Die Kiste Gottes

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6.

Oberhofer schreckte hoch.

Hatte er sich getäuscht? Ohne das Licht anzumachen, setzte er sich in seinem Bett auf. Angestrengt horchte er in die Dunkelheit. Die roten, digitalen Lettern des Weckers verrieten ihm, dass es schon vier Uhr früh war.

Erst um zwei Uhr hatte er sich ins Bett gelegt. Alle seine Versuche die Kiste zu öffnen waren gescheitert. Er hatte sie von allen Seiten genau untersucht, ohne den geringsten Ansatz finden zu können, wie sich die Kiste öffnen lässt.

Wirklich alles hatte er versucht. Er war extra noch einmal in die Garage hinuntergestiegen, um dem Metall mit einem Bohrer zu Leibe zu rücken. Dieses Vorhaben scheiterte ebenso kläglich, wie der Versuch mit Hammer und Meissel. Das Metall war zu hart! Der Bohrer rutschte einfach ab, ohne auch nur den geringsten Kratzer auf der Oberfläche zu hinterlassen.

Enttäuscht und verwundert hatte Oberhofer die Kiste wieder in sein Arbeitszimmer hinaufgetragen und versuchte die Schriftzeichen zu entziffern. In keinem seiner Bücher fand er Zeichen, die mit jenen auf der Kiste vergleichbar waren. Da er nicht wusste aus welcher Zeit und woher die Kiste stammte, konnte er die Symbole nicht bestimmen und übersetzen.

Deprimiert legte er sich schliesslich ins Bett. Vielleicht fiel ihm was ein, wenn er ausgeschlafen war, aber an Schlaf war nicht zu denken. In seinem Kopf kreisten die Gedanken wie wild und verbanden sich zu Phantasien und wilden Theorien.

Augenscheinlich war er dann aber doch in einen unruhigen Schlaf gefallen, denn das Geräusch hatte ihn aus einem wirren Traum gerissen.

Wieder das Geräusch. Was war es bloss? Schlug ein Fensterladen vom Wind geschüttelt irgendwo gegen eine Wand?

Oberhofer lauschte angestrengt. Nein. Schritte! Es waren eindeutig Schritte. Jemand schlich unten durch das Haus.

Oberhofer war plötzlich hellwach. Sein Gehirn begann wieder auf Hochtouren zu arbeiten. Einbrecher in seinem Haus? Warum sind sie nicht eingebrochen, als er im Urlaub war? Plötzlich durchzuckte ihn die Erkenntnis wie ein Blitz.

Die Kiste!

Die Einbrecher wollten die Kiste. Er schlug die Decke beiseite und stieg behutsam aus dem Bett. Im Dunkeln tastete er sich durch das Zimmer zur Tür. Durch die schweren Vorhänge drang kein Mondlicht in das Schlafzimmer. Oberhofer öffnete vorsichtig die Tür einen Spalt breit.

Der Flur lag ruhig und verlassen da. Das Mondlicht fiel sanft durch die kleinen Fenster und warf weiche Schatten auf den Teppichboden.

Die Eindringlinge befanden sich noch immer im Parterre. Oberhofer überlegte fieberhaft, was er machen konnte. Er musste die Kiste in Sicherheit bringen. Zuerst musste er in das Arbeitszimmer hoch, um die Kiste zu holen, die immer noch auf dem Schreibtisch stand. Doch wo konnte er danach hin mit ihr? Im Turm sass er in der Falle.

Plötzlich fiel ihm eine Lösung ein.

Vorsichtig schob er sich aus der Tür und arbeitete sich langsam zur Wendeltreppe vor, die in sein Arbeitszimmer hinaufführte. Stets darauf bedacht, keinen Lärm zu verursachen, stieg er behutsam Stufe um Stufe höher. Er hatte das Gefühl nicht von der Stelle zu kommen. Er fühlte sich wie eine Schnecke, die einen Berg hinaufkroch.

Die Tür zum Arbeitszimmer stand offen und als Oberhofer im Raum war, schob er sie leise hinter sich zu. Er war versucht die Tür zu verriegeln, verwarf den Gedanken aber sogleich wieder. Eine von innen verschlossene Tür hätte den Eindringlingen verraten, dass sich hinter der Tür jemand verbarg. Er ging so schnell er konnte zum Schreibtisch, ohne dass er Gefahr lief, den ungebetenen Gästen seinen Aufenthaltsort zu offenbaren. Er hob die Kiste vom Schreibtisch und trat mit ihr vor das Bücherregal, links hinter dem Schreibtisch.

