Das Kontingent

Tekst
0
Recenzje
Przeczytaj fragment
Oznacz jako przeczytane
Czcionka:Mniejsze АаWiększe Aa

6

Das kühle, helle Gebäude strahlt eine gewisse Überlegenheit aus. Vielleicht besonders wegen seiner klaren Strukturen und geraden Linien, einer Architektur, wie sie durch alle Zeiten hinweg dem Betrachter Respekt abgewonnen hat. Seine wechselhafte Geschichte aber sieht man dem monumentalen Bau kaum an. Junge Bäume ergänzen die Fassade und stehen in ordentlicher Reihe wie Soldaten in Reih und Glied davor. Die helle Pflasterung der Gehwege und des Vorplatzes lassen dem Komplex zudem fast neu erscheinen und der Vorbeigehende wird die dunkle Vergangenheit so kaum noch erahnen können. Das `Haus am Werderschen Platz´, inmitten von Berlin gelegen, trägt dazu einen einfachen Namen und verbirgt auch auf diese Weise sein Gewicht in seiner Bedeutung und Nutzung.

In einem der eher abgelegenen Seitenflügel befindet sich einer der vielen Konferenzräume. In einem kleineren von diesen steht in der Raummitte ein ovaler Kirschholztisch. Zwölf elegante schwarze Lederstühle, mit fast zierlich wirkenden Chromgestellen, sind ordentlich angereiht und bilden einen förmlichen Ring um den polierten Tisch. Übergroße Ölbilder mit abstrakten Motiven kleiden die Wände und geben dem ganzen Raum eine kühle, moderne Atmosphäre.

Gerade hatte noch der zuständige Servicemitarbeiter Kaffeekannen, Wasser, Säfte und Geschirr platziert. Süße Kuchen hat er zudem aufgedeckt, dazu Pistazien und einen Teller Datteln. An der Seite steht ein silberner Teewagen, auf dem ein kunstvoll hergestellter, gehämmerter Samowar steht.

Als die drei Herren den Raum betreten, hat das Wasser die korrekte Temperatur. Sie setzen sich an den großen Tisch und sehen daran fast ein wenig verloren aus. Aber einen kleineren Raum wollte man dann auch nicht wählen. Der Servicemann reicht dem einen von ihnen ein Teeglas und schenkt aus. Danach gießt er den beiden anderen Sitzenden Kaffee in die Tassen, schaut kurz – dann erhält er ein fast unmerkliches Nicken als Zeichen, dass er jetzt gehen kann. Geübt wendet er sich um und verlässt den dezent beleuchteten Raum, der von einer Klimaanlage sanft flüsternd temperiert wird. Hinter sich schließt er die schwere Türe, die federleicht ins Schloss fällt.

Die Anwesenden sprechen kaum, sie haben jeweils ihr Glas oder ihre Tasse in der Hand und trinken bedächtig deren Inhalt. Einer von Ihnen sitzt auf seiner Tischseite alleine. Seine beiden Gegenüber haben zwischen sich zwei Sessel Platz frei gelassen. Die freundliche Geste eines der beiden in Richtung ihrs Gastes, die diesen auf die bereitgestellten Köstlichkeiten auf dem Tisch hinweisen soll, lehnt dieser jedoch mit einer kurzen Handbewegung freundlich dankend ab.

Dieses Treffen heute ist nur eine informelle und kurzfristig anberaumte Sitzung, die man außer Protokoll vereinbart hat. Die beiden Gastgeber sind allerdings nicht allzu erfreut, dass sich ihr Vorgesetzter breitschlagen ließ, diesem Gespräch auf die Schnelle zuzustimmen. Die Diplomatie aber verlangt es, dass auch solche Treffen, trotz der Absehbarkeit völliger Ergebnislosigkeit, unter Wahrung der protokollarischen Mindestanforderungen wahrgenommen werden. Alles natürlich in bestem Tone.

