Auf dem hohen Berg

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»Aber was G’scheites ist das nicht«, sagte die Frau Schaffler. »Man hört nicht nur Gutes über den Mann, wenn Sie wissen, was ich meine.«

»Aber das macht doch nichts«, sagte Lidia mit einem breiten Lächeln. »Es geht ja gar nicht darum, das wirklich ernst zu nehmen. Aber es mag doch immerhin ein wenig unterhaltsam sein. Glauben Sie nicht, liebe Frau Schaffler?«

»Ich weiß net«, sagte die Hauswirtin. »Ich weiß net. Mir wär’s schad ums Geld. Er verlangt ja doch fünfzig Pfennig Eintritt dafür …«

»Aber Sie wissen doch: Wer sich nichts gönnt …«

Aus ihrer kleinen, in Brokatarbeit gefertigten Handtasche zog Lidia eine Postkarte. Vorne drauf war eine Abbildung der Villa Orient zu sehen. Auf der Rückseite pries ein Text die wahrhaft wundersamen Sehenswürdigkeiten und empfahl den Besuch dieses privaten Museums ganz nachdrücklich:

»Sehr reichhaltige Sammlung fremdländischer Gegenstände, Kostüme verschiedener Nationen, sehr wertvolle Waffensammlung. Seidenstickereien, Musikinstrumente. Geweihe, Holzschnitzereien. Perlmutteinlagen. Muschelarbeiten. Indische Götzen und Götzentempel. Großartige Käfer- und Schmetterlingssammlung. Mehrere hundert ausgestopfte und präparierte fremdländische Tiere. Reptilien in Spiritus. Völkergalerie (zwanzig verschiedene Menschenrassen in Wachs). Mumien. Lebende Leoparden, lebende Schlangen, lebende Affen. Jeder Besucher wird überrascht sein …«

Sie steckte die Karte wieder weg und sagte: »Ich schau mir das an.«

Und so schlenderte sie dann am Nachmittag unter rost- und gelbfarbenen Bäumen ins sogenannte Hasenthal und zur schon von weitem überaus ungewöhnlich wirkenden Villa Orient. Dabei wäre diese Anmutung mit orientalisch gar nicht so richtig beschrieben gewesen. Eine Skurrilität war es, ja, genau. Eine Mischung aus kindlicher Märchenwelt und exotischem Sammelsurium. Ein maurischer Turm, angelehnt an eine umgebaute Partenkircher Villa. Ein orientalischer Torbogen, so bunt bemalt wie Teile der Hausfassade. Palmen im Park, die dem hier doch oft rauen Klima zu trotzen schienen. Und all das inmitten einer voralpinen Umgebung, wo auf freiem Hang verstreut noble Anwesen thronten. Musste schon ein sonderbarer Kauz sein, der Mann, der das alles geschaffen hatte.

Lidia hatte durchaus ein Faible für die Sonderlinge und für die kleinen Absonderlichkeiten im Leben. Es mochte von ihrer Herkunft herrühren, dass sie dem nur geordneten, oft tristen und oft grauen Deutschsein nicht immer viel abgewinnen konnte. Sie mochte das Bunte lieber, jede verspielte Farbenpracht erinnerte sie auch an die Papageienvögel ihrer Kindheit, die den Patio ihres argentinischen Elternhauses in eine gitterlose Voliere verwandelt hatten.

Im Sächsischen, wo sie nun ihren Stammsitz hatte, gab es solche Sonderlinge zuhauf. Allen voran jener in Mode gekommene Schriftsteller Karl May, um den sich manch ein Skandal rankte. In Radebeul bei Dresden hatte er mit großen glänzenden Lettern den Schriftzug »Villa Shatterhand« an der Fassade seines Anwesens anbringen lassen. Angeblich soll er in seinem Arbeitszimmer wie ein amerikanischer Fallensteller herumlaufen, manchmal auch wie ein arabischer Nomade. Angeblich will er all die Abenteuer, die in seinen zahllosen Büchern niedergeschrieben sind, höchstpersönlich und genau so erlebt haben. Angeblich aber soll er ein Stubenhocker sein, vorbestraft zudem, aber ausgestattet mit einer überbordenden Phantasie und ganz gehörigem Fleiß.

