Die Pastorin und der Punk

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Der erste Brief

19.03.2004 Freitag

20.22 Uhr

Ich sitze zu Hause vor dem Computer. Hinter mir flimmert Wer wird Millionär? über die kulturelle Mattscheibe, was mich aber nicht juckt. Normalerweise rate ich bei solchen Quizshows gerne mit, um zu schauen, wie weit ich da so mit meinem Halbwissen mithalten kann. Scheitere oft bei Fragen um Jahreszahlen und klassische Literatur. Doch jetzt möchte ich der neuen Pastorin eine Mail schreiben. Die terrestrische Mailadresse habe ich aus der Kirchenzeitung. Ich warte auf eine Eingebung. Das Thema Sex kann ich keinesfalls als Einstieg für ein Kennenlernen benutzen. So was wird schnell missverstanden.

Ich entscheide mich für die Thematik des Blutspendens, was religiöse Menschen teilweise ablehnen, wie die Zeugen Jehovas. Die keusche christliche Jungfrau und der dämonisch rebellische Sohn eines heidnischen ostpreußischen Bauern treffen nun aufeinander. Aus dem Stoff macht man göttliche Bestseller. Shakespeare hätte das zum Beispiel geschafft, würde er heute noch unter uns verweilen. Wie wir alle wissen ist Shakespeare keine geschüttelte Hopfenschale, sondern war ein Brite, der unter anderem Romeo und Julia schrieb. Zu Romeo und Julia fällt mir immer dieser Song von Dire Straits ein – kennt ihr den? Die tragische Lovestory spielt in Verona. Zu Verona fällt mir immer die Feldbusch zu ein. Mit Feldbusch meine ich die Ex-Frau von Dieter Bohlen. Dessen Sprüche wiederum sind bei Männern recht beliebt. Zu Verona Feldbusch fällt mir immer der Spruch ein: Die Dummheit der Frauen ist beständiger als ihre Gier nach Schuhen. Hamlet halte ich für eine Art Omelett, also irgend so ein dänisches Gericht aus Schinken und Eiern, von einem Mohr zubereitet. Dessen Geschlechtsteil nennt man übrigens Mohrrübe.

So fertig, die erste Mail ist geschrieben. Bin mal gespannt, ob ich eine Antwort erhalte. Muss den Text auf Diskett speichern, weil ich daheim nicht ans Internetz angeschlossen bin. Werde ich ihn morgen vom Internet-Café aus durchs Datennetz katapultieren. Der Besitzer vom Café ist ein Türke, der zudem alle vier Wochen auf dem Trödelmarkt neuwertiges Handyzubehör verkauft. So wie billige Jeans, auf die er zehn Jahre Garantie gibt. Mein Telefon, was genau genommen ein Faxgerät ist, mit dem man auch einfache Rechenaufgaben lösen kann, läutet. Ein Handy besitze ich auch, aber das ist meistens ausgeschaltet. Wird bestimmt Meisen sein. Die heutige Welt ist verrückt. Und mein Freund Meisen trägt viel dazu bei, dass es so ist.

„Jo!?“

Meisen

„Ja, ich bin ’s! Fährst du jetzt morgen zur Fortuna?“

Mein Freund Meisen fragt mich das ziemlich nüchtern – das soll für die späte Uhrzeit schon was heißen. Fortuna bedeutet Fußball. Genau genommen bezieht sich das auf Fortuna Düsseldorf. Der Verein, der Mitte der 90er Jahre alle zwei Monate die These widerlegt hat, dass neue Trainer besser kehren würden. Als man dann begann, auch Präsidenten, Vorstandsmitglieder und komplette Mannschaftsteile auszutauschen, mit der späteren Erkenntnis, durch diese vorher wohl reiflich überlegten Entscheidungen sich plötzlich in der 4. Liga wieder zu finden, wo sich teilweise schon türkische Thekenmannschaften tummeln. Wie gesagt, Fortuna Düsseldorf ist bekannt dafür, dass sie den Trainer öfters feuerten, als Meisen sich bei Auswärtsspielen nüchtern befand. Diese Entlassungen passierten meistens dann, wenn kurz zuvor noch der Präsident bekannt gab, dass der Trainer die volle Rückendeckung des Präsidiums habe. Erinnern tue ich mich gerne mit einem Schmunzeln an die philosophischen Weisheiten des damaligen bosnischen Trainerfuches Aleksandar Ristic, der zur Erkenntnis kam: Wenn du keine Tore schießen, du können nicht gewinnen!