Er nahm zwei Bücher heraus und drückte gegen ein unscheinbares Astloch in der Maserung des Holzes. Das Astloch trat mit einem leisen Klicken hervor und Oberhofer drehte es nach links. Wieder erklang ein Klicken und das Regal schwang einige Zentimeter von der Wand weg.

Oberhofer hielt inne und lauschte. Er glaubte zu hören, wie jemand die Stufen zum Turm hochstieg. Die Eindringlinge schienen scheinbar genau zu wissen, wohin sie wollten.

Hastig drückte Oberhofer das Astloch wieder zurück und stellte die beiden Bücher zurück an ihren Platz. Mit der Kiste unter dem Arm trat er neben das Bücherregal und zog es auf. Dahinter erschien eine kleine Luke. Oberhofer öffnete die ungefähr einen Meter hohe Tür und kroch mit der Kiste hinein. Zwischen den Stapeln von Ordnern und Schnellheftern fand er gerade genug Platz um sich hinzusetzen.

Er zog an der Schnur, die am Bücherregal befestigt war und durch ein kleines Loch in der Tür zur Luke ins Innere des kleinen Raumes geführt wurde. Seine Tochter hatte die Konstruktion einmal angefertigt, um beim Versteckspielen unauffindbar zu sein. Sie hatte auch daran gedacht, einen Mechanismus zu entwickeln, damit man wieder aus dem Versteck herauskommt. Er dankte ihr für den Einfall und zog an der Schnur.

Das Regal schloss sich und rastete mit einem leisen Klicken wieder ein. Oberhofer sass mit eingezogenem Kopf in dem engen Raum, umgeben von völliger Dunkelheit. Er betete, dass die Einbrecher das Geräusch des Verschlusses nicht gehört hatten.

Es dauerte nicht lange und Oberhofer vernahm, wie die Tür zum Arbeitszimmer leise geöffnet wurde. Er drückte die Kiste an sich und wagte es kaum zu atmen.

Draussen hörte er Schritte im Zimmer. Schubladen wurden aufgezogen und nach kurzem wieder geschlossen. Wieder Schritte. Der Deckel der grossen Kiste unter dem Fenster, meldete Oberhofer mit einem Quietschen, dass auch deren Inhalt einer Inspektion unterzogen wurde.

Die Schritte wanderten durch das ganze Zimmer, dann kamen sie näher, wurden lauter. Plötzlich verstummten sie. Oberhofer hielt den Atem an. Sein Herz pochte wie wild. Jemand stand direkt vor dem Regal. Durch den Spalt unten an der Tür sah Oberhofer wie der Strahl einer Taschenlampe sich bewegte. Langsam wanderte der Stahl nach rechts, verschwand und kam dann wieder zurück. Wie in Zeitlupe fuhr der Lichtkegel an dem Regal entlang. Plötzlich war er weg und Oberhofer hörte, wie sich die Person wieder entfernte. Oberhofer begann wieder zu atmen.

Es kam ihm vor wie eine Ewigkeit, bis er schliesslich hörte, dass der Fremde das Zimmer wieder verliess und die Stufen des Turmes hinunterstieg. Oberhofer hatte keine Stimmen gehört und schloss daraus, dass es sich um eine Einzelperson handeln musste, die in sein Haus eingedrungen war.

Er widerstand dem Drang sofort aus seinem engen Versteck heraus zu kriechen. Da er keine Uhr bei sich hatte, konnte er nicht sagen wie viel Zeit vergangen war, als er schliesslich das Regal wieder entriegelte und vorsichtig aus seiner Zuflucht hinauskroch.

Die Kiste stelle er ganz nach hinten in den Raum und schob einige Ordner davor. Dann verschloss er die Kammer wieder und rastete das Bücherregal vorsichtig wieder ein.

Er schlich langsam zur Tür. Von unten drangen immer noch Geräusche zu ihm hinauf. Der Einbrecher hatte das Haus also noch nicht verlassen.

Oberhofer beschloss abzuwarten. Er fühlte sich im Turm jetzt sicher, da er nicht davon ausging, dass der Besucher noch einmal hier hochkommen würde. Er begab sich vorsichtig zu den Fenstern und platzierte sich so, dass er den gesamten Vorplatz des Hauses überblicken konnte.