Ein alles in allem harmloser Spinner, der mit seinen Kopfgeburten die Jugend – und nicht nur die – zu begeistern wusste. Sie selbst hatte drei oder vier seiner Werke gelesen oder zumindest angefangen: »Durch die Wüste« und »Der Schatz im Silbersee« – diese beiden hatten sie zu fesseln vermocht. Aber ein anderes, in dem es um die Kordilleren ging, war ihr dann doch mehr als abstrus erschienen und sie hatte es nach kaum hundert Seiten weggelegt.

Aber sei’s drum.

Sie entrichtete an der Villa Orient den Eintrittspreis von fünfzig Pfennig und schmunzelte über die protzige Werbetafel, die das nun Folgende als »Erste Sehenswürdigkeit Partenkirchens« anpries. Sie brauchte sich nur umzudrehen und zu den Bergen zu schauen: Da waren die ersten Sehenswürdigkeiten von Partenkirchen und von Garmisch. Majestätisch, gewaltig, fast dreitausend Meter hoch. Dagegen wäre diese Tier- und Monströsitätenschau gewiss nichts anderes als eine kleine Volksbelustigung irgendwo auf einem Rummelplatz …

Ganz so war es dann aber nicht. Der Park war mühevoll angelegt, und bestimmt herrschte hier in den heißen Monaten Juli und August eine üppige Blüte. Denn es gab hier Rankgewächse und Stauden, Büsche und Bäume aus aller Herren Länder. Und es war schon ein Wunder, dass die sich hier, in fast neunhundert Metern über dem Meer, überhaupt halten konnten, dass ihnen der Schnee, der in den Wintern überaus reichlich fiel, nichts anzuhaben vermochte.

Beeindruckt war sie von den Leoparden. Noch nie war sie diesen Tieren so nahe gekommen wie hier an dem Gehege, das allerdings dem Bedürfnis dieser Wildtiere nach Auslauf und nach Bewegung nicht entsprach. Eingepfercht war das Paar. Eingesperrt auf engem Raum. Eines der Tiere schlief, seitwärts hingestreckt. Das andere saß aufrecht und fixierte sie, die im Augenblick einzige Besucherin in der orientalischen Villa. Wunderbar war die Zeichnung des Fells. Rötlichgelb die Grundfärbung, tiefschwarz die unendlich vielen Flecken, die darin verstreut waren. Die Augen, mit denen der Leopard sie ansah, schienen zu leuchten. Sie erinnerte sich an ein Buch, das alle Tiere des Erdkreises behandelte, und worin so oder ähnlich geschrieben stand: »Der Leopard mordet alle Geschöpfe, welche er bewältigen kann, ob groß oder klein, ob sie in der Lage sind, sich zu wehren oder ob sie ihm widerstandslos zum Opfer werden …«

Es hatte etwas Beunruhigendes, von diesem Raubtier durchdrungen zu werden, als wäre sie ein Opfertier. Und doch war es vor allem Mitgefühl, das Lidia für diese eingesperrten Wesen aufbrachte. Sie wandte sich ab und ging davon und versuchte, diese Begegnung rasch zu vergessen.

Sie ging durch die Ausstellungsräume im Haus, fand aber weder an den mit Nadeln aufgespießten Schmetterlingen noch an den präparierten Säugetieren Gefallen. Der Leopard hatte sie erschüttert. Sein Schicksal hinter diesen Gittern, die er wohl kaum lebend hinter sich lassen würde. Eingesperrt bis ans Ende seiner trübseligen Tage.

Als sie schon im Begriff war, die Villa Orient wieder zu verlassen, entdeckte sie im Park etwas, das sie doch noch auf andere Gedanken bringen konnte. Auf ganz andere Gedanken! Auf Gedanken, die schließlich ihr weiteres Leben verändern würden. Wie das manchmal eben so geht, dass einem das Schicksal von einer Sekunde auf die andere auf völlig neue Wege schickt. Wege ohne Wiederkehr.

Unter einem Baldachin stand auf einem dreibeinigen Stativ ein Fernrohr von mindestens einem Meter Länge. Es zeigte in ungefährer Richtung zu den Dreitorspitzen, gewaltigen Felszacken, die sich im Süden über den bewaldeten Vorbergen erhoben. In die Ferne sehen, das Ferne sich ganz nah heranholen, die Distanzen aufheben, hier sein und dort und alles zugleich.

Lidia trat an das Fernrohr heran. Sie steckte sich die schwarzen Haare hinters Ohr, drückte ein Auge zu und das andere nah an das Okular.