Das ist auch dem einzelnen Herrn klar. Er ist schon zu lange `im Geschäft´ und diese beiden Subalternen, die ihm so freundlich und dennoch offensichtlich desinteressiert gegenüber sitzen, sind eher als Beleidigung zu deuten, denn als ein Akt der offensiven Auslandsdiplomatie seines heutigen Gastgeberlandes.

Dr. Bashir Faruq hatte Rechtswissenschaften in Cambridge sowie Politikwissenschaften an der Sorbonne in Paris studiert und war früh in den diplomatischen Dienst Algeriens getreten. Als geborener Syrer und Angehöriger einer einflussreichen Assad-nahen Familie, hatte er sich entgegen aller Ratschläge und angedrohten Repressalien entschieden, einen eigenen Weg zu gehen, der in jedem Fall seinen Lebensmittelpunkt nicht in Syrien haben sollte.

Mit seiner griechischen Frau lebt er seit langer Zeit überwiegend in Kairo und hat sich über die Jahre dort und in der arabischen Welt einen Namen als ausgeglichener Diplomat, Ratgeber und besonnener Interessenvertreter bewiesen. Er war damals noch jung, als er seine Stellung im Generalsekretariat der Arabischen Liga einnahm. Schnell aber konnte er sich mit großer Anerkennung zu einem von denen entwickeln, die man allgemein so gern als „Graue Eminenzen“ bezeichnet. Größen, die nicht im Rampenlicht stehen, sondern vielmehr die Geschicke aus den verdeckten Reihen lenken.

Sein heutiges Alter von Mitte Fünfzig sieht man dem sportlichen, schlanken Mann nicht an. Sein voller Bart ist zwar fast zur Gänze ergraut, seine schlichte Eleganz, sein agiler, dennoch stets akkurater Gang lassen ihn deutlich jünger wirken. Faruq ist sich dessen durchaus bewusst. Er unterstützt das – nicht ohne Selbstgefallen – durch gedeckt wirkende italienische Maßanzüge und geschneiderte Hemden aus ägyptischer Baumwolle, deren Ärmel er mit immer wechselnden weißgoldenen, nie aber aufdringlichen Manschettenknöpfen zu schließen pflegt. Er ist an seine Wirkung längst gewöhnt, auch, dass sich schnell über ihn unterhalten wird, wenn er den Raum betritt. Vor allem sind es die Damen der Gesellschaft, die nicht selten auch einen zweiten Blick in seine Richtung wagen.

Dr. Bashir Faruq hat um einen kurzen Abgleich mit dem Auswärtigen Amt der Bundesrepublik Deutschland gebeten, da es jüngst zu einer massiven Gewaltwelle der Terrorgruppe des sogenannten `Islamischen Staates´ in den besetzten und anreihenden Gebieten – vornehmlich in Syrien – gekommen ist. Er ist sich darüber bewusst, dass er nur die Rolle eines Lageberichterstatters damit erfüllt, denn die Reaktionen der Länder, die er neben der Bundesrepublik Deutschland ebenso besucht und informiert, sind identisch. Es erfolgt ein höflicher Empfang und aufmerksam scheinende Diplomatie Vertreter, die sich nach dem Gesprächsende zurück an ihre Schreibtische setzen und für ihre Chefs, und indirekt vielleicht noch einige drittrangige Gremien, einen kurzen Bericht verfassen.

Die Gespräche sind somit meist von unbedeutender Länge. So auch heute. Auf dem Dienstplan des für ihn am heutigen Tag zuständigen Fahrdienstes steht deshalb auch: „Warten“. Das bedeutet, dass nach spätestens vierzig Minuten der Gast wieder abfahren wird. Eine knappe halbe Stunde Gespräch, der Rest ist Wegezeit und Abwicklung. Faruq nimmt das schon lange mit der ihm gegebenen Gelassenheit und mit dem schönsten diplomatischen Lächeln, dass man gegenüber den unteren Rängen aufzubringen hat. Seine Zeit in Saudi Arabien, seine orientalischen Wurzeln und seine exzellenten Umgangsformen lassen ihn das in höchster Professionalität erledigen.

