Herr und Untertan

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Herr und Untertan
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Stefan G. Rohr

Herr und Untertan

Die außergewöhnliche Geschichte einer unbeugsamen Frau

Dieses ebook wurde erstellt bei

Inhaltsverzeichnis

Titel

Herr und Untertan

VORWORT

TEIL 1

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

TEIL 2

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

TEIL 3

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

TEIL 4

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

EPILOG

Impressum neobooks

Herr und Untertan

Die außergewöhnliche Geschichte

einer unbeugsamen Frau.

für Sophie

VORWORT

Dies ist die Geschichte von Viktoria. Und ich habe diese nun aufgeschrieben, denn ich denke, sie ist es mehr als Wert vernommen zu werden. Viktoria ist natürlich nicht ihr richtiger Name, ebenso wenig wie eine ganze Reihe anderer Namen in der Geschichte, welche dann aber doch einem wahrheitsgetreuen Bericht entsprechen könnten, sofern man diesem auf der Grundlage der dargebotenen Erzählung dann auch folgen möchte.

Den Grund für die Veränderung von Namen wird beim Lesen auch schnell erkannt werden können. Denn die wahren Personen, obwohl schon keine mehr von diesen noch unter uns Lebenden verweilt, müssen wie immer unerkannt bleiben. Das ist die Regel bei derlei Geschichten, und an diese möchte auch ich mich beflissen halten. So ist mir nachzusehen, dass ich ganz und gar erfundene Namen hier verwende, und die Herleitung eines persönlichen Bezuges auf alles Wahre somit soweit es geht erschwere.

Ich habe Viktoria auch nie persönlich treffen können, denn ihr Leben endete lang vor meiner eigenen Geburt. Doch ein glücklicher Zufall führte mich mit jemandem zusammen, der ihre Geschichte noch sehr gut kannte, vielmehr sogar darauf gewartet hatte, sie an geeigneter Stelle erzählen zu können. Ich bitte nun auch um Ihre diesbezügliche Nachsicht, dass ich mich geheimnisvoll zurückhalte und jetzt noch nicht konkreter werden möchte. Sie werden das im Laufe der nächsten Kapitel sicher verstehen.

Nun, diesen Jemand traf ich bei einem abendlichen Essen mit Freunden, und ganz en passant, es war gewiss ganz zufällig, hörte ich zum ersten Mal von ihr. Und ich war so fasziniert von dem, was ich über diese Viktoria erfuhr, dass ich mehr wissen wollte. Und so kam es, dass ich nach und nach, über eine ganze Reihe von weiteren Zusammentreffen, immer tiefer in ihr Leben eintauchte.

Nachdem wir zu dem Schluss gekommen waren, dass es nichts mehr zu berichten gäbe, was ich noch nicht wusste, gingen wir auseinander und ich begann für mich zu überlegen, was ich aus all den vielen gehörten Einzelteilen denn nun machen sollte. Ein interessanter Stoff – aber er basierte auf einzelnen Erzählungen und für mich nur schwer zusammenzufügenden Details. Schicksalshaft, dramatisch, traurig und wieder voller Hoffnung und schönster Momente – ja es waren unzählige Farben eines Kaleidoskops, die sich mir in den Erzählungen boten. Fast schon zu bunt, fast schon zu quirlig, und so kam ich nach und nach zu dem Schluss, von einer Verwendung des Ganzen abzusehen. Vergessen aber konnte ich die faszinierende Viktoria aber auch nicht. Da erhielt ich ein kleines Paket mit der Post. Der Absender war mir bekannt, es war der Mensch, welcher mit so viel über Viktoria erzählt hatte. Als ich das Päckchen öffnete, fand ich ein sehr altes Büchlein vor. Und als ich es aufschlug stellte ich fest, dass es ein Tagebuch war. Das Tagebuch von Viktoria.

Es war nicht nur sehr alt, es war auch recht abgegriffen, vergilbt und ganz an den Rändern angeräuchert, so, als wäre es fast einmal einem Brand ausgesetzt gewesen. Es muss tausende Male angefasst, aufgeschlagen und wieder geschlossen worden sein. Einige Blätter waren schon lose und nur an die betreffende Stelle hereingelegt. Die Schrift war winzig klein und stammte aus einer längst vergangenen Zeit. So war es mir nicht gleich vom ersten Augenblick möglich, alles so einfach lesen zu können. Doch mit der Zeit kam ich auch mit dieser Schrift zurecht.