Lange Zeit drangen ab und zu noch Geräusche von unten in den Turm hoch. Dann wurde es still. Oberhofer wartete gespannt. Auf dem Platz erschien ein Mann, der das Haus verliess und sich zielstrebig auf den Weg zurück zum Dorf begab. Er konnte sein Gesicht nicht erkennen, denn der Mann drehte ihm die ganze Zeit den Rücken zu.

Was nun? Oberhofer überlegte verzweifelt, was er jetzt machen sollte. Er wollte nicht im Haus bleiben. Irgendetwas sagte ihm, dass er überwacht worden war und der Einbrecher nur darauf gewartete hatte, bis er am Schlafen war. Sicher würde er weiter beschattet werden.

Oberhofer beobachtete wie der Mann den Weg zum Dorf zurückging. Plötzlich begann der Mann zu rennen. Er hechtete hinter eine Schneewehe und blieb dort liegen.

Verwundert schaute sich Oberhofer um. Jetzt erkannte er den Wagen, der auf die Strasse zu seinem Haus eingebogen war. Was sollte das bedeuten? Das Auto gehörte offensichtlich nicht zu dem Mann, der eben hier eingebrochen war, überlegte Oberhofer. Waren es andere Einbrecher? Suchten sie auch die Kiste?

Es blieb ihm keine Zeit zum Überlegen. Er musste hier weg.

Oberhofer wollte schon die Kiste aus dem Versteck holen, als er es sich anders überlegte. Er konnte es nicht wagen mit ihr durch die Gegend zu spazieren. Dass er seinen Wagen für die Flucht nicht benutzen konnte, war ihm klar. Nein, er musste zu Fuss das Haus durch den Wald dahinter verlassen und hoffen, dass ihn dort niemand erwartete. Die Kiste war im Moment in ihrem Versteck am sichersten, sagte er zu sich selber, als er die Treppe hinunterstieg.

In seinem Schlafzimmer erwartete ihn ein Chaos. Im spärlichen Licht seiner Taschenlampe, die er aus dem Nachtisch geholt hatte, betrachtete er die Unordnung. Alles Schränke und Kommoden waren durchwühlt worden. Alle seine Kleider lagen auf dem Boden verstreut. Er griff sich das Nächstbeste und zog es sich über.

Im Dunklen ging er so schnell er konnte durch sein Haus und fand in allen Zimmern dasselbe Bild vor. Alles war durchsucht worden.

Oberhofer rannte durch die Küche und verliess sein Anwesen durch die Hintertür, nachdem er die Gegend hinter dem Haus so gut es ging, abgesucht hatte. Er schlug den Mantelkragen hoch und hastete zu dem kleinen Weg, der direkt in den Wald hineinführte.

 

Oberhofer arbeitete sich schnell die Anhöhe hinauf und gelangte durch die Büsche nach rechts auf zu der Holzhütte neben seinem Haus. Er versuchte immer im Schatten der Bäume zu bleiben und gleichzeitig die Zufahrt zu seinem Haus zu überblicken.

Das schwarze Fahrzeug fuhr weiter unbeirrt auf sein Haus zu und bog gerade auf den Vorplatz ein, als Oberhofer seine Position erreicht hatte. Sobald der Wagen hinter der Hausecke verschwunden war, rannte Oberhofer einige Meter weiter nach vorne, um den Platz besser überblicken zu können. Als er eine günstige Position erreicht hatte, konnte er gerade noch erkennen, wie ein Mann die Haustür aufbrach und hineinging.

Verblüfft verfolgte der Besitzer, was in seinem Haus vorging. Er konnte anhand des Taschenlampenlichts des Einbrechers erkennen, dass er ebenfalls das gesamte Haus durchsuchte. Im Arbeitszimmer verweilte der Mann länger. Oberhofer hoffte, dass auch dieser Einbrecher sein gut getarntes Versteck nicht entdecken würde. Gebannt schaute er auf die Fenster des Turmzimmers. Er konnte nichts Anderes tun als abzuwarten.

Oberhofer versuchte den ersten Eindringling wieder zu finden, der sich hinter der Schneewehe versteckt hatte. Er späte angestrengt über das gesamte Gelände, das er einsehen konnte, aber den ersten Einbrecher konnte er nicht mehr entdecken.