„Klar!“, sage ich, „hole dich, sagen wir mal um halb zwei, ab. Und denk an nächste Woche. Buchmesse – Leipzig! Aber mit dem Zug. Fahrkarten besorg ich Montag.“

„In Ordung! Was kostet das eigentlich an Eintritt?“

„Weiß nicht. Ich als Aussteller habe bereits ein Ticket. Aber lass mich das mal machen. Ich versuch mal einen Trick. Sonst nichts Neues?“

„Nö, nicht dass ich wüsste. Mach gerade eine ultimative Obstdiät. Und bei dir?“

Meisen sollte lieber mal mit dem Altbiertrinken etwas vorsichtiger sein.

„Alles wunderbar. Ich hab jetzt erste Kritiken bekommen. Unter anderem von so einem Typ vom Rundfunk, Abteilung Hörspiel, Dramaturgie und so“, erzähle ich.

Ich als kleiner Dilettant, habe frecherweise meine geschriebene Geschichte dem Rundfunk angeboten, als Hörspielvorschlag. No risk, no fun!

„Und? Was sagt der über deine Geschichte?“, fragt Meisen.

„Warte, der Zettel liegt unter dem Fußballmagazin. Aaah, pass auf, ich les mal vor. Also: Sehr geehrter Herr Hoffmann. Bla, bla, bla – jetzt kommt ’s. Ich kann mit ihren Texten rein gar nichts anfangen, finde sie auch in keiner Weise komisch. Ich fürchte, mit dieser Ansammlung von Peinlichkeiten wird kein halbwegs etablierter Verlag etwas anfangen können.“

„Ja immerhin. Der outet sich ja voll als Spaßbremse.“

„Ja, pass auf, der Hammer. Ich lass das Buch jetzt auch im Internet bei eBay versteigern und da bin ich mit einer per Mail in Kontakt gekommen, die das Buch ersteigert hat. Der Name ist schon gut, Susanna Sommer.“

„Hört sich frisch an. Und wo kommt die her?“ Meisen ist neugierig.

„Äh, in der Nähe von Frankfurt muss die wohnen.“

„Also eine hessische Henne?“

„Wahrscheinlich. Man weiß es nicht so genau. Dazu fällt mir ein. Als Kind mussten wir im Musikunterricht der Reihe nach jeder etwas vorsingen. Jede Woche kam ein anderer dran. Da ich überhaupt nicht singen kann, bin ich hingegangen und habe auf der Kindertröte meiner kleinen Schwester das Lied Oh Susanna einstudiert, was ich dann auch vorgetragen habe. So habe ich mich wieder erfolgreich vor dem Singen gedrückt und bekam sogar noch eine akzeptable Note. Du kennst doch das Lied: I come from Alabama with my banjo on my knee ...

„Sicher. Und was schreibt die Maus denn so.“

„Warte, muss schnell den Zettel suchen. Hab mir die Kritik mal ausgedruckt.“

Ich wühle rum, finde und lese vor.

„Die schreibt Folgendes: Hallo Steffi, habe dein Werk mit ständigem Grinsen im Gesicht gelesen. Du hast meinen verkorksten Tag gerettet, denn an diesem Tag hätte ich nicht mehr gelacht. Es tat mir nur furchtbar leid, als ich wieder umblätterte und das Büchlein – heul – doch schon fertig war. Ich hätte gerne weitergelesen. Beste Stelle, ich lach mich weg, waren deine 35 Zentimeter ab der linken Pobacke gemessen. Gröhl ... Ansonsten hoffe ich, dass du dich von ein Paar schlechten Kritiken nicht unterkriegen lässt. Schreib unbedingt weiter. Liebe Grüße, Susanna.“

„Wie 35 Zentimeter? Den Gag kenn ich ja gar nicht.“

„Ja, weißt du. Ich hab mich mal darüber lustig gemacht, dass Männer zuweilen mit ihrer Penislänge angeben. An einer Stelle der Geschichte meine ich dann nur so: Männer sprechen immer von ihren dreißig Zentimetern. Lächerlich. Ich habe bei mir mal nachgemessen. Stolze 35 Zentimeter kann ich vorweisen, zumindest wenn man den Nullpunkt vom Lineal an der linken Pobacke ansetzt.“

Meisen lacht diabolisch.