Das Tagebuch datierte auf den 24. Dezember 1883, dem Tag des ersten Eintrages. Es wurde also an einem Heilig Abend begonnen, und es endete irgendwann, einige Zeit später. Aber dieses Datum verrate ich an dieser Stelle natürlich nicht.

Die Aufzeichnungen Viktorias waren die fehlenden Puzzleteile in meinen Überlegungen. Zusammen mit diesem Büchlein und den vielen Erzählungen gab es erstmals einen umfänglicheren Eindruck in alles, was Viktoria erlebt hatte. Und es war so möglich, die Lücken so zu füllen, dass sie dem tatsächlichen Geschehen entspricht oder sehr, sehr nahe kommt.

Und nun möchte ich beginnen. Mit der Geschichte von Viktoria.

TEIL 1

Kapitel 1

Das alte Jagdhaus lag idyllisch inmitten eines kleinen Fichtenwäldchens. Von diesem Ort her gelangte der geneigte Besucher schnell in die sich über weite Flächen ausdehnende Heide. Im Frühling duftete es nach frischem Grün, Wiesenblumen und für einen kurzen Moment stets auch intensiv nach Waldmeister. Im Herbst hingegen war die Luft lange vom Geruch der vielen Pilze erfüllt, die es rundherum zu sammeln gab. Während das junge Jahr bereits vorangeschritten war, sollte es aber noch einiges dauern, bis die passionierten Gesellschaften, mit geflochtenen Körbchen und einem kleinen Messer bewaffnet, in die Pilze gehen konnten. Und das war gut so, denn der Hochsommer hierzulande galt nun einmal als die schönste Zeit.

Dem Gebäude war es noch gut anzusehen, dass es einmal recht hochherrschaftlich daherkam. Damals, als es noch zum Besitz einer mächtigen Adelsfamilie gehörte, strahlte es förmlich vor Gediegenheit und Glanz, dem selbst die erkennbare Zweckmäßigkeit kein Abbruch tat. Seiner Bestimmung folgend war es als Landsitz und für den Aufenthalt stattlicher Jagdgesellschaften entworfen. Traditionell das Ambiente, nützlich das Beiwerk, zu denen die großen Stallungen, die nicht unweit des Hauptgebäudes angesiedelt waren ebenso zu zählen war, wie das separate Gesindehaus, welches so gestaltet war, dass es jeden Förster in Entzücken versetzt haben würde.

Doch schon die adligen Vorbesitzer konnten ihr Besitztum lang vor dem Verkauf nicht mehr dem Sinne entsprechend nutzen. Und der neue Eigentümer, der ehrenwerte Kaufmann Franz-Joseph Kohlhaase, war bar einer derartigen Passion. Das aber sollte nicht der alleinige Grund sein. Für die Jagd war diese Region zwar mehr als geeignet. Rot- und Dammwild, Füchse, Sauen und Fasane oder Hasen gab es genügend. Derlei Veranstaltungen aber waren eben nicht umsonst. Für solches Unterfangen waren viele Goldtaler aufzuwenden. Und es lag dem Kaufmann alles andere im Sinn, sich mit derartigem Luxus nur zum Zwecke der Prahlerei das bereits getätigte Kreditvolumen weiter zu beschweren. So geriet es dann auch dem genauen Auge zu erkennen, dass hier oder dort am einst so ästhetisch wirkenden Bau der Zahn der Zeit nagen würde, es sich nun nicht mehr allein nur versteckte Blessuren zeigten, auch wenn es nicht auf den ersten Blick anheimelte, als wäre der Bau bald schon marode.

 

Die Hausherrin, Katharina Kohlhaase, sie war eine geborene Sonnenberg und stammte aus dem nahen Hamburg, staunte an diesem Tage nicht schlecht, als ihr Gatte ganz unerwartet bereits am Mittag mit seiner Kutsche vorgefahren kam. Sie sah zwar nicht, dass er es offenbar sehr eilig hatte, denn er wartete nicht einmal mehr ab, bis ihm der Kutscher den Tritt herunterklappte, hiernach die Türe öffnend, sprang Kohlhaase in voller Montur doch wie ein tobender Stier aus dem Gefährt und stürmte in das alte Gebäude. Und es genügte ihr ein kurzer Blick in sein Gesicht, als er, sichtlich außer Atem und mit geröteten Wangen, den Salon betrat. Nicht einmal seinen Zylinder hatte er abgenommen.