Die Zeit schien still zu stehen. Immer und immer wieder glitt der Strahl der Taschenlampe durch das Arbeitszimmer. Dann endlich verliess der Mann das Zimmer. Es dauerte nicht lange und der Unbekannte trat durch die Vordertüre ins Freie, stieg in den schwarzen Chrysler und setzte zurück. Verzweifelt versuchte Oberhofer zu erkennen, ob der Fremde die Kiste bei sich trug. Alles ging zu schnell. Er vermochte nicht zu erkennen, ob der Mann gefunden hatte, wonach er suchte.

Oberhofer versuchte das Nummernschild zu entziffern. Der Wagen fuhr rückwärts vom Platz und kam seinem Versteck näher. Angestrengt blickte er auf das Schild, doch der Fahrer wendete und das Heck des Wagens verschwand aus Oberhofers Blickfeld. In der Deckung des Waldes bewegte er sich so schnell wie möglich in Richtung des Hauses. Er lief nur im Schatten der Bäume und wollte nicht riskieren, entdeckt zu werden. Wenn er doch nur das Nummernschild hätte erkennen können! Dann gäbe es ihm vielleicht einen Hinweis auf einen seiner nächtlichen Besucher.

Oberhofer beeilte sich, so gut es auf dem verschneiten Waldweg ging, den Hang hinunter zu gelangen. Die Rückfahrlampen des Wagens erloschen und kurz darauf setzte sich das Auto erneut vorwärts in Bewegung, weg von Oberhofer.

Verzweifelt begann Oberhofer, alle Vorsicht vergessend, die letzten Meter zu rennen. Sein Fuss verfing sich in einer Wurzel und er schlug der Länge nach auf dem Waldboden auf. Er rappelte sich wieder hoch und konnte nur einen flüchtigen Blick auf die Autonummer werfen, bevor die Zahlen auf dem sich entfernenden Nummernschild zu undeutlich für seine Augen wurden.

Oberhofer stand auf. Ungläubig starrte er dem Auto nach.

Kopfschüttelnd machte er sich zurück auf den Weg zum Haus und klopfte sich den Schnee von Kleidern. Er konnte immer noch nicht fassen, was sich alles in dieser Nacht abgespielt hatte. Zwei Einbrüche waren passiert und offensichtlich suchten beide Einbrecher auch noch dasselbe.

Die Kiste!

Oberhofer beschleunigte seine Schritte. Er hatte nicht sehen können, ob der zweite Eindringling eine Kiste ins Auto geladen hatte. Oberhofer betrat sein Haus wieder durch die Küche und arbeitete sich so schnell es ging durch die Unordnung nach oben. Vor seinem Zimmer hielt er inne.

Hörte er schon wieder Schritte? Spielte sein strapazierter Geist ihm einen Streich?

Aus der Küche konnte er das Klappern der Töpfe hören, die auf dem Boden lagen. Jemand hatte das Haus ebenfalls durch den Hintereingang betreten.

Wohin jetzt? überlegte sich Oberhofer. Sollte er es wagen ins Zimmer hochzugehen und die Kiste aus dem Versteck zu holen? Doch was dann? Wohin konnte er gehen? Sollte er sich nochmals auf das Versteck verlassen?

Die Schritte kamen näher, begannen bereits die Stufen in den ersten Stock hochzusteigen.

Oberhofer blieb keine Zeit. Er rannte ins Turmzimmer hinauf. Er musste einfach wissen, ob die Kiste noch in ihrem Versteck stand. Heftig atmend erreichte er sein Arbeitszimmer. Das Regal war noch immer eingerastet. Oberhofer atmete erleichtert auf. Er hastete auf das Regal zu, um die Kiste aus dem Versteck zu holen, da hörte er schon dein Eindringling die Stufen zum Turm hoch rennen.

Es war zu spät. Er musste auf das Versteck vertrauen. Doch er musste hier raus. Allerdings kam ihm auf dem einzigen Fluchtweg sein Feind entgegen. Oberhofer sah sich verzweifelt im Zimmer um. Es gab keinen anderen Ausweg.

Die Schritte seines Verfolgers hallten durch das Arbeitszimmer und schienen ihn zu verhöhnen. Er nahm sich die schwere Messinglampe vom Schreibtisch und sprang entschlossen hinter die Eingangstür und zog lautlos den Schlüssel aus dem Schloss.

Es war nur eine kleine Chance, aber besser, als in die Hände seines Feindes zu geraten.

Die Schritte verstummten.

Oberhofer drückte sich gegen die Wand und hielt den Atem an.

Der Strahl der Taschenlampe kroch über den Boden.

Plötzlich sprang der Mann in den Raum und suchte die Umgebung mit seiner Lampe ab.