Die Optik war wie auf ihre Augenstärke eingestellt. Sie musste das Rohr nur ein wenig nach oben und ein wenig nach rechts schwenken, schon hatte sie die gefurchten Felsen der Dreitorspitzen ganz nah vor Augen, sah den Schnee, der sich in den nordseitigen Rinnen bereits festgesetzt hatte, sah den Himmel darüber.

Sie schwenkte weiter nach rechts, erfasste die Alpspitz-Pyramide, deren letzter Gipfelaufschwung von steilen Felsbändern gebildet wurde; auch hier hatte sich schon erster Schnee abgelagert, dazwischen aber war noch reichlich nackter und bedrohlicher Fels zu sehen. Sie machte sich einen Spaß daraus, den Grat von der Alpspitze über die Höllenthalspitzen und hinüber zur Zugspitze gleichsam mit dem Fernrohr entlang zu klettern. Sie schwenkte ein wenig nach unten, suchte den Höllenthalferner, von dem sie schon so manches gehört hatte, und tastete sich dann nach oben, nach oben und immer weiter nach oben, bis Fels und Schnee aufhörten, bis der höchste Gipfel erreicht war.

Die Zugspitze, dachte sie. Eindrucksvoll, wirklich eindrucksvoll.

Und weiter dachte sie: Da oben möchte ich jetzt sein. Einen Tag und eine Nacht auf dem Berg verbringen, so wie der Wetterwart in seiner Station. Es muss einfach köstlich sein, in völliger Einsamkeit und völliger Stille die Sonne unter- und wieder aufgehen zu sehen. Was gäbe ich dafür.

Sie ruckte am Fernrohr, drehte an den Ringen aus Messing, hoffend, sich den Gipfel noch näher heranzuziehen, vielleicht sogar die Wetterstation ins Bild zu bekommen.

Aber sie war nicht zu sehen. Nicht von diesem Standort aus. Die Station und die gleich daneben errichtete Bergsteigerunterkunft, Münchner Haus genannt, waren von Felszacken verdeckt.

Aber da war das Gipfelkreuz, nicht mehr von der Sonne beschienen, aber doch metallisch glänzend. Es auch nur zu sehen, vermittelte schon ein erhabenes Gefühl.

Nach allem, was sie bis jetzt so gehört hatte, bei dem Bergführer beispielsweise, mit dem sie früher unterwegs waren oder auch bei den Bergsteigern, die nach vollbrachter Tour am Bahnhof ihren Zug erwarteten, konnte der Aufstieg durch das Reinthal nicht allzu schwierig sein. Lang soll er sein, dachte sie. Ein ganz, ganz weiter Weg. Aber nicht sehr schwer.

Nach einem letzten Blick zum Gipfel der Zugspitze ließ sie vom Fernrohr ab und machte sich, nachdenklich und unternehmungsfroh zugleich, auf den Rückweg zu ihrem Quartier.

Es müsste doch möglich sein, da hinaufzugehen, dachte sie. Ohne Führer. Auch für eine Frau.

 

Und während sie es dachte, war ihr Entschluss tief drinnen in ihrem Herzen schon gefallen. Nur, dass sie es sich selbst noch nicht eingestand.

Kapitel 3

Es war ein eigenartiges Gefühl zu sehen, wie die Männer mit ihren Maultieren bereits einige hundert Meter tiefer über den Schneeferner marschierten, und zu wissen, von nun an viele Monate ganz allein zu sein.

Die Männer wirkten von hier oben wie Gletscherflöhe und die Maultiere wie schwarze Ameisen, die den Flöhen den Garaus machen würden.

Doch manchmal hörte er einen Juchzer oder einen Jodler, der zweifelsfrei ihm galt. Ein Abschiedsgruß der Träger, die froh waren, nicht heroben bleiben zu müssen.

Straub sah ihnen nach, bis sie aus seinem Blickfeld verschwunden waren.

Dann war er allein.

Sie waren vorgestern am späten Nachmittag angekommen. Hatten an der Scharte die Maultiere in den Unterstand gestellt und mit den Kraxen all das hinauf getragen, was in diesem ersten Anlauf zu schaffen war. Die ganze Mannschaft war im Münchner Haus untergebracht, der kleinen, hingeduckten Berghütte, zu der er den Schlüssel bekommen hatte. Er war mit den Männern im Münchner Haus geblieben, hatte darauf verzichtet, sein eigenes Domizil schon zu beziehen. Noch wohnte ja auch sein Vorgänger darin. Und er würde ohnehin noch genug Zeit haben, sich häuslich einzurichten.

