Das geliehene Glück des Samuel Goldman

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Bis Sams Fehlen bemerkt, die Suche eingeleitet und der Unglücksort gefunden wurde, vergingen über drei Stunden. Und es bedurfte nochmals dreißig Minuten, bis die Retter ihn unter dem Schnee entdeckten. Die Bergwacht und der anwesende Notarzt hatten jeder Hoffnung auf Sams Überleben eine Absage erteilt. Eine Chance, unter einer zentnerschweren Schneelast, ohne lange Sauerstoffzufuhr, in Eiseskälte, lebend zu überstehen, gab es ihrer Ansicht nicht. Doch Sam wurde nach fast vier Stunden nahezu unbeschadet, von einer leichten Unterkühlung abgesehen, quicklebendig aus der Lawine geborgen.

Dass das ein unverschämtes Glück war, bestritt natürlich niemand. Man suchte aber vielmehr nach der Logik, nach physikalischen Zusammenhängen, der zufälligen Konstellation von Faktoren und Einwirkungen, die das Überleben Sams erklären würden. Man kam zu dem Schluss, dass der Schnee ungewöhnlich locker war, und dadurch die Sauerstoffzufuhr möglich machte. Man ging zudem davon aus, dass Sam nicht ganz vom Schnee umgeben war, und sie konstatierten einen noch ausreichend vorhandenen Raum für Bewegung, der die Körperwärme des Verunglückten auffing und Sam vor dem Erfrieren bewahrte. Und schließlich war die abgegangene Lawine eine eher kleine, so dass in diesem Fall nicht alle, sonst stets tödlichen Größenordnungen zu verzeichnen waren. Alles glückliche Umstände? Sicher, aber ein Wunder mitnichten. Denn Physik galt ja auch für die, die sie nicht verstehen. Die Freude über das gute Ende dieses Vorfalls war dennoch groß, aber es kam erneut niemand in den Sinn, dieses neuerliche Geschehen mit Sams gesamtem bisherigem Glück zu korrelieren.

Aber man hätte es eigentlich bemerken müssen. Von diesen Perlen gab es in Samuel Goldmans Leben eine weit mehr als ungewöhnliche Anzahl. Einen Vorwurf hieraus zu formulieren wäre dennoch ungerecht. An Sams Glück hatte sich sein Umfeld längst ebenso gewöhnt, wie er selbst. Wer Zeit seines Lebens an den sonnigen und warmen Ufern Maledivens, unter Palmen und vor der Kulisse türkisfarbenen Wassers, an einem weißen Sandstrand lebte, dem käme kaum in den Sinn, dieses als ungerechte Vorteilsgabe zu verstehen. Der Feriengast aus London aber, dessen Jahreszeitwechsel sich lediglich dadurch auszeichnen, dass der Regen eben nur einmal kälter oder wieder wärmer ist, bemerkt hingegen sofort, dass es glücklichere Umstände gibt, als im dauerhaften Einflussbereich nordatlantischen Klimas zu leben. Vielleicht entwickelte sich ja auch genau aus diesem Grund der Wunsch des Empires nach fernen Kolonien in warmen, tropischen Regionen.

Sam war ein Kind der Sonne. Gedanken an Regen waren ihm fern. Die Sonne schien für ihn jeden Tag und so hatte sich, bei ihm gleichermaßen wie bei den anderen, nach und nach ein unbekümmertes Gefühl der Selbstverständlichkeit eingeschlichen, welches im Allgemeinen als Gewohnheit bezeichnet wird. So fehlte es ihnen schlichtweg an einschlägigen Momenten, ähnlich denen des Londoners Malediventouristen, der zum ersten Mal inmitten des Indischen Ozeans seiner Überwältigung durch große Augen und lautes Staunen Luft macht. Sie waren nicht mehr fähig dazu, denn es war ja nichts Besonderes für sie. Samuel Goldmans Glück war ihnen so alltäglich, wie es Adam und Eva der wolkenlose, blaue Himmel über dem Paradies war. Wer verschwendet in dieser Eintracht schon einen Gedanken daran, dass eine Schlange und ein profanes Stück Obst der Idylle ein jähes Ende bereiten wird.

*

Die Familie Goldman, bestand allein aus seinen Eltern und ihm als Einzelkind. Vater und Mutter nahmen in wohltuender Distanz, gleichfalls aber mit großem Herz und ständiger Hilfsbereitschaft, am Leben und dem Werdegang ihres Sams teil. Sie waren stolz auf ihn, ohne dabei die Nerven ihrer Mitmenschen durch ständige Berichte von Sams Tun und Lassen, durch eitles Loben oder glorreiche Erzählungen zu strapazieren. Inzwischen waren sie bereits ein wenig dem Lebensende näher gekommen, und sie hätten sich schon deshalb sehr über eine liebe Schwiegertochter und ein, zwei Enkelkinder gefreut. Als ausgewachsene Fatalisten aber hatten sie weder diesbezügliche Forderungen an ihn gerichtet, noch ein wirkliches Defizit empfunden. Ihr Sam wollte sich eben noch nicht entscheiden. Und früher oder später – das Schicksal sollte es wissen – würde Sam schon die Richtige gefunden haben.