„Katharina…!“, rief er aufgeregt und sah starr in das fragende Gesicht seiner Frau. Doch er verharrte kurz, denn eines der Dienstmädchen war zugegen und sortierte gerade das Silberbesteckt, welches sie zuvor geputzt hatte.

Der strenge Blick des Hausherren genügte, und das junge Ding machte einen kurzen Knicks in Richtung ihrer Herrschaften und verließ mit eiligen Tippelschritten unter dem blauen Rock mit der aufgebundenen weißen Schürze flugs den Salon.

„Katharina!“, eröffnete Kohlhaase erneut. „Es ist ein Wunder geschehen. Und ich muss Dir dieses sogleich eröffnen, denn fortan soll sich alles zum Guten wenden. Und es gilt nun eine formidable Sorgfalt für Planung und Erledigung um des guten Gelingens wegen an den Tag zu legen“.

Katharina hörte ihrem Mann ruhig zu. Bislang konnte sie sich keinerlei Reim aus seinen Worten stricken. Doch sie wusste sich zurücknehmend zu verhalten, denn sie kannte ihren Gatten schon lang und deshalb nur zu gut. Und er würde es ihr gewiss ohnehin in Kürze und in Gänze zum Verständnis gebracht haben.

Er stand immer noch, stemmte nun aber seine Arme links und rechts in die Hüften, während er dazu seine Brust nach einem tiefen Atemzug durch die Nase hervorstreckte: „Unsere Victoria wird in den Hafen der Ehe segeln. Ich habe es heute um halb elf mit dem ehrenwerten Medizinalrat Dr. Johann Krottenkamp zur Vereinbarung gebracht …“.

Katharina Kohlhaase zog die Augenbrauen hoch. Zum einen war da diese Ansprache, in der ihr Gatte von `ihrer´ Victoria sprach. Denn für Allgemein, und das war in der Regel fast immer, ging ihm ein fröhlicher und liebevoller Singsang bezüglich seiner Tochter nicht über die Lippen. Dann war das Kind stets `Deine´ Viktoria, häufig mit missbilligendem und durchaus als abfällig zu wertendem Unterton. Doch wie er nun daherkam, der Herr Kaufmann mit Zylinder und stolzer Brust, das war dann doch geeignet, der sonst so ruhigen Dame ein wenig Zorn in die Magengrube zu verbringen.

„Du redest so, als würdest Du von einem Geschäftsabschluss über dreißig Fuder besten Pariser oder Grasser Parfüms prahlen“, und sie sah ihren Mann mit ernster Miene an: „Und es wäre mir nicht ungelegen gekommen, einen eigenen Anteil zu halten, wenn ein werbender Pfau sein Rad vor unserer Tochter schlägt, es so zu entscheiden ist, ob wir es gutheißen wollen oder dem Spuk doch lieber ein jähes Ende setzen sollten.“

Nun staunte der Herr Vater nicht schlecht. Welch´ ungewohnt gewagte Worte seiner Gattin. Und hörte er aus diesen vielleicht sogar eine Widerständigkeit heraus, gar eine Missbilligung seines ihm doch als Familienoberhaupt unstrittig gebührenden Handelns? Doch es erschien ihm eher opportun, ganz aus dem Bauchgefühl heraus, in diesem Moment nicht auf seine Rechte des Herrn im Hause zu beharren, sondern das Gute in seiner Nachricht zu betonen, denn scheinbar war dem eigenen Weib der Sinn seines Erfolges noch nicht klar geworden.

So zog er den hohen Hut von seinem Kopfe, stellte diesen auf eine der Kommoden, knüpfte sich seine Weste halb auf und setzte sich mit einem bittersüßen Lächeln auf den Ohrensessel neben seiner Gattin. Dann nahm er die Gesindeklingel und läutete, dabei vermied er es, derlei in ebensolcher Vehemenz und Dringlichkeit zu vollziehen, wie es ihm ansonsten so zu eigen war.

Die junge Dienstmagd war schnell erschienen und stand mit gefalteten Händen und einem leicht gesenktem Kopf vor ihren Herrschaften.