Gestern dann waren sie alle zum Depot abgestiegen, hatten die Kraxen vollgeladen, waren wieder hinauf, und indem sie diesen mühevollen Vorgang dreimal wiederholten, hatten sie schließlich alles nach oben geschafft. Die Schultern schmerzten ihn jetzt fürchterlich, und die Schenkel brannten von der Anstrengung des Steigens mit den schweren Lasten. Auch er als Wetterwart hatte gehörig mithelfen müssen, damit alles bis zum Abend zum Gipfel geschleppt war!

Eigentlich hätten sie dann todmüde auf ihre Strohlager fallen müssen. Aber die Träger und der Führer hatten nicht darauf verzichten wollen, auf sein Wohl die Schnapsflasche kreisen zu lassen. Es wurde getrunken und gesungen und an zotigen Sprüchen, seine weiblose Einsamkeit betreffend, herrschte kein Mangel.

Am Morgen waren sie dann ganz anders gewesen. Die raubeinigen Männer waren still und der Abschied war ernst, freundlich und ohne ­Witzeleien vonstatten gegangen. Er spürte aus ihren Blicken, ihren Händedrucken, ihren Schulterklopfen ein gewisses Unbehagen, ihn allein hier zurücklassen zu müssen. Da schien sich bei ihnen etwas dagegen zu sträuben, es war, als haderten sie mit dem Auftrag, ohne ihn wieder ins Tal abzusteigen.

»Pfüatdi«, sagte der Bergführer und drückte ihm mit beiden Händen seine Rechte. »Pass auf dich auf da heroben. Lass es dir gut gehen. Im Juni holen wir dich wieder ab.«

Und sein Vorgänger, der Wetterwart, der es nur ein paar Monate auf dem Berg ausgehalten hatte, ehe er wegen unablässiger Kopfschmerzen diesen Dienst quittieren musste, wünschte ihm noch alles Gute und viel Glück. Der Mann hatte Tränen in den Augen gehabt, ob aus Scham, weil er nicht durchgehalten hatte oder aus Freude, weil es zu Ende war – wer hätte es sagen können.

Dann hatten sie sich an den Abstieg gemacht. Das felsige Gelände hinab bis zum Depot und den Mulis. Und nun stapften sie über den spaltenfreien Gletscher Richtung Knorrhütte. Sie wollten heimkommen, ohne noch einmal übernachten zu müssen.

Am Himmel standen Föhnfischlein. Der warme Südwind hatte das Firmament frei gefegt, nur mehr diese in Fischform ziehenden Wolken zierten das strahlende Blau. Die Sicht war klar und unendlich weit. Straub hätte nicht sagen können, welche Gebirgsgruppen er sehen konnte. Von weit im Westen bis weit im Osten reihte sich Bergkette hinter Bergkette. Selbst die höchsten und markantesten Berge wusste er nicht zweifelsfrei zu bestimmen. Aber das hatte ja noch Zeit. Sein Vorgänger hatte ihn in die Technik der Wetterstation eingeführt, in seine Aufgaben und auch in alles, womit er sich beschäftigen könnte in der nächsten Zeit. Da gab es Himmelskarten und Gebirgskarten, Faltpanoramen und auch einige fotografische Ansichten.

Ein Laie hätte von bestem Wetter gesprochen bei diesen Bedingungen. Womit er ja gar nicht so Unrecht haben würde. Allerdings wusste Straub nur zu gut, dass Föhn immer auch von einem gehörigen Wettersturz kündete. Und der könnte um diese Jahreszeit endgültig den Winter mit sich bringen.

Ein bisschen Zeit lassen könnte er mir schon noch, dachte Straub. Ich werd mir die Station noch lange genug freischaufeln müssen.

Er machte sich daran, sein neues Zuhause nun richtig zu inspizieren und sich einzurichten. Er trug seine Sachen aus dem Münchner Haus herüber in die Station. Denn die Berghütte ging ihn ja eigentlich nichts an: Er hatte den Schlüssel, um die Träger unterzubringen und für den Fall, dass irgendwelche verrückten Bergsteiger im Winter heraufkämen – was eigentlich menschenunmöglich war – und er sie notdürftig beherbergen musste. Außerdem war er gehalten, in der Hütte von Zeit zu Zeit nach dem Rechten zu sehen: ob es keine Frost- oder Wasserschäden gäbe und was halt sonst so von Belang sein könnte.