Oberhofer schleuderte mit aller Kraft, die er aufwenden konnte, die Messinglampe auf den Eindringling. Dieser fuhr erschrocken herum und hob schützend die Hände vor das Gesicht. Die Lampe hätte ihn sonst direkt am Kopf getroffen. Die Wucht des Wurfgeschosses und die Überraschung liessen ihn das Gleichgewicht verlieren.

Oberhofer nutzte die Gunst des Augenblicks und rannte um die Tür herum und zog sie hinter sich zu. Nervös versuchte er den Schlüssel ins Schloss zu stecken. Drinnen hörte er, wie sich der Mann wieder erhob. Endlich steckte der Schlüssel und Oberhofer drehte ihn schnell zweimal. Die Klinke wurde von innen heruntergedrückt und der Gefangene rüttelte wild an der Tür.

Oberhofer drehte sich um und rannte so schnell er konnte die Treppe hinunter. Unten abgekommen hörte zwei Schüsse und wie kurz darauf die Tür aufgerissen wurde. Oberhofer rannte um sein Leben.

In der Küche fischte er den Autoschlüssel aus dem Schlüsselkasten und wollte sofort weiter rennen. Er glitt aber auf dem Besteck aus, das überall auf dem Boden verstreut lag. Alles lief plötzlich nur noch in Zeitlupe ab. Messer und Gabeln rutschten und stoben in alle Richtungen auseinander. Der Boden kam schoss ihm entgegen und er schlug hart auf dem Steinboden auf. Der Aufprall raubte ihm für einen Moment lang den Atem. Erneut hörte er Schritte auf der Treppe: Wie Kriegstrommeln im Urwald.

Oberhofer musste weiter. Er rappelte sich auf und schleppte sich zur Tür, die in die Garage führte. In der Garage angelangt, verschloss er die Tür und ging um seinen BMW herum. Er setzte sich in den Wagen und fuhr hastig auf den Platz.

Wieder hallten zwei Schüsse durch die Nacht. Oberhofer erschrak und blickte in den Rückspiegel. Mit einem lauten Knall schwang die Verbindungstür zur Wohnung auf und der Mann rannte in die Garage.

Oberhofer trat das Gaspedal durch und das Fahrzeug geriet auf dem glatten Untergrund ins Schleudern. Die kleine Mauer, die den Platz umrundete, stoppte die Bewegung abrupt. Oberhofer wurde im Wagen herumgeworfen, doch trat er sogleich wieder aufs Gas. Der BMW schoss nach vorn und schrammte funkensprühend an der Mauer entlang bis zur Strasse.

Wieder hörte er Schüsse.

Oberhofer riss den Wagen herum und bog in die Strasse ein.

Und wieder ein Schuss, Glas splitterte. Die Kugel hatte die Scheibe der hinteren Autotür durchschlagen. Geschockt starrte Oberhofer auf das kaputte Fenster, doch blieb ihm keine Zeit. Er beschleunigte und fuhr die Strasse zum Dorf hinunter.

Erst an der Bahnstation wagte er anzuhalten. Erschöpft liess er sich im Sitz zurückfallen und atmete durch.

Die Bahnhofsuhr zeigte bereits sechs Uhr. Es war noch dunkel, doch bald würde die Dämmerung einsetzen. Die ersten Menschen strömten durch die kalte Morgenluft zu dem wartenden Zug.

Er stieg aus den Wagen und setzte sich in das kleine Café, das den müden Menschen heisse Getränke aller Art anbot.

Oberhofer wählte einen schwarzen Kaffee an der Bar und überlegte sich, was er nun als Nächstes unternehmen sollte. Er setzte sich an einen silbernen Tisch. Sollte er die Polizei einschalten? Doch was, wenn die ihm zu viele Fragen stellen würden? Es wussten schon zu viele Leute von der Kiste, wie diese Nacht gezeigt hatte.

Draussen setzte sich der Zug quietschend in Bewegung. Ein Mann rannte verzweifelt über den Platz und blieb dann fluchend auf dem Bahnsteig stehen. Deprimiert flüchtete er sich in die Wärme des Cafés.

Nein, sagte sich Oberhofer. Er konnte nicht zur Polizei gehen. Es war einfach zu gefährlich, dass noch mehr durchsickern würde. Es fiel ihm nur eine Person ein, an die er sich jetzt wenden und der er vollkommen vertrauen konnte.