Der Hausherr schaute mit großer Ernsthaftigkeit. „Du warst sehr schnell zugegen“, und er sah dem jungen Ding, das aus irgendeinem Provinznest am Rande der Heide aus bäuerlicher Folge den Weg in die Magdschaft genommen hatte und gerade einmal wenige Wochen im Dienste der Familie stand, strengen Blickes ins Gesichtchen. „Solltest Du vielleicht der Ungeheuerlichkeit des Lauschens gefrönt haben?!“

Die junge Frau schüttelte heftig den Kopf. Das würde ihr nicht im Träume einfallen, bekundete sie eindrücklich, und es war ihr die Angst ins Gesicht geschrieben.

Kohlhaase nahm sich zurück. Es war nun nicht gerade der Moment für eine Schelte, auch wenn er sich mit großer Überzeugung wähnte, das freche Ding sogleich ihrer unverschämten Neugierde überführen zu können, gleich folgend eine gerechte Strafe in Form eines einbehaltenen Wochenlohnes zu verkünden. Doch er gab nur Anweisung: „Bringe uns eine mittlere Karaffe Sherry. Und lasse Dir dabei nicht wieder so viel Zeit, dass es Abend wird, bevor ich mein Glas in Händen halte!“

Als die sich die Türe wieder schloss wendete sich Kohlhaase seiner Gattin zu. Und tatsächlich, ja: er lächelte ein wenig: „Liebe Frau, nun sein nicht primelig. Denn sage mir, dass ich mich irre, wenn ich erneut zu behaupten wage, dass unsere Viktoria in ebensolcher Weise schwierig in den heiligen Stand der Ehe zu bringen ist, wie ein lahmer Gaul die Wetten hält.“

Seine Ehefrau blies nun spontan die Wangen auf. Schon wollte sie sich zu dieser despektierlichen Metapher äußern, doch der Hausherr ließ sie erst gar nicht zu Wort kommen: „Echauffiere Dich nicht, geliebte Frau“, im Tonfall blieb er säuselnd. „Was ist es denn anderes, wenn unser Töchterlein so gebrechlich daherkommt, wie eine Papierfigur, mit Augenringen, als sieche sie schwindsüchtig dahin. Und selbst wenn es einem Aspiranten nicht an Schönheit läge, so forderte dieser dann doch wenigsten die Äußerlichkeiten der Weiblichkeit, ganz wesentlich als Zeichen für das Wohlgelingen seiner Nachkommenschaft.“

Katharina Kohlhaase legte nun ihre kleine Stickerei, die sie bisher in den Händen hatte, beiseite, atmete tief durch und inmitten eines hörbaren Seufzers antwortete sie ihrem Mann: „Franz! Das Kind ist siebzehn…!“

„Übermorgen achtzehn!“, konterte dieser prompt, „und damit im besten heiratsfähigen Alter.“

„Heiratsfähig hin oder her“, erwiderte nun die Mutter, „darum geht es doch gar nicht, Franz-Joseph. Sie ist doch noch ein Kind, ganz auch das unsre. Und kindlich, spielend ihr Gemüt. Und auch ihr Körper, der ohne Zweifel noch im Wachstum steht, Du aber Füllen reklamierst, die erst mit der Zeit gedeihen. Ein Fohlen ist kein lahmer Zosse und Dein Vergleich ganz liederlich. Denn auch ein Schmetterling ward stets erst eine Raupe.“

Kohlhaase lief rot an. Doch bevor er explodieren konnte, klopfte es kurz an der Türe und das Dienstmädchen kam herein. Sie stellte auf einem kleinen Silbertablett die mittlere Karaffe mit dem goldgelben Sherry nebst zwei Gläsern auf den Tisch und schickte sich an, diese zu füllen. Doch der Herr schüttelte den Kopf und machte eine ablehnende Geste. Er würde nun selbst einschenken, und das Mädchen könne sich entfernen.

Als sie wieder alleine waren, schenkte er wortlos die Gläser halbvoll und trank, ohne seine Gattin eines Blickes zu würdigen, den sanften Sherry auf einmal herunter. Dann wischte er sich seine Bartenden mit dem Handrücken sauber und räusperte sich. Das war das Zeichen, dass er sich den Vorrang für die Fortführung dieser Unterredung zusprach.