Sein kleines Reich maß nur etwa vier mal vier Meter. Beim ersten Betreten gleich bei der Ankunft war er mehr als erschrocken. Das war ja kaum größer als ein Zelt!

Aber der Wetterwart, der abzulösen war, hatte auf die Vorzüge dieser Kleinräumigkeit hingewiesen. Dass alles so leicht überschaubar sei, zudem gewiss auch im strengen Winter ohne viel Aufwand zu beheizen. Und da man ja ganz allein hier war, konnte einem auf engem Raum auch niemand anderer auf die Nerven gehen.

Dass sein Domizil keine Luxusvilla sein würde, das hatte er schon vorher gewusst. Auch waren ihm Ansichten und Planzeichnungen der Station vorgelegt worden. Er war also vorgewarnt. Doch zwischen einer vagen Vorstellung und dem erwachenden Erkennen der Wirklichkeit ist nun mal ein enormer Unterschied.

Wie, hatte er sich sofort gefragt, wie soll ich da alles unterbringen?

Aber der erste Endruck hatte zum Glück getäuscht. Die Station, offiziell geführt als »Königlich Bayerische Meteorologische Hochstation Zugspitze«, war ein neun Meter hoher Turm, eingeklemmt zwischen dem Münchner Haus und einem Felszacken des Gipfels. Ein massiver Eisenanker hielt die drei Etagen im felsigen Grund, dazu war der Turm mit übergelegten Stahlseilen gleichsam verzurrt, um den Stürmen, die in dieser Höhe bisweilen fürchterlich wüteten, standhalten zu können.

Die untere Etage mit ihren meterdicken Bruchsteinmauern, war als Lager- und Vorratsraum gedacht. Hier waren Holz und Briketts gestapelt, außerdem Konserven und andere lang haltbare Lebensmittel wie geräucherter Schinken, Hartwurst – und Zitronen! Der Saft dieser Zitronen sollte dafür sorgen, dass der Wetterwart nicht an Vitaminmangel erkranken würde.

Darüber lag seine Behausung.

Klein, aber irgendwie auch heimelig. Auf gerade einmal sechzehn Quadratmetern musste Platz genug sein für Küche, Schlaf- und Wohnraum in einem. Ein richtiges Junggesellenstübchen. Dazu das höchste im gesamten Land – und noch ein kleines Stück darüber hinaus. Als 1901 ein gewisser Josef Enzensperger als erster Wetterwart auf der neu errichteten Station Dienst getan hatte, war er in den »Münchner Neuesten Nachrichten« als der »höchste Einwohner des Deutschen Reiches« bezeichnet worden.

Anselm Straub musste lächeln bei dem Gedanken, nun selbst der höchste Einwohner des Deutschen Reiches zu sein. Ein enormer Aufstieg, dachte er. Und er horchte auf sein lautes Lachen, das er ausprobierte, um zu hören, wie seine Stimme im Alleinsein klingen würde.

Als Erstes suchte er einen guten Platz für die Voliere. Er wollte sie von der Decke seines Gemachs hängen, irgendwo, wo sie nicht im Wege umgehen würde und wo zugleich genug Licht durch eines der kleinen Fenster den Käfig erhellen könnte. Die Vögelchen, so dachte er, mögen wie wir Menschen die Tagesläufe. Mögen es, mit der Dunkelheit müde zu werden und mit dem Morgen den Tag zu begrüßen. Und vor allem mögen sie die Sonne, die Wärme und das Wohlgefühl, das damit einhergeht.

Dass dieses von der Sonne erzeugte Wohlgefühl spärlich bemessen sein würde, war ihm schon klar. Für die Zugspitze war zuletzt ein Jahresmittel von minus sieben Grad festgestellt worden! Für den bevorstehenden Winter verhieß dies nicht gerade milde Zeiten. Allerdings, und das wusste er von seinen Vorgängern auf der Station, konnten die Tage ab März selbst hier, auf fast dreitausend Metern Höhe, Sonnenbäder an windgeschützten Stellen durchaus möglich machen.

Er fand einen umgebogenen Nagel in der Decke aus massiven Holzbalken. Er bog ihn weiter zu einem Haken und befestigte daran den Vogelkäfig, und er fühlte sich gut dabei, nun erste Schritte in dieses neue, auf ein dreiviertel Jahr befristete Leben zu tun.