Danach würde er das Auto in seine Werkstatt bringen, um kein weiteres Aufsehen zu erregen Ins Haus konnte er jedenfalls nicht zurück, so sehr er sich auch wünschte, die Kiste zu holen. Er musste sich im Moment auf das Versteck verlassen, momentan gab es keine andere Möglichkeit. Er war zum Warten verdammt.

Während er im Café sass, liess er sich die ganze Geschichte noch einmal durch den Kopf gehen. Viel Merkwürdiges war diese Nacht passiert, einiges, was er nie für möglich gehalten hätte. Es gab hingegen noch ein Indiz, das dagegen sprach zur Polizei zu gehen. Denn wenn er richtig beobachtet hatte, dann konnte auch die Polizei, zumindest gegen einen der Einbrecher, nichts unternehmen.

War es tatsächlich wahr, was er auf dem Nummernschild des Chryslers gesehen hatte?

7.

Jessica rannte die schmale, gewundene Strasse hinunter. Der Verfolger kam ihr immer näher. Sie suchte nach einer Möglichkeit sich zu verstecken - aber weit und breit konnte sie nichts finden. Nur ein weites, offenes Feld, durch das sich die Schotterstrasse wand und auf der sie ihrem Verfolger zu entkommen versuchte. Langsam stieg feiner Nebel aus den Feldern, am Himmel schien keine Sonne. Weiter vorne erschien ein grauer, flacher Platz: weit, ohne Gebäude. Auf dem Platz standen reglose, blasse Menschen. Sie schrie um Hilfe. Niemand reagierte. Jessica blickte zurück. Der Verfolger befand sich nur noch wenige Meter hinter ihr. Bald würde er sie einholen.

Sie hatte den Platz erreicht. Sie schrie wieder verzweifelt um Hilfe, aber niemand beachtete sie. Die Leute standen teilnahmslos da und unterhielten sich. Niemand nahm Notiz von ihr.

Der Verfolger rannte noch eine Armlänge entfernt hinter ihr her. Jeden Moment würde er sie packen. Sie hörte Stimmen. Jemand rief ihren Namen. Verzweifelt schaute sie sich um.

Nichts.

Sie hastete weiter zwischen den Leuten umher. Da vorne spielten Kinder. Nein, sie weinten. Sie riefen ihren Namen. Als sie völlig ausser Atem die Kinder erreichte, legte sich eine Hand auf ihre Schulter.

Jessica schreckte hoch. Sie brauchte einen kurzen Moment um zu realisieren, dass sie bei sich zu Hause in ihrem eigenen Bett lag. Durch die geschlossenen Jalousien zwängte sich sanftes Morgenlicht ins Zimmer. Die Hand auf ihrer Schulter gehörte Simone, die weinend neben dem grossen Doppelbett stand und ihren Namen rief.

Jessica setzte sich auf und zog Simone zu sich heran. „Was ist denn los?“, fragte sie ihre jüngste Tochter und schloss sie in die Arme. Nach dem Traum taten ihr die Nähe und Wärme gut.

„Marco und Julia lassen mich nicht mitspielen“, antwortete Simone schluchzend und strich sich ihre blonden Haare aus der Stirn. Tränen rannen aus den blauen Augen und kullerten über die runden Backen. „Sie sind in Marcos Zimmer und lassen mich nicht hinein.“ Schluchzend schmiegte sie sich fester an ihre Mutter.

„Willst du denn nicht lieber alleine etwas spielen?“

„Nein! Ich will mit den anderen spielen!“ kam die trotzige Antwort. Das Weinen hatte aufgehört.

„Aber, wenn du alleine etwas spielst, dann kannst du machen, was du willst und musst dir nicht von den anderen sagen lassen, was du zu tun hast. Das ist doch viel schöner.“

„Ich will aber nicht alleine spielen!“

„Aber, wenn Julia und Marco alleine spielen wollen, kann ich sie doch nicht zwingen, dich mitspielen zu lassen. Sie…“

„Doch das kannst du! Sag ihnen, dass sie mich mitspielen lassen sollen!“

 

„Aber dann lassen sie dich nur mitspielen, weil ich es ihnen befohlen habe und dann sind alle unzufrieden.“

„Das ist mir egal! Ich will nicht alleine spielen!“ Simone begann wieder zu schluchzen. Das war ihre Masche. Wenn sie etwas erreichen wollte, begann sie immer zu weinen. Da es beim Vater wirkte, versuchte sie es auch bei ihrer Mutter.