Mit pragmatischem Optimismus haben sie sogar Gutes daran entdecken können. Einige von Sams Schulfreunden und Nachbarskindern waren mittlerweile wieder geschieden, mussten ihre teuren schönen Häuser verschleudern und sich mühen, sich mit ihren Verflossenen um Besuchszeiten der Kinder zu einigen, und – nicht zu vergessen – wer den Hund behielt. Auch der eine oder andere, der mit Stipendium und Elite-Abschluss zu einem scheinbar traumhaften Karriereeinstieg gelangen konnte, war in der Zwischenzeit hart, für alle hörbar, auf den Boden der Realität geknallt. Grämte sich, neben Schulden oder Gerichtsterminen, auch noch die verlorene Mitgliedschaft im geliebten Rotaryclub verkraften zu müssen.

Sam hatte solche ehrgeizigen Ziele nie verfolgt und wurde tatsächlich von den Konsequenzen eines allzu schnellen und selbstverliebten Aufstiegs verschont. Die Gescheiterten sahen in ihm deshalb nicht selten den wahren Glückspilz, einen, der fast traumwandlerisch die richtigen Register zur rechten Zeit zu ziehen vermochte. Maßvoll aber kalkuliert. Sie lagen mit ihrer Sichtweise zwar falsch, doch für ein gutes Image war das nicht abträglich. Und Sam war´s egal. Ihm erwuchs hieraus weder Schaden noch Nachteil.

Als die Nachricht von seinem Überleben des Flugzeugabsturzes in Südafrika seine Heimat erreichte, war die Aufregung groß. Wie ein Lauffeuer verbreitete sich die Geschichte. Man wurde aufmerksam auf diesen Goldman, diesem wahren Kind des Glückes, der ein Liebling der Götter und Sonntagskind zugleich sein musste. Für sie, vor allem den sensationshungrigen Reportern, Zuschauern und Lesern, sorgten die Bilder von der Absturzstelle, den zerschellten Rumpfteilen, den brennenden Wrackteilen und seiner spektakulären Bergung aus dem winzigen Rest des Hecks für Furore. Seine offensichtliche Unversehrtheit, die ersten Interviews der Medien aus Durban und Johannisburg – ja vor allem aber die gemeinsamen Bilder mit den Managern der Airline – machten ihn fast über Nacht zu einer Glücks-Ikone. Allen wurde spontan klar, dass sein Überleben einer Chance gleichgekommen war, deren Wahrscheinlichkeitsbetrachtung die Vorstellungskraft eines Menschenverstandes überforderte. So viel Dusel war nicht von dieser Welt. Und jemand, dem so etwas passiert war, hatte das Potenzial für einen richtigen Helden.

Und wenn die Zeit eines Heroen gekommen ist, dann läuten zwar noch keine Glocken, aber es spüren alle, dass etwas Großes in der Luft liegt. Und man richtet seine Toga, zupft die Falten des Rocks zurecht. Denn es wird nun sicher spannend und aufregend werden.

*

Greenville, im Staate South Carolina, auf halber Strecke zwischen Atlanta und Charlotte gelegen, war eine angenehme und attraktive Stadt. Nun ja, mit 60.000 Einwohnern war diese eigentlich eher als Kleinstadt zu bezeichnen. Es ging hier gleichermaßen lebendig wie ehrlich zu. Dafür sorgten die ansässigen Wirtschaftsunternehmen, die überwiegend mit der Automobilindustrie verbunden waren, und natürlich die vielen Baptisten, die in der Region eine stattliche Anzahl ausmachten. Der bekannte Prediger und Bürgerrechtler Jesse Jackson war ein Kind der Stadt, ebenso, wie dessen leiblicher Vater, die ehemalige Boxlegende Noah Louis Robinson.