Wie erwartet ist das heutige Zusammentreffen nach kurzer Zeit beendet und Faruq wird zum Ausgang begleitet. Der Fahrer in der schwarzen Limousine hat Anweisung, ihn in den Bereich des Berliner Flughafens zu fahren, in dem das diplomatische Korps gewöhnlich abgefertigt wird. Faruq aber bittet den Fahrer, dass dieser ihn noch kurz zu dem syrischen Restaurant `Saliba´ fährt. Er möge ihm doch die Freundlichkeit erweisen, dort nochmals eine halbe Stunde vor der Tür auf ihn zu warten. Erst dann müsse er zum Flughafen. Faruq hält ihm dazu gleich einen Zettel hin, auf dem die Anschrift des Restaurants geschrieben steht.

Eine solche Bitte ist nicht abschlagbar, das weiß auch der Diplomat. Und so steuert der Chauffeur mit der Bordnavigation das neue Ziel an. Faruq ist sich darüber im Klaren, dass das Navi gleich bei Rückkehr des Fahrzeugs im Fuhrpark des Auswärtigen Amtes ausgewertet werden würde. Sie werden aber nur denken, dass er einfach Hunger gehabt hätte und eine Küche bevorzugt haben wird, die seinen Gewohnheiten entsprach.

Im Restaurant wird er bereits erwartet und mit einem kurzen Nicken begrüßt. Man führt den wichtigen Gast ohne zu sprechen unmittelbar in einen der hinteren Räume des Lokals. Es riecht hier nach starkem arabischem Mokka und nach orientalischen Gewürzen. In dem kleinen Raum sitzen vier junge Männer um einen runden Tisch. Als Faruq hereinkommt, springen sie auf und senken in großer Ehrfurcht ihre Köpfe zum Gruß. Faruq spricht sie auf Syrisch an und bittet, fast etwas peinlich berührt, dass sie doch gleich wieder Platz nehmen sollen. Der Mann, der ihn hereingebracht hat, serviert dem neuen Gast einen stark gesüßten Mokka.

Die jungen Männer sind sichtlich nervös und die Kürze der ihnen zur Verfügung stehenden Zeit scheint sich auch noch erschwerend auszuwirken. Faruq versucht ein paar wenige Worte zu ihrer Beruhigung zu formulieren, kommt dann aber schnell auf den Punkt. Er berichtet ungeschönt über die massiven Kämpfe und die Massaker des IS an der zivilen Bevölkerung. Er stützt sich dabei auf Berichte und Aussagen, die er so oft wie möglich einfordert und deren Aktualität – es geht nicht besser – eine Zeitverzögerung von mindestens vierundzwanzig Stunden aufweisen. Manchmal leider auch deutlich mehr. Das müsse jeder wissen.

Er gab den Vieren eine Internet-Adresse bekannt, deren Inhalt von seinen persönlichen Mitarbeitern erstellt und gepflegt wird. Auf diesen Seiten werden die Namen der Toten und Vermissten aktuell aufgeführt. Faruq wisse, dass diese Information in dieser Form eine fast unerträgliche Härte bedeuten würde, aber sie schaffe Klarheit. Er bat die Anwesenden, diesen Link unter keinen Umständen an andere zu geben. Sie sollten sich vielmehr den Freunden und Mitgliedern in ihren syrischen Gemeinschaften anbieten, eine sichere Recherchequelle nutzen zu können und so Dritte ausschließlich indirekt informieren.