Ich nenne sie Max und Moritz, dachte er. »Du bist Max …« Er blies dem Vogel durchs Gitter ins Gefieder. »Und du …« Er schnalzte mit der Zunge, »… du bist Moritz. Merkt euch das.«

Im Herd, der zugleich Ofen für den Wohnraum war, knisterte das Holz. »Am besten, Sie lassen ihn von nun an nicht mehr ausgehen, bis Ablösung kommt«, hatte ihm sein Vorgänger empfohlen. »Er verbraucht nicht viel, aber er heizt gut. Immer bei kleiner Flamme halten, dann werden Sie keine Probleme haben.«

Aus dem Fass neben seinem Turm holte er einen Topf voll Regenwasser und stellte ihn auf den Herd. Eine Kanne heißen Tees könnte ja nicht schaden, während er sich genauer umsah und sich nach und nach heimisch machte, so gut es ging.

Nur zwei Schritte vom Herd entfernt stand ein kleiner Tisch samt an die Wand gelehnter Bank und einem Stuhl – da hätten drei Leute Platz gehabt, aber es war nicht anzunehmen, dass er Besuch bekäme, zumindest nicht, bevor der Winter zu Ende wäre. An diesem Tisch also würde er von nun an seine Mahlzeiten zu sich nehmen, seinen Tee trinken, lesen, vielleicht seine persönlichen Aufzeichnungen niederschreiben. Dieser Tisch wäre der Mittelpunkt seines Lebens in dieser kleinen Stube. An der Wand über dem Tisch war ein Bord befestigt – man musste direkt Obacht geben, sich beim Hinsetzen oder Aufstehen den Kopf nicht anzustoßen –, und auf diesem Bord fanden sich, in einiger Schräglage und Unordnung, Bücher und zerlesene Schriften. Darüber würde er sich vielleicht am Abend ein besseres Bild machen, und wenn nicht an diesem Abend, dann am nächsten oder übernächsten.

Zunächst bedurfte es eines guten Platzes für sein kleines Grammophon und die Schelllackplatten. Hatte er das Geschenk fast nicht annehmen wollen, gar geglaubt, etwas Derartiges nicht zu benötigen, war ihm jetzt bewusst, dass die Musik ihm zum Freund werden würde.

Eine winzige Kommode gleich neben der Bank erschien ihm als der beste Platz. So konnte er das Grammophon bedienen, wenn er am Tisch saß, brauchte sich gar nicht zu erheben, um ein neues Musikstück aufzulegen.

Vorsichtig, geradezu liebevoll klappte er den Deckel des Gerätes auf, drehte den kleinen Trichter zum Raum hin und setzte die Kurbel ein. Aber er verkniff es sich, jetzt, am Vormittag, eine Platte aufzulegen und den Mechanismus in Gang zu setzen. Er klemmte die Platten, die in weißen, papiernen Hüllen steckten, hinter die Musikmaschine, besah sich dabei jede Einzelne und freute sich ganz besonders darauf, den italienischen Tenor Caruso mit der Arie »Celeste Aida« zu hören. Später.

Den Tee, stark und mit wenig Zucker, trank er draußen, vor seinem Turm. Ein paar Dohlen waren oben auf dem Geländer der Aussichtsplattform und in den nahen Felsen gehockt und flogen nun heran und hüpften um ihn herum, darauf spekulierend, vom neuen Wetterwart ein paar Bröckchen zugeworfen zu bekommen. Aber der aß ja nichts, der trank ja nur Tee. Und freute sich über die Mitbewohner seines Gipfels.

Dohlen waren ihm von jeher sehr lieb gewesen. Auf seinen Ausflügen ins Gebirge hatte er immer wieder bestaunen können, welche Meister der Flugkunst sie waren. Mag schon sein, hatte er gedacht, dass man den Adler den König der Lüfte nennt. Majestätisch und gefährlich. Aber die Dohlen mit ihrem pechschwarzen Gefieder, mit ihren gelben Schnäbeln und karottenroten Beinchen, sie waren für ihn die wahren Beherrscher der Luft und der Thermik. Und sie zeigten das ja auch fast unablässig in ihrem übermütig erscheinenden Spiel. Sie waren Könige und Clowns in einem. Und Anselm Straub beschloss, ihnen fortan immer ein paar Krümel zu geben. Lange würden sie ja ohnehin nicht mehr auf dieser Höhe ausharren. Den Hochwinter verbringen Dohlen in abgelegenen Talregionen. Sie würden erst wieder zurückkehren, wenn die Sonne im späten Frühling am Gipfel mildere Temperaturen mit sich brächte.