„Das könnte von mir sein“, sagt er dann. „Schmeiß dich doch mal ran an das eBay-Mäuschen“, schlägt Meisen vor.

„Du, die wollte mich wirklich schon näher kennenlernen. Aber lass mal stecken, das Ganze. Die Geliebte des Künstlers ist die Nacht.“

Dass ich mich in die Pastorin verguckt habe, brauche ich Meisen nun ja bestimmt nicht zu beichten ...

„Was hast du eigentlich letztes Wochenende getrieben? Man hat dich nirgends gesichtet.“

„Äh, nicht viel ...“

Na ja, stimmt zwar nicht ganz. Wochenende war ich zu Hause, habe einen Bestseller von John Grisham in die Hand genommen, Fußball geguckt, Leverkusen gegen Bayern, jedoch nicht das letzte Tor und den weisen Kommentar von dem Manager Reiner Calmund, böse Zungen sprechen von Kalorien Calli, und der könnte bestimmt gut ’ne Obstdiät vertragen – mitbekommen. Sonntag morgens Fernsehen eingeschaltet. Formel Eins auf Premiere! Geguckt, wie Michael Schumacher, für mich eine Art rheinische Reinkarnation des Ilja Richters, dem Discjockey aus der Sendung Disco (lief zeitlich in der Übergangsphase von Vinyl zur CD), so um die Kurven jagt. Klatsche immer, wenn die tollen Autos im Graben landen und in Flammen aufgehen. Ehrlich gesagt bin ich war nicht unbedingt ein großer Freund von Schumi, aber zumindest fährt er wie ich ein italienisches Auto. Aber meins hat ein Dach und es passen dort noch vier weitere Personen rein. Oder ein Calli, wenn man den Vordersitz ausbaut und die Rückbank umklappt. Ach ja, Ilja Richter war freiwillig unkomisch, Schumi ist unfreiwillig komisch. Am besten finde ich immer seine Antworten auf die Frage, was beim Start zu erwarten ist. Natürlich möchte doch jede Sportskanone nach dem Start die Nase vorn haben, wer fährt schon gerne hinterher? Nebenbei bemerkt, ich bin in den sechs Jahren, in denen ich meinen Wagen besitze, noch nie in das Vergnügen gekommen, den Abschleppdienst zu verständigen. Das soll bei einem italienischen Auto schon viel heißen ...

„Was ich dir noch sagen wollte. Weißt du, wen ich in der Stadt getroffen habe?“, fragt Meisen und gibt selbst die Antwort.

„Elvira Frankenstein!“

„Nee, nä. Und, hat sie was gesagt?“, will ich gespannt wissen.

„Nö, ich hab sie auch nicht angesprochen. Aber sie sah ganz gut aus im Minirock mit Beinen ohne Ende.“

Meisen meint immer, auf die Verpackung kommt es an.

 

„Elvira sah immer schon spitze aus. Und ihre Oberweite war nie zu verachten.“

„Ich dachte, die wäre von hier weggezogen und die würden wir nie mehr sehen. Aber glaub mir, man trifft sich immer zweimal und die Welt ist klein. Wie alt ist Elvira eigentlich? Du müsstest das doch exakt wissen. Du warst ja mal hinter der her.“

„Fast genau zwei Jahre jünger als ich. Ebenfalls Wassermann beziehungsweise Wassermannfrau – was auch sonst?“

„Ich würde mich an deiner Stelle mal ein wenig an Elvira ran machen, aber musst du wissen. Bis morgen dann – halb zwei.“

„Alles klar, Meisen. Ciao ...“

Meisen meint immer, man sollte im Leben alles mitnehmen, was man so angeboten bekommt. Ich leg auf. So, jetzt eine Runde pennen. Dann morgen früh einkaufen gehen, ins spätgotische Internet-Café und dann ab nach Uerdingen, zum Fußballspiel Düsseldorf gegen Kleve, welches aufgrund des großen Zuschauerinteresses in der Krefelder Grotenburg stattfindet. Es geht um den Aufstieg und drei Punkte sind Pflicht für meinen Verein. Mal gucken, wie die Fortuna diesmal so auswärts drauf ist. In den 90er Jahren habe ich immer mutig beim Buchmacher auf einen Auswärtssieg meiner Fortuna gesetzt, was dem Buchmacher dazu verhalf, sich in der Schweiz ein Chalet zu kaufen ...