Er können im Moment nicht mehr machen, und die Lage spitzt sich leider immer mehr zu. Mit jeder neuen Ölquelle, die in die Hände des IS und deren sadistischen Mörderbanden fallen, bekäme der Terror Auftrieb und würde stärker, Geschäfte mit skrupellosen Spekulanten zu machen. Geschäfte, über die es dem IS dann möglich ist, Waffen und modernere Kampfausstattungen zu kaufen. Ein Kreislauf, der zurzeit immer größere Dimensionen einnimmt und bei dem die Weltgemeinschaft leider allzu tatenlos zuschaut.

 

Die vier jungen Männer können kaum atmen. Fassungslos hören sie die Worte und Schilderungen des Diplomaten. Sie sind heute hierhergekommen, aus Köln, Frankfurt und Hamburg, hoffend, einen Silberstreif am Horizont mitnehmen zu können. Die Hoffnung, es wende sich zum Guten. Faruq steht auf, denn es mahnt ihn jetzt zur Eile. Er schüttelt den jungen Männern die Hände und spricht ihnen ein wenig Mut zu. Sie sollen nicht nachlassen, an ihr Land zu glauben, sich vorzubereiten, für eine bessere Zukunft.

Und er sieht dabei allen fest in die Augen, auch dem jungen Mann ganz rechts von ihm, Sharif al-Basir. Dann dreht er sich um und verlässt wieder den Raum.

7

Ich habe mir eine meiner alten Langspielplatten aufgelegt und höre ein Violinen Konzert. Ich lausche gebannt dieser eindrucksvollen Musik und es begeistert mich jedes Mal aufs Neue, wie mich die enorme Virtuosität des Geigers fesselt. Heute ist es nicht viel anders, allerdings schweifen meine Gedanken immer wieder ab.

Mir schwirren immer wieder dieselben Dinge durch den Kopf. Fragen, auf die ich keine Antwort finde, so sehr ich mich auch anstrenge. Für mich ist es ein großes Rätsel, wie Kalli, ein unbedeutender Kleinunternehmer in einem Hinterhof in Altona, an eine Palette mit echtem Geldscheinpapier – und dann auch noch von höchster Italienischer Notenstelle – gekommen ist. Selbst für den Fall, dass sich diese Tatsache irgendwie logisch erklären ließe, es bliebe immer noch offen, warum er diese Lieferung so viele Jahre in seinem Lager stehen ließ. Es ist doch davon auszugehen, dass mit einer solchen Ware doch in irgendeiner Weise ein Auftrag verbunden sein musste. Es müssen Dokumente unterzeichnet worden sein, denn echtes Geldpapier wird doch nicht einfach ohne Formalien übergeben und kann hiernach unbemerkt und verwaist in einer Kleindruckerei liegen bleiben. Wenn Kalli also offiziell an das Material gelangt ist, dann hätte es auch eine ebensolche offizielle Abholung oder Verwendung geben müssen. Unser Kalli aber als staatlich beauftragter Gelddrucker? Nicht einmal in seinen besten Zeiten wäre das denkbar gewesen. Diesen Aspekt kann ich ausschließen. Und das macht es nicht gerade einfacher.

Wenn nicht offiziell, dann vielleicht – innoffiziell? Ist es möglich, dass Kalli in dunkle Geschäfte verwickelt war? Sollte er vielleicht nur Drucken? Wurde ihm deshalb das Papier zugeliefert, über vielleicht kriminelle Kanäle? Auch das scheint mir, nach einigen Abwägungen, mehr als unwahrscheinlich. Schließlich wäre dann auch diese Art der Unternehmung zu einem Ergebnis gekommen oder das Papier wäre auf dem gleichen Wege wieder an den Absender zurückgegangen. Der Stapel aber war noch da. Und wie zu vermuten steht, auch weitgehend unbenutzt.