„Werte Gattin“, eröffnete er gediegen. „Wenn´s Dir beliebt, so will ich einen anderen Vergleich nun nutzen. Nur um Gemüter nicht zu sehr zu regen, doch auch die Deutlichkeit nicht missen lässt. So frag Dich selbst, ganz objektiv, ob Du als Gatte nicht beim Bettgang unter dem Laken lieber eine pralle Frucht als eine krumme Bohne finden möchtest?“, und er schnalzte noch kurz mit der Zunge, denn der Sherry hatte ein süßliches Aroma in seinem Gaumen hinterlassen.

Die Dame des Hauses hatte keinen Zweifel daran, dass diese Richtung ihrer Unterredung weder zweckmäßig noch förderlich verlaufen würde. Und so entschied sie sich, zum Wesentlichen zurückzukehren und weitere Details zu erfahren. Kohlhaase war zufrieden. So war es Recht, denn seine immer einmal wieder zur Aufmüpfigkeit neigende Ehefrau hatte sich unter seinen strengen Blicken eines Besseren besonnen und g´rad kleinbeigegeben.

„Dr. Krottenkamp dringt auf eine baldige Vermählung“, gab er nun zu wissen.

Katharina Kohlhaase begann süffisant zu lächeln: „Nun, dass ist sein Begehr“, und sie sah nun ihrem Gatten ernst in die Augen. „Jetzt sag mir, was Dich so hastig drängt, dem seinen so willfährig zu entsprechen?“

Der Kaufmann Franz-Joseph Kohlhaase war nun an die sechzig Jahre auf dieser Welt, von denen er über fünfundvierzig in einem Handelskontor verbracht hatte und es zu einem nicht unbeträchtlich erscheinenden Vermögen gebracht hatte. Und im Handel, mit Seinesgleichen, nicht selten auch mit basargewohnten Osmanen, knauserigen Schotten, Undurchsichtigen aus dem Reich der Mitte oder den ewig Schacherden aus der Synagoge, war er aus vielen Verhandlungen nun geschult sein Antlitz bei Bedarf weder erröten noch in Fahlheit verfallen zu lassen, denn wer zuerst zuckte, hatte stets verloren. So würde er sich von seiner Holden, seinem Weib und der Mutter seines Töchterleins, nun wahrlich nicht die Butter vom Brot nehmen lassen.

„Es sei allein aus Deinem Stand als Dame dieses Hauses Dir nun doch nicht anzulasten, die g´rad gestellte Frage als wesentlich zu wähnen. Es spricht die ganz bekannte Unkenntnis der alten Regel aller guten Zünfte aus Dir, den Sack dann zuzumachen, sobald er denn gebunden werden kann. Und ratsam ist´s, dass ein Schuster bei seinen Leisten bleibt, ganz so, wie ich es niemals wagte, Dir mit Anweisung oder Besserwisserei Dein Stickwerk zu erklären“, und nun griff er die Karaffe und goss sich erneut ein Gläschen ein, diesmal bis knapp zum Rand gefüllt.

Die Mutter nahm wieder Ihre Stickerei zur Hand und begann behutsam die Nadel zu führen. „Das Zählen von Pfefferkörnen in einem Scheffel ist schon einem Lehrburschen wenig Hürde. Ein Stickwerk zur erschaffen, mit einem Dutzend Fäden schöner Farben, setzte die Fähigkeit des Zählens zum einen, dann aber auch zum anderen die Beherrschung des Gesamten voraus. So sei nur zuversichtlich, lieber Gatte, dass es mich nicht überfordern sollte, Deiner Scheffelkunst verständig folgen zu können.“ Sie machte eine kleine Pause, dann fuhr sie fort und erhob ihre Stimme in einer kaum merklichen, dann aber doch für das Ohr des langjährigen Ehemannes unüberhörbaren Nuance: „Es würde uns beiden sicher weniger Last bereiten, wenn Du mir nun Dein fulminantes Geschäft in Gänze eröffnetest.“ Dann lächelte sie ihrem Gegenüber freundlich ins Gesicht: „Soll ich nach dem Mädchen läuten, damit sie Dir eine weitere Karaffe bringt?“

Da war sie wieder, die unsägliche Ironie und auch deutliche Revolte, von der auch Kohlhaase andernorts Gehör erhielt. Weibsbilder, die sich entgegenzustellen versuchten, sich mit spitzen Frechheiten einmischten und dabei den eignen Stand in der gesellschaftlichen Ordnung marodierten. Und wieder einmal schoss es ihm bitter durch den Kopf, wie sehr er sich doch voreilig hat hinreißen lassen, die fulminante Mitgift des alten Sonnenberg nicht als Blendwerk hinterfragt zu haben. Denn gab es doch mehr als nur ein Zeichen, dass dieser Fuchs wohl ebenso dem Herrn im Himmel dankte, als dessen Zutun, nebst der Mitgift, sein Töchterlein zum Traualtar befahl. Und dem Pfaffen mag es obendrauf gefallen haben, denn sein Klingelbeutel ward an diesem Tage dicker, als es die hohen Feste zweier Jahre in einem erbracht hätten.