Dumpfe rhythmische Schläge dringen plötzlich an mein Ohr. Scheiße, ich glaub, der Typ der unter mir wohnt, macht mal wieder eine Fete.

Unternehmen Fortuna

20.03.2004 Samstag

10.32 Uhr

Achmed vom Internet-Café reicht mir einen Kaffee, aber keinen türkischen, sondern einen tückischen. Gutes Aufputschmittel, sag ich nur. Ersetzt den Herzschrittmacher. Dafür bräuchte man eigentlich ein Rezept vom Onkel Doktor. Ich schicke den Text per Mail der Pastorin zu. Von draußen erkennt man an den vielen Rechtschreibefehler der Werbezettel, die an den Scheiben kleben, dass es sich hier bei dem Inhaber um einen Türken handeln muss.

12.43 Uhr

Bin im Supermarkt. Auf das Problem mit der fehlenden Münze für den Einkaufswagen, wo dann eine Laufrolle kaputt sein wird, möchte ich hier nicht eingehen. Mein Abenteuer ist beendet, nachdem ich lebend mit einer Einkaufstüte das Geschäft verlassen habe. Heute ist die Tüte voll mit Dosenbier. Die ist ziemlich schwer. Ostern steht ja bald vor der Tür, da muss man sich schon mit Proviant eindecken.

13.05 Uhr

Habe noch nichts im Magen, der anfängt zu knurren. Ich flitz schnell noch rüber zum Bäcker, leckere frische Brötchen kaufen. Kundin und Personal treiben amüsiert Konversation, indem sie scheinbar Urlaubsanekdoten zum Besten geben. Sie registrieren mich nicht. Ich höre erst einmal zu. Die Geschichten sind ziemlich schlecht. Bei den Worten der übergewichtigen Bäckereiverkäuferin komme ich ins Schmunzeln. Hier sitzt zwar nicht die Pointe, doch der sächsische Dialekt hört sich dafür um so lustiger an. Meine gespielte Gelassenheit lässt nach. Ich räuspere mich, um Aufmerksamkeit zu erlangen und fange leicht an zu scharren. Zu allem Pech stellt sich eine übernervöse Kundin zu mir, die zudem übel riecht. Das erinnert alles andere als an einen herrlichen Frühlingsduft. Dann gesellen sich noch weitere Kunden zu uns. Ich mache einen plakativen Schritt auf die Theke zu. Schluss jetzt mit dem Gequatsche. Was dann auch passiert. Man hat uns wartende Kunden ernst genommen. Im gleichen Augenblick reißt meine Tüte ein und die Büchsen purzeln auf den Boden.

13.24 Uhr

Keinen Bock eine neue Tüte zu kaufen, balanciere ich die Bierbüchsen teilweise recht ungeschickt mittels Armen und Händen zu mir auf die Bude. Dort kommen die Dosen in den Kühlschrank. Plastiktüten gehören in den Gelben Sack. Ich stecke mir die kaputte Tüte in die Jackentasche, um sie vor dem Haus in den dafür vorgesehenen Behälter zu werfen. Beim Verlassen des Hauses, mit einem Wurstbrötchen im Mund, sehe ich auf der anderen Seite der Straße die Pastorin. Was macht die denn hier? Die wohnt doch in Köln. Das habe ich im Internet doch schon raus gefunden. Soll ich sie eben ansprechen? Was soll ich ihr sagen? Wie steht sie als Kölnerin eigentlich zu Düsseldorf? Mag sie nur Kölsch oder trinkt sie auch Alt? Hat sie überhaupt schon meine Mail gelesen? Ich glaube weniger. Kann eigentlich nicht sein, die Mail habe ich erst vor knapp drei Stunden abgeschickt. Aber wer weiß? Das Ansprechen lasse ich erst mal bleiben. Ich gehe zu meinem Vehikel und mache mich auf den Weg. Meisen wartet. An einer roten Ampel fällt mir wieder ein, die eingerissene Tüte ist ja noch in der Jacke. Ich hole sie hervor und lege sie ins Handschuhfach.

13.33 Uhr

Ich sitz im Auto und warte auf Meisen, der kommt auch, aber fit scheint er nicht zu sein.