Das Konzert ist jetzt an einer meiner liebsten Stellen und ich versuche, auf die Musik zu achten. Doch in meinem Kopf dreht es sich mit zunehmender Geschwindigkeit weiter. Fakt ist, dass Kalli das Geldscheinpapier weder vernichtet, noch abgegeben hat – eine Verwendung, insbesondere in größerem Umfange, zudem nicht erkenntlich ist und damit auch eher auszuschließen ist.

Ich stehe auf und gehe nervös in meinem kleinen Wohnzimmer auf und ab. Es muss für diesen anständigen Mann einen Grund gehabt haben. Offen bleibt bei dieser Feststellung aber immer noch die Frage, warum er denn, eben gerade als so redlicher Mann, das Papier nicht den Behörden zugeführt, zumindest dann aber vernichtet hat. Warum hat er, um Himmels Willen, die Palette aufbewahrt und versteckt? Hat er die Existenz dieses brisanten Materials vielleicht irgendwann einfach vergessen? Letzteres ist aber hoch zweifelhaft.

Ich gehe meine Gedanken wieder und wieder durch. Ich öffne mir eine Flasche Weizenbier und gieße den Inhalt vorsichtig in das Glas, das ich fast waagerecht vor mir halte. Ich schenke langsam ein, damit die Schaumkrone nicht überläuft. Wird Kalli vielleicht …. nein, den Gedanken kann ich doch nicht wirklich weiterverfolgen, oder? Aber er drängt sich mir weiter auf und wird sekündlich massiver: Hat Kalli das Papier durch irgendeinen Zufall in die Hände bekommen und dann tatsächlich aufbewahrt, um Falschgeld herzustellen? Nur einfach später, wenn Gras über etwas gewachsen ist? Hat er etwas vorbereitet, stand er vielleicht schon vor einer Produktion? War die finanzielle Schlinge um seinen Hals gerade so eng geworden, dass er bereit gewesen war, ein Verbrechen zu begehen? Eines, das ein aus seiner Sicht vielleicht nur geringes Risiko beinhaltet, da das echte Papier von einem wirklichen Könner bedruckt werden würde, die Blüten damit sicher zu den Besten gehören würden, die jemals hergestellt wurden? Wenn ich nicht komplett daneben liege, dann wird es in Kallis Betriebsstätte doch noch mehr zu finden sein. Belege und Indizien für meine gegenwärtig noch lose Theorie.

Viele Plätze, an denen gesucht werden müsste, gibt es nicht. Es kommen demnach nur zwei Orte in Betracht: seine Wohnung oder seine Druckerei. Die Wohnung kann ausgeschlossen werden, diese wurde ausführlich gesichtet. Bleibt nur die Druckerei. Am liebsten würde ich jetzt sofort aufspringen und mich genauestens umschauen. Ein wenig schäme ich mich aber auch bei diesem Gedanken. Allein wäre das ohnehin verdächtig. Ich beschließe, die anderen über meine Gedanken zu unterrichten.

Kurz darauf sitzen Fredo, Ruprecht, Fritz und Willi in meinem Wohnzimmer. Sie hören aufmerksam meinen Gedankenspielen zu und als ich ende, herrscht lähmende Stille. Fredo schaut aus dem Fenster. Ruprecht hat die Augen geschlossen und seinen Kopf nach hinten in den Nacken fallen lassen. Willi futtert meine letzten Salzstangen, die ich auf den Tisch gestellt habe.

Ruprecht eröffnet: „Sehr scharfsinnig, mein Lieber! Kompliment.“ Er setzt sich aufrecht im Sessel hin und fährt fort: „Du könntest wirklich Recht haben. Auch wenn wir alle unseren Kalli als integren und aufrichtigen Mann gekannt haben, so würde ich bei allen Fakten auch nicht meine Hand dafür ins Feuer legen, dass er es nicht wenigstens versucht haben wird.“

„Ich hätte es auch getan!“ murmelt Fredo. „Und deshalb denke ich, dass wir uns mal auf die Suche machen sollten.“

„Suche? Wonach?“ fragt Willi kauend.