„Simone, es nützt nichts, wenn du wieder zu weinen beginnst. Wenn du mit den anderen spielen möchtest, dann musst du das alleine mit ihnen ausmachen. Ich werde sie nicht zwingen, dich mitspielen zu lassen. Du und Julia, ihr lasst Marco auch nicht immer mitspielen.“

„Du sollst ihnen sagen, dass sie mich mitspielen lassen müssen!“, sagte Simone. Sie zwang sich wieder zu weinen.

„Simone, hör auf zu weinen. Du weisst genau, wo du dich ausweinen kannst. Dies ist kein Grund zum Weinen.“

„Mami, bitte!“, brachte sie unter Tränen hervor.

„Ich habe nein gesagt!“

Simone riss sich los und rannte weinend in ihr Zimmer. Die Tür flog mit einem lauten Knall ins Schloss und das Heulen drang nur noch gedämpft zu Jessica hinüber. Bald würde das Weinen in ein Schluchzen übergehen, um danach ganz zu verstummen.

Jessica schaute auf den Wecker. Acht Uhr. Normalerweise konnte sie an einem Samstag nicht solange schlafen, wenn die Kinder bei ihr waren. Sie fühlte sich noch immer müde. Es kam ihr vor, als habe sie die ganze Nacht nicht geschlafen. Mehrere Male war sie erwacht und konnte immer nur mit Mühe wieder einschlafen.

Sie streckte sich und die Decke glitt von ihr herunter. Die Kühle im Zimmer liess sie erschaudern. Sie widerstand der Versuchung sich noch einmal in die warme Decke zu kuscheln. Schnell stieg sie aus dem Bett, zog Trainingshosen und ein Pullover über. Auf dem Weg zur Küche horchte sie an Simones Tür. Simone sang leise vor sich hin. Aus Marcos Zimmer hörte sie etwas, was sich anhörte wie ein Ritter- und Prinzessinenspiel.

Als sie in der Küche die Kaffeemaschine eingeschaltet hatte, schlurfte sie ins Wohnzimmer und nahm den schnurlosen Apparat aus der Ladestation. Sie wählte die Nummer ihres Vaters. Während es klingelte, ging sie zurück in die Küche und liess die Kaffeemaschine spülen, leerte das Spülwasser aus und drückte auf den Knopf für den extrastarken Frühstückskaffee. Die Maschine begann lautstark die Bohnen zu mahlen. Am andern Ende der Telefonleitung meldete sich erneut der Anrufbeantworter. Ungläubig hörte Jessica die Bandansage. Sie schaute auf die Küchenuhr. Es war nun viertel nach Acht. Unmöglich, dass ihr Vater so lange schlief. Selbst mit einem Jetlag. Für gewöhnlich stand er immer um Sieben auf. Er hielt es für Verschwendung, wenn man länger schief.

Was war nur los?

Jessica fühlte wie das Unbehagen wieder in ihr aufstieg. Sie nahm die Kaffeetasse von der Maschine und trank langsam. Sie musste sich dazu zwingen, ruhig zu bleiben. Was könnte passiert sein, fragte sie sich. Sie ging alle Möglichkeiten durch, die ihr einfielen. Doch mehr als gestern Abend fielen ihr nicht ein. Obwohl sie davon ausging, dass ihr Vater sie angerufen hätte, wenn er das Flugzeug verpasst hätte, entschloss sie sich bei der Fluggesellschaft anzurufen.

Sie ging mit dem Kaffee ins Büro und startete den Computer. Während dieser hochfuhr und sie sich danach mit dem Internet verband, wählte sie nochmals die Nummer ihres Vaters - wieder meldete sich nur der Anrufbeantworter. Auf der Webseite der Fluggesellschaft fand sie eine Kontaktnummer. Die Frau am anderen Ende der Leitung wollte ihr allerdings keine Informationen über die Passagiere geben, die auf dem Flug an Bord gewesen waren. Sie erklärte lediglich, dass der Flug von Los Angeles nach Zürich gestern planmässig verlaufen sei. Die Dame von der Fluggesellschaft schaute noch nach, ob auch der Flug von Hawaii nach Los Angeles laut Plan abgelaufen sei. Aber auch dieser Flug war ordnungsgemäss verkehrt. Jessica bedankte sich und legte auf.