„Hi Meisen, siehst aber nicht gerade gesund aus?“

„Stimmt. Bin gestern Abend noch schwer versackt.“

„Am Telefon hast du dich ja noch nüchtern angehört.“

„Am Telefon ...“

„Und ... wo bist du gewesen?“

„Wie gesagt, meine Freundin und ich saßen vor dem Fernseher und dabei habe ich gemütlich Rotwein genossen. Dann bekam ich noch den Drang raus zu gehen und bin dann im Römer hängen geblieben!“

Bei Lust auf Bier und Krawall empfehle ich immer folgende Therapie, man geht in den Römer. Römer steht für Römertopf. Das heißt, man sucht den anarchistischen Brennpunkt auf, eine alternative Kneipe, wo hauptsächlich klangliche Ekstasen aus den frühen 70er Jahren den Raum beschallen. Zudem ist dieser Ort bei jedem Furz in der Stadt bekannt dafür, dass man sich hier dem Drogenumsatz frönt. Anscheinend nur nicht bei der Polizei.

In dieser Pinte sind die Leute teilweise so zugedröhnt, dass man ihnen Haribo-Konfekt als Designer-Droge andrehen kann. Das nenne ich dann immer den Haribo-Effekt. Der Wirt erlangte traurige Berühmtheit, weil unter seiner Hand schon einige Berggaststätten südlich der Alpen erfolgreich heruntergewirtschaftet wurden. Einst dienten die Räumlichkeiten der Kneipe als Tanzlokal, eine frühere Form einer Dötze. Heute ist eine Dötze ein meist recht großer Raum mit oft recht lauter rhythmischer Beschallung, nach der sich – gerne Samstagnacht – Menschen verschiedener Couleur mehr oder weniger geschickt zu bewegen versuchen. Von Kiffen halte ich übrigens überhaupt nichts. Kiffen erweitert lediglich das Bewusstsein bei Menschen mit verkleinertem Großhirn ...

„Und wann warst du wieder zu Hause?“

„Meine Freundin meinte so gegen vier ...“

Meisen und ich machen uns an einem stürmischen, teilweise regnerischen Samstag auf den Weg Richtung Krefeld, um dort mit Schimpfkampagnen die gegnerische Mannschaft in Psychoterror zu versetzen und sportlich in die Knie zu zwingen. Als Fortuna-Düsseldorf-Fan hat man ein fest umrissenes Weltbild. Gegnerische Fans aus dem Osten sind alle faul und arbeitslos. Und die 1.-FC-Köln-Fans sind von Geburt an allesamt homosexuell.

Das Problem unter den Fußballfans ist: Da sind so wenig Grundgesetzbefürworter darunter. Solche Leute schreiben auch auf Toilettenwände Auslendär raus. Das sind dann meistens die Leute, die auf der Schule eine ganz besondere Karriere gemacht haben. Während eines Fußballspieles offenbart sich der wahre Mann. Hasstiraden, Schmähungen und Mittelfinger sind an der Tagesordnung. Soll mal jemand erzählen, Männer könnten keine Gefühle zeigen ...

Wir tuckern gemütlich auf der A57 Richtung Norden und lassen uns bei 130 von niederländischen Lkws überholen. Wir selber überholen einen Harley-Fahrer, der wahrscheinlich auf dem Weg nach Holland ist, um im Coffie-Shop von Amerika zu träumen. Von Kiffen halte ich übrigens ..., aber das hatten wir schon. Eine Motorjacht kaufen und besoffen sein in Amsterdam, von diesem alten Menschheitstraum bin ich zeit meines Lebens gefangen. Meisen und ich haben mal Holländisch gelernt. Damals bei Sylvester Bauer, dem Niederländisch-Lehrer der VHS, mussten wir alle sagen, weshalb wir die Sprache erlernen möchten. Mein Freund meinte dann: Ik leer nederlands, omdat ik kann better flirten met de nederlandse meisjes in Spanje. Ich hatte eigentlich den gleichen Grund, gab aber an, das niederländische Fernsehen besser verstehen zu wollen. Apropos Spanien. Ich habe schon meinen Sommerurlaub gebucht und werde mich wieder in den Reisebus setzen und an die Costa Brava tuckern. Und dort angekommen werde ich im Poolbereich des Hotels mit dem Handtuch bewaffnet den krebsroten und alkoholisierten Engländer zum Duell um den letzten noch freien Liegestuhl herausfordern ...

