau an. Viel Nacktheit war ja nicht zu sehen. Das meiste war hinter Palmblättern verborgen. Seine Phantasie wurde auch weit mehr von ihrem Gesicht angeregt. Dunkles Haar, dunkle, südländisch anmutende Augen, der Mund ganz leicht geöffnet, ein Lächeln. Er hielt die Karte ganz nah an die Augen und versuchte, dieses Lächeln genau zu erforschen. Vielleicht war daraus etwas zu erfahren, etwas zu lernen. Frauen waren ihm eigentlich ein Rätsel.

Als er kurz nach neun in seinem etwas zu stark geheizten Quartier unter der Decke lag und sich mit beiden Händen massierte, da versuchte er, an Elisabeth zu denken. Aber das Lächeln der Postkartenschönheit drängte sich wieder und wieder in den Vordergrund. Und als er den feuchten Höhepunkt erreichte, so tat er das unweigerlich in dem Gefühl, in ihr, dieser unbekannten und frivolen Nackten, versunken zu sein.

Das Gefühl von Befriedigung und Erlösung hielt nur kurz an. Es wich schnell der Unbehaglichkeit. Denn im Grunde schämte er sich, seiner Verlobten untreu geworden zu sein.

In dieser Nacht sah er im Traum Elisabeth weinend vor sich knien, während die Nackte hinter ihr vorbeitanzte und sich dabei die Brüste rieb.

»Bitte«, wimmerte seine Verlobte. »Bitte, hilf mir doch. Lass mich bitte nicht …«

Er hörte das so real, als ob sie wirklich da wäre.

Mit einem Schlag war er wach. Das konnte doch nicht sein. Elisabeth war nicht da. Sie konnte gar nicht da sein. Er war allein auf seinem Berg. Außer ihm konnte niemand da sein.

Er setzte sich im Bett auf, schüttelte das Kissen und drehte es um, damit er nun etwas kühler lag. Er rollte sich zusammen wie ein kleines Kind und zog sich die Decke über. Indem er an eine Bergwanderung im Frühsommer dachte – hinauf zum Schachenschloss –, und indem er sich dabei verschiedene Einzelheiten des Tages in Erinnerung zu rufen trachtete – die Naturschönheiten, die Stimmungen an diesem Tag, die Skurrilität des kleinen königlichen Domizils und dabei vor allem die vielfarbigen, orientalisch anmutenden Fenster im Obergeschoss – versuchte er, dem erotischen Traumkäfig zu entkommen und mit anderen Bildern besser einschlafen zu können.

Dann, als er nicht mehr unterscheiden konnte zwischen Wachsein und Schlafen, zwischen noch bewusstem Gedankenspiel und Traumgeränke, hörte er die Stimme von Elisabeth aufs Neue.

»Hilf … helft … bitte …«

Schwach, wimmernd, zagend, verzweifelt.

»Bitte … ist da irgendwo … hilft mir doch wer … bitte …«

Er schrak hoch, fast wütend darüber, von seinem Unbewussten wieder in eine düstere Gasse geführt worden zu sein. Aber auch jetzt, während er in seinem Bett saß und sich die Augen rieb, verschwand die Stimme nicht. Und, daran gab es keinen Zweifel, es war nicht die Stimme seiner Verlobten.

Kein Traumgespinst!

Was er hörte, kam aus der Realität. Kam von draußen. Von dort, wo niemand sein konnte. Aber jemand sein musste.

Straub sprang von seiner Matratze, stolperte in seine Hose hinein, riss eine dicke Jacke vom Kleiderhaken neben dem Treppenaufgang und wäre, weil er die Schuhbänder seiner Stiefel nicht geschnürt hatte, fast noch über die halbe Treppe hinuntergestürzt.

Als er die Tür aufriss, stiebte ihm Schnee ins Gesicht und in den Kragen. Aber in seiner Aufregung spürte er davon so wenig wie von der eisigen Kälte. Auf der kleinen Terrasse lag der Schnee kniehoch, und dass ihm binnen Sekunden die Füße kalt und nass waren, das immerhin spürte er. Doch es war ihm egal. Da draußen war jemand! Es musste jemand da sein! Er war sich ganz sicher, eine Stimme gehört zu haben, eine wirkliche, wahre Stimme. Kein Traum, keine Halluzination.

Er schwenkte eine Laterne nach allen Seiten. Aber ihr Licht reichte nur für ein paar Meter im Umkreis. Alles andere wurde von der schneewolkigen Nacht verschluckt.

»Hallo«, rief Straub. »Halloooo! Ist da jemand? Hallooohoo … ist jemand da?«

Dann schwieg er. Horchte nur noch. Glaubte, sein Herz schlagen zu hören. Hätte gern sein Atmen abgestellt, um noch besser zu hören.

Nichts.

Das konnte doch nicht sein!

Nichts.

Einer der Fensterläden klapperte leicht und nicht sehr laut.

Aber sonst – nichts.

Er schrie erneut, noch lauter und anhaltender als zuvor. Doch auch dieses Mal bekam er keine Antwort. Nicht einmal ein Wimmern.

Aber Straub gab nicht auf. Er stapfte am Münchner Haus vorbei, um nordseitig Richtung Höllenthal einen Blick werfen zu können. Dass es ziemlich unsinnig war, wusste er selbst: Kein Mensch vermochte bei diesen Bedingungen den Anstieg auf dieser Seite zu schaffen. Aber er wollte ganz sicher gehen.

Nichts.

Als er wieder zurückkehrte zu seinem Turm, wieder und wieder in die undurchdringliche Nacht brüllend, machte er eine Entdeckung: Nur ein paar Schritte von seinem Turm entfernt, lag jemand im Schnee.

Straub stürzte der Länge nach hin, als er versuchte, diesen Menschen so schnell wie möglich zu erreichen. Aber er tat sich nichts, ja, nicht einmal die Laterne ging aus. Er rappelte sich hoch, machte die letzten paar Schritte und ließ sich neben der Gestalt auf die Knie fallen.

Es war ein Mensch, keine Frage. Lag mit dem Rücken nach oben im Schnee. Ausgestreckt, ein Bein ein Stück weit angewinkelt. Den Kopf zur Seite gedreht und von Straub abgewandt, sodass der nicht gleich erkennen konnte, ob es sich um einen jungen oder einen älteren Mann handelte.

Auch wenn er die Stimme vorhin für die Stimme einer Frau gehalten hatte, so gab es doch keinen Zweifel, dass nur ein Mann den Weg hier herauf und durch dieses Wetter geschafft haben konnte.

Straub schüttelte ihn an den Schultern. Beutelte ihm den Schnee vom Gewand. Befühlte seine Wange. Kalt. Sehr kalt. Schob ihm den nassen Kragen zur Seite und drückte ihm Zeige- und Mittelfinger auf die Halsschlagader. Da war noch Leben. Da pumpte Blut darin.

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