 

Umso dankbarer konnte er sein für die Tage, an denen sie ihm noch Gesellschaft leisten würden.

Er sah sich die possierlichen Vögel genauer an. Sie hüpften so nahe heran, dass er ihnen in die kugeligen schwarzen Knopfaugen sehen konnte. Und sie hielten dabei doch Abstand genug, dass sie vor ihm sicher waren.

An dem Morgen, dachte er, an dem sie nicht mehr da sind, wenn ich vor das Haus trete, wird der Winter anfangen.

Er verbrachte den größten Teil des Tages damit, in gewisser Unorganisiertheit sein Leben auf dem hohen Berg allmählich zu organisieren. Packte Dinge aus den Taschen und Kisten, die noch nach Maultierfell rochen. Inspizierte nach und nach den ganzen Turm – über seinem Wohnraum war da noch das Arbeitszimmer mit Messgeräten, Folianten, Karten, wissenschaftlichen Tagebüchern, und von diesem Arbeitsraum führte eine steile Stiege zu einer Luke, die den Aufgang zur Aussichtsplattform vermittelte. Dort oben zu stehen bedeutete, noch einen Meter höher zu sein als die höchsten Felsen des Gipfels. Im Umkreis von vielen Kilometern war nichts und niemand höher als diese Plattform, auf der Straub jetzt stand, auf der er von nun an fast täglich stehen würde.

Mittels der Gebirgskarte verschaffte er sich einen besseren Überblick. In ihr waren die Entfernungen zwischen seiner Warte und den verschiedenen markanten Gipfeln der Ostschweiz, der vergletscherten Zentralalpen, der Dolomiten und der Hohen Tauern genauso verzeichnet wie die Distanzen zu den oberbayerischen Seen und zu den dunklen Säumen von Schwarzwald und Bayerischem Wald.

Freilich, viele der verzeichneten Berge kannte er dem Namen nach und manche auch von ihrer Gestalt. Doch mindestens ebenso viele waren ihm noch fremd, und er würde erst lernen müssen, sie in der Natur zu entdecken. Denn anhand ihrer Entfernungen waren zweimal täglich auch die Sichtweiten von der Zugspitze aus durchzugeben. Reichte der Blick also beispielsweise bis zum Hochvogel im Allgäu, dann konnte von einer Sichtweite von etwa 52 Kilometern gesprochen werden, sah er den Säntis, der sich über dem jungen Rhein erhob, dann waren es sage und schreibe 120 Kilometer.

Sein Vorgänger als Wetterwart hatte ihm am Vortage alles Wesentliche gezeigt, war mit ihm die verschiedenen Anforderungen durchgegangen, hatte ihn eingewiesen in die Praxis dessen, was er von der Theorie her natürlich schon bestens kannte. Doch jetzt war er auf sich gestellt, und das war doch ganz etwas anderes.

Im Arbeitszimmer hing gerahmt zwischen Karten eine Seite aus den »Münchner Neueste Nachrichten« an der Wand. Das leicht angegilbte Blatt stammte vom Februar 1901, war »Sieben Monate auf der Zugspitze« überschrieben und verfasst vom ersten Zugspitz-Wetterwart Enzensperger, der seinen Aufenthalt hier heroben um nur zwei Jahre überlebt hatte. 1903 war er, ein abenteuerfreudiger Alpinist und Reisender, bei einer Forschungsexpedition in der Antarktis gestorben. Er nahm sich vor, diesen Bericht bald zu lesen, aber nicht jetzt, nicht in den Stunden des Nachmittags, an dem er erstmals ganz alleine die Wetterdaten zu ermitteln und durchzugeben hatte. Unruhig trat er immer wieder vor die Tür, um zu sehen, ob sich die Bewölkung in Farbe und Dichte veränderte, ob die Sichtverhältnisse besser wurden oder sich verschlechterten, er prüfte die Luftfeuchtigkeit, den Luftdruck, die Windrichtung. Und immer hielt er dabei auch Ausschau nach den Dohlen, ob sie noch da waren.