Ich schieb die Toten-Hosen-Kassette rein, weil im Radio gerade ein politisches Thema diskutiert wird. Politik interessiert mich nur am Rande. Meisen interessiert das überhaupt nicht. Von Politik hat der so viel Ahnung wie ich von afghanischem Erbschaftsrecht. Worin Meisen allerdings ein Experte ist, ist das Auspacken diverser Hi-Fi-Geräte aus Originalverpackungen. Besonders derer, die vom Laster gefallen sind ...

„Mir ist schlecht“, japst Meisen.

Ich nehm ihn nicht ernst.

„Halt mal an. Ich glaub, ich muss kotzen.“

„Ich kann hier nicht so einfach anhalten. Warte noch! Gleich kommt eine Raststätte.“

Meisen kriegt schwere Probleme und fängt an zu suchen. Er öffnet das Handschuhfach und hält sich die Tüte vor den Mund. Dann legt er in bester Manier los. So kennt man ihn. Dass die Tüte eingerissen ist, merkt er im Eifer des Gefechtes nicht. Auch Kotze gehorcht dem Gesetz der Schwerkraft und geht den Weg des geringsten Widerstandes. Mithilfe von Papiertaschentüchern bekommen wir Autositz sowie Hose von Meisen wieder einigermaßen gesäubert. Auch der Schal weist einige Spuren auf. Aber das stört Meisen nicht ...

Fußballspiel wird gewonnen. Schiedsrichter ist deshalb weder schwul noch schuld. Schimpfkampagnen waren erfolgreich. Bin stolz – habe nur jetzt einen dicken Hals. Meisen wird der bekotzte Schal von einem hochalkoholisierten Fortunafan im Freudentaumel vom Hals gerissen und mitgenommen. „Scheiß auf den Schal. Hauptsache Fortuna schafft den Aufstieg in die dritte Liga.“

Meisen grinst zufrieden.

Fernsehabend

19.35 Uhr

Sitze alleine vor der Glotze und warte auf die Ziehung der Lottozahlen. Die Hoffnung für alle, die zögern, ihre Schulden zu bezahlen. Schon optisch betrachtet hat die Lottofee ihren Reiz, genau wie das Spiel selbst. Die Stimme der Glücksgöttin spricht gleich zu deinem Portemonnaie, hofft man immer. Bei der Ziehung der Zahlen wartet man geduldig, bis die letzte Kugel gefallen ist, obwohl man theoretisch schon bei der vierten gezogenen Zahl nicht mal eine Chance auf einen Dreier hätte. Dann muss man wieder nüchtern feststellen, was man eigentlich jeden Samstagabend feststellt, dass es wieder mal nix war mit den Millionen. Damit man keiner Täuschung irgendeiner Art erlegen ist, wartet man sicherheitshalber noch, bis auch die letzte Glückszahl zum zweiten Mal von der jetzt zum gehassten Lotto-Luder gewordenen Ansagerin bekannt gegeben wird.

Zum Glück gibt es ja eine zweite Chance – Spiel 77! Und noch Super 6! Was aber auch meistens nicht mehr viel nutzt. Die Folge sind Hasstiraden, Schmähungen und Mittelfinger. Deshalb zappt man dann oft frustriert auf einen anderen Sender. Verharrt man jedoch auf dem Ersten, schaltet man spätestens beim Wort zum Sonntag um, bevor der Pfarrer den Mund aufmachen kann. Der erzählt Geschichten von reichen Leuten, die nicht ins Himmelreich kommen, weil sie zu viel Geld besitzen. Das will nun wirklich keiner hören. Ich wechsle den Kanal und schaue mir Wetten Dass ...? im ZDF an.

Beim Opernsänger José Carreras schalte ich auf RTL um, wo James Bond die Welt vor einem Schurken retten soll. Anscheinend muss ihm das jedoch bislang misslungen sein, denn als ich wieder den Kanal wechsle, trällert José Carreras fröhlich weiter auf dem Zweiten und malträtiert mein Zwerchfell. Ich habe übrigens nichts gemeinsam mit dem englischen Geheimagenten Bond. Weder hab ich eine geile Sekretärin, noch mag ich Martinis weder geschüttelt noch gerührt. Weiterhin sehe ich nicht im Entferntesten aus wie 007. Eher wie 08/15. Dann tritt noch der nervige George Michel bei Thomas Gottschalk auf. Gerne würde ich 007 eine SMS schicken: James, habe gerade wieder ein paar neue Schurken entdeckt. Es gibt noch viel zu tun ...