Doch fühlte nun Kohlhaase auch just identisch, so gab es doch einen Unterschied, und dieser war dann gleich ganz erheblich. So glaubte er seinen Ohren nicht trauen zu können, als ihm der brautwerbende Krottenkamp bekundete, die üblich Mitgift nicht einzufordern, die Sitte sogar umzukehr´n gedachte. Ganz im Privaten, ohne Aufsehen, den Brautvater derart zu erfreuen, statt berappen zu müssen, selbst ein stattlich Sümmchen einzuheimsen. Und damit dieses nicht zur Tuschelei geneigte, er dieses als Kredit vergäbe, der nie zurückzufordern war. Ein Zuschuss, der nie öffentlich zu reklamieren wäre, der sodann das Erbe im Stillen mehren sollte, und so die ausgeschlagene Mitgift zu späterer Zeit, wenn Gott es dann für geboten hielt, in angemessener Weise ausgleichen würd. Und mit dem Geschick des Herrn Kaufmannes wäre damit auch ein guter Zins wahrscheinlich.

 

Franz-Joseph Kohlhaase rieb sich, während er dem Antrag des Mediziners lauschte, ganz wohlempfindend den Bauch über seiner seidenen Weste. Jeder Taler, den er nicht auszugeben hatte, zählte doppelt. Nun aber, so wie der Vorschlag auf dem Tische lag, enthielt das Geschäft dazu noch mehr als eine Dopplung. Zum eingesparten Taler kamen fünf hinzu, was dann nach seiner Rechnung der Einnahme eines Siebenfachen ergäbe. Für einen lahmen Gaul, ganz fulminant! Und er wäre doch zu verjagen gewesen, ein solches Angebot zu verzögern, um es im häuslichen Reigen mit seiner Angetrauten zu erörtern, die es aus Grundsätzlichkeit heraus womöglich dann gleich ausgeschlagen hätte, ganz eben gleich, wie es sich nun andeutete.

Das Siebenfache aber war allein nicht nur eine verlockende Kalkulation. So gingen die Geschäfte seit einiger Zeit doch eher schleppend. Die wirren Jahre, in denen Krieg und Unruh seinen Handel doch stets so wohltuend befeuert haben, waren vorbei. Mit dem Abzug des Pulverdampfes schwand auch ein großer Teil der schönen Geschäfte, in denen der befähigte Kaufmann sich mit besten Preisen verständigen konnte, ohne sich dabei dem Verdacht der Wucherei aussetzen zu müssen. So kaufte er noch manches Gut mit gerad´ noch üblich hohen Werten, der spät´re Absatz dann von Mal zu Mal noch nicht einmal den Einkauf mehr egalisieren konnte. Das Risiko des Handels war dem alten Schacherer nicht unbekannt, hier und dort auch mit Verlust zu leben, war Teil der Profession und somit nicht zu beklagen. So zählte beim Schließen der Bücher stets die Summe unterm Strich und damit gleich der Lehrsatz, dass Handel zwar vom Geben und Nehmen lebte, der Kaufmann am End´ des Tages nur beim Nehmen sich im Vorteil finden müsst.

Nun aber schien der Teufel schon viel zu lange große Freud´ daran zu haben, den Lehrsatz umzukehren und dem umtriebigen Kaufmann mehr Taler aus der Tasche zu ziehen, als dieser im Stande war im Sack zu deponieren. Und wäre dieser Umstand leichtsinnig im Kontor besprochen, die Konkurrenz gar alarmiert, dann wäre Kohlhaase den ehrenwerten Stand des Hanseatischen Kaufmannes verlustig geworden und besetzte alsbald eine Zelle im Schuldturm. So sorgte er sich mit zunehmenden Stirnfalten um Liquidität und Leumund, und wenn er an das fahlhäutige Töchterlein dachte, so grauste ihm vor der Pflicht der Zahlung einer Mitgift, die flüssig dann wohl nicht mehr vorhanden wäre.