Im unteren Geschoss schlichtete er das neu heraufgebrachte Holz zu den anderen Scheiten, er räumte die Briketts auf und kehrte zusammen. Mit der scharfen Axt spaltete er dünnes Anschürholz für den Kanonenofen im Arbeitszimmer. Danach sichtete er die mitgebrachten und die schon länger gelagerten Konserven. Da waren Sülzen dabei und Gulasch, Kraut und Kürbis, gepökeltes Fleisch und gedünstete Karotten. Auf ein Gulasch hätte er Lust verspürt; Kartoffeln gab es ja auch. Aber, so dachte er sich, lieber jetzt ein wenig gegeizt mit den gut eingemachten Sachen und sie aufheben für die kalte Zeit. Von der Decke hingen zwei Schweineschultern, schwarz geräuchert, für die Mäuse unerreichbar. Ja, es gibt Mäuse, hatte der vorherige Wetterwart gemahnt, es gibt sie auch da heroben und sie fressen alles, was ihnen unterkommt. Also, Obacht!

Er entschied sich dafür, abends ein Stück vom Geräucherten zu essen, einen Ranken Brot dazu und vielleicht ein oder zwei Seidel Bier. Auch mit dem Biervorrat würde er haushalten müssen, das war ihm schon klar. Aber dem Bier maß er, anders als der Großteil der männlichen bayerischen Einwohnerschaft, keine ans Lebenswichtige grenzende Eigenschaft bei. Bisweilen schmeckte ihm eine Halbe, zur Starkbierzeit auch ein Bock und auf der Festwiese eine süffige Mass, aber dann vergingen wieder Wochen, ohne dass es ihn nach Hopfen und Malz gelüstete. Und wenn kein Bier mehr da wäre, so würde er nicht groß daran leiden. Verdursten würde er sicher nicht: Das Wasser, das er brauchte, kam als Schnee vom Himmel. Und der Schnee würde meterhoch fallen …

Um vier Uhr am Nachmittag, eine Stunde vor dem Zeitpunkt, da er seine Messdaten ganz offiziell durchzugeben hatte, telefonierte er nach München. Er wollte ganz sicher gehen, dass Verbindung bestand.

Der Kollege im Institut – es war Gstatter, der Dienst tat, und den Straub recht gut kannte – wollte nur zu gerne wissen, wie es ihm da oben so erginge und ob er sich schon eingelebt habe und wie das wohl auszuhalten wäre, so ganz ohne, er wäre doch schließlich verlobt.

»Es ist alles noch fremd für mich«, sagte Straub. »Ungewohnt, wenn du verstehst, was ich meine. Ich weiß noch nicht so recht, ob ich besorgt sein soll wegen des einsamen Winters oder ob ich mich freuen soll darauf. Seit ich heraufgekommen bin, weiß ich jedenfalls ganz sicher, dass es für mich ein ganz besonderes Erlebnis wird, eine besondere Erfahrung. Ob eher positiv oder eher negativ – das muss man erst sehen.«

Gstatter räumte ein, dass er für eine oder zwei Wochen selbst auch gern Dienst tun würde auf dem Berg. »Aber so lange wie du … also das würde ich nicht aushalten.«

»Ich hab den Trost«, sagte Straub, »dass ich jeden Tag zweimal mit einem von euch telefonieren kann. Und wenn ihr dann so gut seid, mir auch zu erzählen, was sonst so los ist auf der Welt, dann werde ich das schon schaffen.«

In den folgenden Stunden befasste er sich eingehend mit den Messungen, führte jede mindestens zweimal durch, um die Fehlerquote so gering wie möglich zu halten, er bestimmte von seiner Plattform aus die Sichtweiten in der bereits aufkommenden Dämmerung, er schrieb alles in die dafür vorgesehene große Kladde und gab schließlich Daten und Fakten telefonisch an Gstatter durch. Diesmal war ihr Gespräch ganz sachlich, emotionslos.

Sie wünschten sich einen guten Abend, Gstatter fügte an »… und eine gute Nacht« und er vergaß nicht zu erwähnen, dass nächstentags Lohmeyer da sein würde, um die Zugspitz-Ergebnisse aufzunehmen und weiter zu melden, sodass in den Zeitungen im gesamten Land das Wetter zumindest vage vorhergesagt werden konnte.

Straub setzte sich an den kleinen Tisch, aß vom Geräucherten, trank ein paar Schlucke Bier und packte danach, als er sich die Hände mit dem warmen Wasser aus dem Ofengrandel gereinigt hatte, ein kleines Wachstuchpäckchen aus, das ihm die Kollegen vom Institut zum Abschied geschenkt hatten. »Aber ja nicht aufmachen, bevor du am Gipfel bist! Versprochen?«

»Versprochen.«

Das Päckchen enthielt eine kleine Sammlung sogenannter künstlerischer Aktfotografien.