Telefonklingeln unterbricht meinen Tagtraum.

„Jo!?“

„Ist da Stefan Hoffmann?“

 

„Ja klar, wer spricht?“

„Hier spricht die Elvira. Elvira Frankenstein. Kennst du mich noch?“

Elvira?! Welch Überraschung.

„Hey, Elvira, super. Klaro kenn ich dich noch. Wär ja wohl ein Ding, wenn ich dich vergessen hätte. Wie geht ’s denn so?“

„Na ja. Seitdem ich wieder in Dormagen wohne, geht es eigentlich wieder. Habe die letzten Jahre in der Nähe von Regensburg gelebt, einer erzkatholischen, mittelalterlichen Stadt an der Donau, mitten im schönen, tiefschwarzen, teilweise immer noch mittelalterlichen Bayern. Nachdem mein zweiter Mann mich endgültig verlassen hat, bin ich vor fünf Monaten mit meiner Tochter wieder hochgezogen, weil ich in der Nähe von meiner Mutter und meiner Schwester Belinda sein wollte. Dann habe ich hier Arbeit gefunden habe. Was machst du denn so?“

„Tja, wie soll ich sagen. Im Grunde genommen nicht viel. Bin vor einigen Jahren schwer erkrankt. Man schickte mich in Rente. Lebe also auf Staatskosten. Habe jetzt eine Geschichte geschrieben. Katzen-Blues heißt die. Arbeite nur ab und zu mal bisschen ehrenamtlich. Wo bist du denn am Arbeiten?“

„Ich arbeite für die IRAG-Versicherung. Dort stehe ich als Neuling unter nerviger Beobachtung von meiner Kollegin, die mich anlernt und den andern Leuten im Büro auch. Kennst du das, wenn man den ganzen Tag völlig unterfordert ist und einen der Job auch nicht die Bohne interessiert, man das aber tut, weil man eben keine andere Wahl hat und auf das Geld angewiesen ist? Ich finde es einfach nur schrecklich. Ich wollte da noch nie hin, jetzt weiß ich auch, dass ich damit recht hatte. Bitte kein eigenständiges Handeln oder gar Denken. Alles wird so gemacht, wie es schon immer gemacht wurde, und man muss auch nicht verstehen, warum das so ist.

Ich bin es halt gewohnt, schnell und vor allem effektiv zu arbeiten, wichtig ist, dass das Ergebnis stimmt und nicht die Reihenfolge, wie die Zettel auf dem Tisch zu liegen haben oder welchen Desktophintergrund man hat. Ich denke normalerweise bei der Arbeit mit und will auch verstehen, was ich da tue. Aber Hintergründe kennt da keiner. Jeder macht seine Arbeit so, wie er sie von seinem Vorgänger gelernt hat, und denkt auch nicht darüber nach, ob man sich manches eventuell leichter machen könnte. Du könntest in den Büros wirklich die halben Leute entlassen, dann hätten die übrig gebliebenen genug zu tun, wenn sie normal arbeiten. Aber das kann da gar keiner mehr. Die meisten kennen gar nichts anderes als diesen Konzern! Ich würde wahnsinnig werden. Du siehst, die Arbeit macht mir furchtbar viel Spaß. Wenigstens kann ich jeden Tag pünktlich um 16.00 Uhr heimgehen, das ist der Vorteil an einer Behörde, denn so geht es da zu.“

„Tja ...“

Das mit der Effizienz von Arbeitskräften kenne ich auch. Das sah dann ungefähr so aus: In unserem prima durchorganisierten Laden am Rande von Düsseldorf kam selten Unlust auf. Voller Elan schlenderte ich durchs riesige Bürogebäude, täuschte Arbeitseifer vor, durchwühlte planlos diverse Aktenschränke, drehte mich dabei nach jedem Rockzipfel um, der an mir vorbeiflitzte, mimte den smarten Boy, grüßte freundlichst die Sekretärin. Und verfluchte die pikierte Tippse im gleichen Atemzug – hatte die arrogante Strapsmaus mich doch letztens beim Chef kolossal angeschissen. Bei erhöhter Lustlosigkeit verzog ich mich in die Teeküche, um mich von dem ordnungsgemäßen Zustand der Kaffeemaschine und den 49 Kaffeebohnen zu überzeugen. Andauernd war ich konsterniert, da komische Typen und Schwätzer just auf die gleiche famose Idee gekommen waren, und letztendlich hopste ich immer enttäuscht zurück auf meinen Bürosessel ...