Wem ist´s dann zu verdenken, die lukrative krottenkampsche Wendung als ein `Wunder´ zu verstehen, denn war´s was anderes als göttliche Fügung? Und wäre es nicht gleichzusetzen mit sündhaft Frevlerei, dem Willen des Herrn zuwider zu handeln, im Gegenzuge als Lohn ins Fegefeuer oder gar in die Verdammnis einzufahren? Der lahme Gaul geriet zum Retter. Ganz ohne eigenes Wissen und statt schmachvoller Insolvenz, ließe sich die Verheiratung des lieben Töchterleins verkünden, und niemand hegte einen Verdacht, dass statt die Mitgift auszuschütten sich der Brautvater einer stattlichen Einnahme erfreuen konnte.

So geriete es ihm dann gleich auch zweifach zur Ehre, da ein Jeder ganz selbstverständlich die Mitgiftleistung unterstellt, den Zufluss ins Geschäft und die Abwehr des Ruins nicht durchblicken würd. Das nun aber dem angetrauten Frauenzimmer zu offenbaren, käme einer nicht mehr heilbaren Selbsterniedrigung gleich. Und würde er nun der holden Gattin ganz großzügig von einer reduzierten Mitgiftpflicht berichten, so könnte er sich abermals als fähiger Kaufmann bewiesen wissen und das `Wunder´ allein darauf beschränken, den unverkäuflich lahmen Gaul in den dauerhaften Beritt an einen neuen Besitzer übereignet zu haben.

Und als dann die Karaffe von ihm halb geleert ward, schloss er seine Unterredung mit seiner Gattin wie folgt: „Es liegt mir fern, Dich am Ende aller Worte um Einverständnis ersuchen zu müssen. Zu offen liegt die Vorteilsnahme auf unserer Seite, und das Kind hat Folge zu leisten, wenn der Familienrat getagt, das Oberhaupt entschieden hat. Es ist somit genug des getanzten Sprachreigens. Und als Popanz gedenke ich mich gewiss nicht zu erweisen. Gleichwohl vernahm ich Deine Anmerkungen, und ich ehre diese, denn es ist das mütterliche Herz, das aus Dir spricht. Doch wo stünde uns´re Welt, wenn Mütter uns regierten? Kopfüber wanderten wir durch derlei Zeit. Geschäfte obliegen nicht ohne Grund den Herren, und Vaterherzen lieben auch, nur führt Vernunft und Logik uns auf guten Wegen. So ist´s zum Besten für uns alle, und die Tochter wird es uns bald danken, Gattin – und sicher auch bald Mutter unserer Enkel – eines ehrenwerten Mediziners in bester Vermögenslage geworden zu sein.“

Kohlhaase griff abermals die Karaffe und goss ein weiteres Glas randvoll. Auch zückte er eine Zigarre, welche er in bester Vorausschau eingesteckt hatte, um diese zum gegebenen Zeitpunkt zu entzünden. Als er sie aus seiner Anzugtasche zog, war er bemüht den dort ebenfalls deponierten ersten Anzahlungsscheck des Doktor Krottenkamps nicht versehentlich auch gleich dazu ans Tageslicht zu befördern. „Nun füg Dich besser ein, liebe Frau. Und es steht für Dich nun an, dem Kinde schonend beizubringen, dass der Traualtar ihr winkt, Verlobung nächste Woche gefeiert wird, die Hochzeit dann in der Adventszeit erfolgt.“

In diesem Moment sprang die Türe auf. Hastig und mit leicht geröteten Wangen stürmte ein junges Fräulein in den Salon. Es hatte den Vormittag im Stall mit der Pflege ihrer beiden Pferde verbracht und war hiernach in die Heide geritten, hatte die Pferdchen nacheinander über Hürden springen lassen, war galoppiert, in den Trab gewechselt und vor Einkehr in den Heimatstall die Tiere im Schritt zur Ruhe kommen lassen. So trug sie dann noch das Reitkleid und die Stiefel, den kleinen Hut hingegen hatte sie in der Eingangshalle deponiert, denn sie gedachte nach dem Mittag zurück in den Stall zu gehen.