Wir schauen uns an. Ja, wonach eigentlich?

Ich bin aufgestanden und will mich aufmachen. „Das werden wir sehen, wenn wir es gefunden haben.“

„Was ist mit Marta und Julius?“ fragt Ruprecht.

Ich kann beruhigen: „Die sind gerade los. Zum Friedhof. Ich gehe davon aus, dass Sie mindestens zwei Stunden unterwegs sein werden.“

Fredo denkt bereits schon wieder strategisch: „Wir brauchen noch einen Alarmposten.“ Er schaut in die Runde. Fritz meldet sich. Er hatte bislang nichts zu alledem gesagt. Er würde sich vor dem Haus postieren und uns warnen, wenn Marta und Julius zu früh wieder zurück sein sollten.

Wir anderen eilen militärischen Schrittes in die Druckerei und ich habe Mühe, mitzuhalten. Fredo kommt als Erster an. Er steht im Raum, schaut sich um, hat dabei eine Hand am Kinn und murmelt vor sich hin.

„Hmm! Wenn ich Kalli gewesen wäre …“

„… dann wärst Du jetzt in einer Urne auf dem Friedhof.“ kontere ich. In mir wächst die Ungeduld und plötzlich bin ich es, der Anweisungen erteilt: „Los, fangen wir an. Zwei links, ich rechts. Und Ruprecht bleibt an der Tür zum Aufpassen.“

Fredo schaut erstaunt: „An Dir ist ein Decks Maat verloren gegangen.“ meint er sodann recht spöttisch, ist aber bereits dabei überall herumzustöbern.

Ich weiß nicht, wonach ich suchen soll. Ich vertraue auf meinen Instinkt – nein, wohl besser auf mein Glück, denn ein Kriminologe war ich noch nie. Fredo ist recht geschickt, denn er sucht erst gar nicht oberflächlich, sondern er schiebt gleich die Sachen in den Regalen hin und her und klopft auf die hinteren Wände, ob diese vielleicht hohl wären. Er ruft mir zu, dass er sich bei seinen Matrosen an Bord auch immer damit hervorgetan hätte, bei den Kabinendurchsuchungen jedes Mal gewusst zu haben, wo die Jungs ihr Haschisch oder das Kokain-Briefchen versteckt haben würden. Ich tue mich hier ganz offensichtlich deutlich schwerer damit, in den Sachen eines toten Freundes nach Dingen zu kramen.

Im hinteren Bereich steht eine kleine blaue Werkbank. Diese hat einige Schubladen, die ich nun nacheinander aufziehe und hinein schaue. In der ersten finde ich verschiedene Zangen und einige Hämmer, z.T. mit einer weichen Schlagauflage. Eine Schublade tiefer ein vollständiges und sehr ordentlich gepacktes Sammelsurium von Gummiplatten unterschiedlichster Stärken. In der letzten Schublade liegen einige Bleistifte und Blöcke und ein großes Schlüsselbund mit alten Bartschlüsseln. Alles nichts Besonderes, so schließe ich die Lade wieder, um an anderer Stelle weiterzusuchen. Doch es gelingt mir irgendwie nicht so recht, diese wieder in ihre Ausgangsposition zurückzuschieben. Etwas hakt und ich probiere es noch einmal, jetzt mit etwas mehr Kraft. Es hakt immer noch und ich versuche es mit hörbarer Gewalt.

„Wo rohe Kräfte sinnlos walten … Was rüttelst Du denn da?“ fragt Fredo leicht genervt.

Ich verzichte darauf, ihm eine Antwort zu geben und probiere es erneut. Ich möchte diese Schublade auch nicht halboffen zurücklassen. Ich fasse vorsichtig hinein und taste, ob ich etwas finden kann, dass sich vielleicht verklemmt hat. Man kennt das von Besteckschubladen. Ich finde aber nichts, will schon aufgeben, da fasse ich von innen hinter die Rückseite der Lade. Dort klemmt in der Tat etwas. Es scheint aber auch irgendwie festgeklebt zu sein.