Langeweile wurde durch Reinigen der Fingernägel mittels auseinandergebogener Büroklammer kurzfristig unterbunden. Der Griff zur Zigarettenschachtel blieb unvermeidbar, spätestens seit der Zeit, wo mich in Folge haufenweise Verzehrs von Salmiakpastillen, gedacht als Nikotinersatz, Schwindelanfälle mich schwächten und schmerzerregende Krämpfe meine Magenregion durchbohrten. Schrillte mich das Telefon zurück in die graue Wirklichkeit, entsprang ich wie der Phönix aus der Asche, gab mich als großkotzigen, stockkonservativen Bürodespoten aus – überschritt gerne meine Kompetenzen. Oder ich machte auf Bin ich nicht für zuständig, ich verbinde Sie weiter, bis ich für meinen Anrufer einen barmherzigen Gesprächspartner mit einem offenen Ohr gefunden hatte – oft jemanden in den oberen Etagen. Dafür wurden die auch besser bezahlt.

Dieser Job war der Anfang vom Ende meiner beruflichen Laufbahn ...

„Ich habe jetzt wieder mal eine unheimlich arbeitsreiche Woche hinter mir. Und die Krönung ist der 13. Geburtstag von meiner Kleinen morgen. Das heißt: Gestern schon mal Chips und Co besorgt, dann heute mal eben den Boden für eine Sachertorte gebacken, morgen früh die Torte fertigmachen, am Nachmittag geht dann die Feierei los. Zwölf Kiddies werden erwartet. Dann kommt meine Schwester mit Kindern, Mann und Hund. Wann ich den ganzen Schweinestall hier aufräume, ist mir auch noch ein Rätsel. Da freu ich mich doch fast schon wieder auf die Arbeit am Montag!“

„Ja ja, als Hausfrau kämpft man schon dauernd gegen Kalk, Milben und unaufgeräumte Zimmer.“

„Woher weißt du das? Kaum ist eine Frau aus der Küche raus, fängt sie an aufzuräumen, richtig. Ach so, was ist das denn für eine Erkrankung gewesen? Bist du etwa an einen Rollstuhl gefesselt?“

An den Rollstuhl bin ich nicht gefesselt. Sollte ich doch mal an einen solchen gefesselt sein, würde ich gerne bei Wetten dass ...? auftreten und behaupten: Schmeißt mich ins tosende Meer – der Rollstuhl ist von IKEA und kann schwimmen, die Räder sind aus Holz ...

„Nö, psychisch erkrankt“, antworte ich.

„Wie sieht das denn dann mit Sport aus? Kannst du noch viel Sport machen, wie früher?“

„Ja, teilweise.“

„Gehst du öfter abends weg?“

„Ab und zu.“

„Bist du immer noch schlank?“

„Geht so ...“

Ich hoffe, liebe Elvira, es würde dich nicht stören, wenn mein schwabbeliger Bierbauch das weiße Feinripp-Unterhemd ausbeult, eine legere halbseidene Jogginghose meine mangelnde Sportlichkeit geschickt kaschiert und ich meine Abende gern sesselpupsend mit der Bierpulle in der Hand vor der Mattscheibe verbringe, am liebsten beim Fußball ...

„So, meine Tochter kommt gerade ins Haus. Scheint ein Problem zu haben. Ich muss jetzt Schluss machen. Ich meld mich wieder bei dir.“

„Ja, ist gut. Also bis denne.“

„Tschüss Stefan.“

Ich überlege. Was hat der Anruf wieder zu bedeuten? Ist die heiß? Möchte die was von mir nach all den vielen Jahren? Ich weiß es nicht so genau. Welcher Mann blickt schon bei einer Frau durch, seien wir doch mal ehrlich. Ich probier den Trick mit der Geschirrspülbürste. Reiße Borste um Borste heraus und sage dazu: Sie liebt mich. Sie liebt mich nicht. Man muss immer mehrere Eisen im Feuer haben, meint Meisen. Das habe ich gerade auch mit Elvira und der Pastorin. So, morgen nix mit ausschlafen. Um 9.30 Uhr fängt die Messe an. Werde dann dem Fräulein Pastorin mal kurz in ihre Äuglein blicken und sie fragen, ob sie meine Mail bekommen hat.

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