Sie suchte die Nummer des Hotels in Hawaii, die ihr Vater ihr vor der Abreise gegeben hatte. Der Zettel hing noch immer am Kühlschrank neben den Zeichnungen ihrer Kinder. Beim wählen der langen Nummer vertippte sie sich zwei Mal, beim dritten Versuch klappte es. Die Rezeption meldete sich und der Mann erklärte ihr, dass Mister Oberhofer am Donnerstagmorgen ausgecheckt habe. Die Frage, ob er ein Taxi zum Flughafen genommen habe, konnte er Jessica nicht beantworten, da er zu dieser Zeit keinen Dienst gehabt habe.

Es schien, als sei bei der Rückreise alles planmässig verlaufen. Anders hatte sie es eigentlich nicht erwartet. Sie setzte sich an den Küchentisch, der wie der Rest der Küche in hellem Holz gearbeitet war. Die Küche bot viel Platz zum Arbeiten und Essen. Jessica sass gerne in dem hellen Raum und las die Zeitung, doch im Moment war ihr nicht nachlesen. Sie ging nochmals durch was geschehen sein könnte.

Die Kinder rissen sie aus ihren Gedanken. Sie gestattete ihnen fernzusehen, damit sie weiter nachdenken konnte.

Was konnte sie jetzt noch unternehmen? Sie kam zur Einsicht, dass sie im Moment nichts weitermachen konnte, ausser abzuwarten. Die Zeit reichte nicht aus, um mit den Kindern nach Sumiswald zu fahren und nachzuschauen, ob ihr Vater zu Hause angekommen war. Also entschloss sie erst einmal duschen zu gehen und am Nachmittag zum Hause ihres Vaters zu fahren, wenn ihr Ex-Ehemann die Kinder abgeholt hatte.

Nach der Dusche fühlte sich Jessica fit. Sie stand nackt im Badezimmer und genoss die Kühle, die ihr nach der warmen Dusche wie ein sanftes Streicheln über die Haut kroch. Mit einem Tuch wischte sie den Dampf vom grossen Spiegel über dem Waschbecken, der von drei Spots beleuchtet wurde. Sie betrachtete ihr Gesicht. Die ersten Falten zeichneten sich um die Augen ab, aber das störte sie nicht. Sie fand, dass sie trotz ihrer Sechsunddreissig Jahre noch immer attraktiv aussah. Ihr schwarzes Haar glänzte noch immer ohne graue Strähnen darin und ihre blauen Augen strahlten Lebensfreude aus - trotz der kleinen Falten. Die Haut spannte sich noch immer straff über ihr schmales Gesicht mit den hohen Wangenknochen.

Sie hatte gerade den Föhn eingeschaltet, als es an der Haustür klingelte. Die Kinder rannten kreischend zur Tür. Alle wollten die Tür öffnen und taten dies auch lautstark kund. Jessica warf sich ihren Morgenmantel um ihren schlanken Körper, kämmte sich die Haare in den Nacken und band sie mit einem Gummiband zusammen.

„Opa! Opa! “ hörte sie die Kinder im Flur rufen.

Jessica war verwirrt und erleichtert zugleich. Warum besuchte sie ihr Vater so früh am Morgen und ohne sie vorher anzurufen? Aber glücklicherweise schien bei ihm alles in Ordnung zu sein. Sie beeilte sich und hastete in den langen Flur.

„Es ist Opa“, rief ihr Marco entgegen und machte sich wieder auf den Weg zum Fernseher. Die beiden Mädchen folgten ihm und bestätigten ihr nochmals, dass es Opa sei.

„Hallo Papi, was machst denn du hier? Und wie siehst du denn aus?“, fragte Jessica, die ihren Vater verwundert musterte.

Er sah schmutzig aus. Die kurzen, grauen Haare standen in allen Richtungen vom Kopf ab, Bartstoppeln sprossen und unter den braunen, listigen Augen hatten sich Ringe gebildet. Über der schwarzen Jeans spannte sich ein graues Sweatshirt über den immer grösser werdenden Bauch. Ein dunkler Mantel hing ihm offen über die Schultern und die Füsse streckten in den roten Nike–Turnschuhen. Das entsprach nicht seinem üblichen Erscheinungsbild. So hatte sie ihren Vater noch niemals ausserhalb seiner eigenen vier Wände gesehen. Er legte stets grossen Wert auf ein gepflegtes Auftreten. Etwas, das sie von ihm übernommen hatte.

„Hallo mein Schatz, entschuldige bitte mein Aussehen, und dass ich unangemeldet hier auftauche, aber ich wusste sonst nicht wohin.“ Sie umarmten sich in der Tür.