„Fredo, es könnte ein …“ ich habe das Ding jetzt zwischen den Fingern und ziehe es aus der Schublade hervor, „…Schlüssel sein!“

Fredo guckt verdutzt zu mir herüber.

„Schau mal.“ sage ich ruhig in seine Richtung. „Was hältst Du davon?“

„Das wird irgend ein verlorengegangener Schlüssel sein.“ sagt er mit offensichtlich vorgetäuschter Langeweile. Seine Spannung aber ist deutlich in seinen Augen zu lesen.

Der Schlüssel scheint mir etwas ungewöhnlich und deshalb schaue ich ihn mir doch noch genauer an. Auch als Laie kann ich auf den ersten Blick erkennen, dass es ein Sicherheitsschlüssel ist, einer von denen, die man nur mit Schlüsselschein nachmachen lassen kann. Er hatte zudem eine rote Schutzkappe aus Plastik, die über den Schlüsselkopf gezogen war. Auf dieser war eine Zahl eingeprägt.

Fredo grabscht zu und reißt mir den Schlüssel aus den Fingern. „Mensch, das ist sicher nicht der Klo-Schlüssel. Sieht mehr danach aus, dass er eher zu einem besonderen Schloss passt.“ Er dreht das Objekt langsam im Licht hin und her. Nach wenigen Sekunden vermutet er die Lösung: „Wenn mich jetzt nicht alles täuscht, dann ist das ein Schließfachschlüssel.“ Er zeigt auf den Kopf des Schlüssels. „Hier – da ist die Prägung mit der Nummer. Siehst Du? Nummer 1220!“

Auch Ruprecht steht jetzt bei uns und schaut auf den Schlüssel. Fredo ist sich mit seiner Analyse absolut sicher. „Schließfachschlüssel, eindeutig! Ich kenne die Dinger aus hunderten von Häfen. Darauf kannst Du wetten. Bleibt jetzt die Frage, zu welchem Schließfach er passt. Hast Du noch mehr gefunden?“

Ich bin noch ziemlich verdutzt. „Nur den Schlüssel.“ antworte ich und zucke mit den Schultern.

Fredo entscheidet, dass wir uns alle wieder zusammenfinden sollten und so gehen wir gemeinsam erneut zu mir in meine Wohnung und nehmen unsere alten Plätze ein.

Ruprecht stellt die entscheidende Frage: „Wo gibt es Schließfächer, Jungs?“

„In der Bank!“ antworte ich prompt.

„Richtig!“ sagt Fredo. „Aber Schließfachschlüssel einer Bank sehen anders aus. Die haben so kleine Bärte zu jeder Seite und sind länger, dünner, als dieser hier. Eben mehr wie Tresorschlüssel.“

Mir fehlt die Kenntnis, wie Tresorschlüssel auszusehen haben. Ich habe noch nie einen Geldschrank besessen – was den Umstand mit sich bringt, einen solchen somit auch nie verschlossen zu haben.

Ruprecht nickt zustimmend. „Schließfächer gibt es natürlich auf Bahnhöfen und Flughäfen.“ Dann runzelt er die Stirn. „Und … einen Bahnhof haben wir gerade einmal kurz um die Ecke, meine Freunde.“

„Du meinst den Altonaer Bahnhof?“ fragt Willi naiv und wir anderen müssen spontan lächeln.

Fredo ist bester Laune: „Warum denn in die Ferne schweifen, oh sieh, das Gute liegt so nah …“ beginnt er trällernd.

 

Ich ergänze sofort: „ … lerne nur das Glück zu greifen, denn das Glück ist immer da.“

„Jawoll!“ ruft unser Seemann mit bebender Stimme. „Genau. Also: auf geht´s, Kameraden!“