„Verehrter Papa, Sie sind schon da?!“, rief Viktoria erstaunt aus, als sie ihren Vater zu dieser Zeit im Salon sitzend vorfand, „… ich wusste ja nicht …!“

Der Vater erhob sich aus seinem Ohrensessel: „Schon gut, liebe Tochter. Ich hatte etwas sehr Wichtiges mit Deiner Mutter zu besprechen. Wie ich sehe, warst Du erneut in den Stallungen und bist dem Gesinde zur Hand gegangen.“ Sein Blick versteinerte sich wieder: „Nun, ich werde mich heute aus gutem Grunde nicht abermals dazu einlassen. So fröne dann noch ein wenig Deiner Marotte. Und nun setze Dich zu Deiner Mutter. Sie hat etwas mit Dir zu bereden.“ Mit einigen kurzen Schritten ging dieser sodann zur Kommode und dem daraufgestellten Zylinder, dann eilte der Hausherr durch die selbe Tür, durch die sein Töchterlein gerade herein gekommen war. Er vermied es dabei tunlichst in das verdutzte, zudem auch sichtlich besorgte Gesicht seines eigen Fleisch und Blutes zu schauen. Die Tatsachen waren geschaffen, nun galt es nur noch diese zielstrebig zu vollenden. Und Franz-Joseph Kohlhaase wäre nicht er selbst, wenn ihm das Vorhaben, aus welchem Grund auch immer, jetzt noch aus der Hand gleiten sollte.

Gefasst, jedoch mit innerlich ganz beschwertem Herzen, tat die Mutter nun, was ihr soeben aufgetragen ward. Und obwohl es ihrer Rede wohltuend an langen Ausschweifungen um den heißen Brei mangelte, diese vielmehr kurz und knapp das Wesentliche zur Verkündung brachte, ließ sie nichts an mütterlicher Sanftheit und fürsorglicher Wortwahl missen.

Der Tochter kam es dennoch wie in einem Alptraum vor. So ritt sie nur wenige Augenblicke noch zuvor durch die herrliche Heide, in Gänze frei und unbedarft, mit spielerischer Leichtigkeit die Pferdchen über Gräben getrieben, sich auf der Lichtung ausgeruht, den Rücken liegend zur Erde gewandt, die Blicke in den Himmel gerichtet, geträumt und dem Wolkenzug die Freiheit neidend, danach jedem Wölkchen eine Figur entnommen, gestaltet vom Schöpfer, ganz zu ihrer Erbauung und Unterhaltung. Und sah sie derweil nicht auch wieder den Vögeln hinterher? So, wie sie es fast immer tat? Sah den Bussard schweben, auf seinem Weg zur Jagd? Und verirrten sich dabei nicht erneut ihre Gedanken um die Herrlichkeit des Fliegens, welche dem Menschen so bitter versagt blieb? Wär sie nur allzu gern mit ihnen mitgeflogen, wie oft war dieser Wunsch in ihr. Wie lange war die Sehnsucht in den Lüften zu fliegen schon in ihr! Für das, was Daidals und Ikarus für kurze Zeit vermochten, wär´ sie bereit das Schicksal gleich zu nehmen und in die Tiefe dann zu stürzen, denn jede Sekunde im Fluge stünde höher im Wert als ein ganzer erdgebundener Tag. Und so war sie oft tief in Gedanken, mit großer Phantasie sich Pläne zu entwerfen, wie es den Menschen im Luftraum hielte, und wenn´s nur für Momente sei. Was nur war ihr Geheimnis? Das der Vögel, der Schmetterlinge, der Libellen und auch selbst der Käfer?

Doch jäh erstarb jetzt die gerade noch leuchtend´ gewesene Zukunft, die Jugend und die Leichtigkeit, denn Gattin sein zu müssen, war bisher in ebensolcher Ferne, wie ein wundersamer Wuchs von Schwingen auf ihrem Rücken. Sie hörte das Gesagte zunächst mit ungläubiger Ruhe, doch als sie kurzerhand begriff, dass es beschlossene Sache war, brach sie in Tränen aus und hielt sich verzweifelt die blassen Hände vor ihr Gesicht. Und es schüttelte sie, so sehr krampfte die Tochter beim Weinen, dass die Mutter nicht umher kam, nach dem Mädchen zu läuten und dem bemitleidenswerten jungen Fräulein ein kühles Glas Wasser bringen zu lassen.