Sam hatte sich vor zwei Jahren ein kleines Haus gekauft. Eines dieser flachen Holzhäuser, mit kleiner, geländerumzierten Veranda zur Straße hin, mit einer hübschen roten Holztür, die harmonisch zu den Sprossenfenstern links und rechts passte, und seinem neuen Zuhause ein freundliches, fast schon lustiges Gesicht verlieh. Er hatte sich bewusst für den Stadtteil Pleasant Valley entschieden. Dieser lag verkehrsgünstig nahe des 85er Highways, zum anderen war dieser Teil von Greenville besonders beliebt, da viele kleine Wohnstraßen, im Grünen liegend, das Wohnen attraktiv machten. Bunte Vorgärten, unzählige Bäume, die fast alle Straßen des Viertels zu Alleen machten, gepflegte Häuser und freundliche Nachbarn. Das war Pleasant. Gefragt war die Gegend auch deshalb, weil dieses Wohnviertel fast genau zwischen dem Greenville Country Club lag, einem der schönste Golfplätze im Staate, und dessen zweiter Anlage, die nur von wenigen Straßen vom Hauptareal des Clubs getrennt einer schönen Parkanlage gleichkam.

Sam nutzte beim Kauf seines Hauses seinen Beruf und die damit verbundenen Gelegenheiten. Als Banker erfuhr er frühzeitig, dass ein Darlehen für ein kleines Haus in Pleasant Valley von den Eigentümern nicht mehr bedient werden konnte. Es handelte sich um einen der örtlichen Autohändler, der sich geschäftlich mit dem Gebrauchtwagenverkauf übernommen hatte. Sam bot ihm an, das Haus zu kaufen und ihn auf diese Weise zumindest vom Immobiliendarlehen zu entlasten. Für Sam war die Finanzierung kein Problem, für den Autoverkäufer bedeutete es schnelles Geld, und so ging der Deal flugs über die Bühne. Sam übernahm bequemer Weise auch gleich das gesamte Mobiliar und zog kurzerhand ein.

Mit dem Erhalt des Postens als Filialleiter der Bank wurde Sam die zeitgleich auch die Mitgliedschaft im Country Club angeboten, was er natürlich nicht ausschlug. So standen ihm die Anlagen in seiner unmittelbaren Wohnlage zur Verfügung, und Sam überlegte einige Zeit, ob er tatsächlich das Golfen beginnen sollte. Er nahm sogar erste Stunden beim Golftrainer, schaffte seine Platzreife, ließ es hiernach aber dabei bleiben. Nicht, dass es ihm etwa keinen Spaß gemacht hätte. Es wurde ihm schnell zu teuer und der Wirbel der Clubmitglieder um die auffällige Reihe seiner Whole-in-Ones war ihm unangenehm. Er schlug tatsächlich bereits während seiner ersten Stunden auf der Trainings-Range mehrmals den Ball mit einem Schwung vom Abschlag ins Loch. Nicht bei den Langbahnen, dazu waren die Entfernungen zu groß. Bei den Löchern mit geringerer Distanz dafür auffallend häufig. Das sprach sich herum. Und da es üblich war, allen Anwesenden im Club für derlei Schläge einen Drink auszugeben, machte es schnell die Runde, wenn Sam trainierte oder eine Übungsrunde mit dem Pro absolvierte. Sie fanden heraus, dass es sich lohne, einen Späher zu entsenden, dem die Beweisführung oblag, an welchem Loch und wie oft Sam mit einem einzigen Schlag den Ball im Ziel versenkte. Da er das durchaus auf stolze vier- oder fünfmal brachte, hatten alle Mitglieder eine große Freude, selbst wenn sie dem Alkohol nicht übermäßig zusprachen. Wenn Sam spielte, gab es immer Spektakel.

 

Seine Treffsicherheit hatte nichts mit seiner Befähigung für den Golfsport zu tun. Als Naturtalent konnte man ihn nicht verstehen. Seine Schwünge, seine Haltung, die Fuß- und Beinstellung, die Körperdrehung, ja selbst die Art und Weise, wie er den Griff des Golfschlägers mit seinen Händen umfasste, war eher nicht geeignet, als Insignium schlummernden Talents gedeutet werden zu können. Es ließ vielmehr die Erkenntnis zu, dass Sam allenfalls ein guter Holzhacker, jedoch wohl nie ein guter Golfer werden könnte. Mit seiner Körpergröße hatte er ohnehin zu kämpfen, da er sich noch nicht durchgerungen hatte, sich ein Set mit Überlänge zu beschaffen. So sah es dann auch tatsächlich derbe und ungehobelt aus, wenn er zum Schlag ausholte.

Dass er dennoch so ungewöhnlich häufig einen dieser seltenen Schläge fabrizierte, zudem vom Fairway aus immer wieder unmöglich erscheinende Bälle einzulochen vermochte, wo selbst versierte Spieler, Profis mit Plus-Handicap, Probleme gehabt hatten, war das eigentlich Sensationelle. Natürlich machte Sam häufig ganz außerordentlich dämliche Fehler, stellte sich mehr als ungeschickt an, schlug weit vor dem Ball ins Gras, so dass ein Rasenstück, nicht aber der Ball, durch die Luft wirbelte, schwang meilenweit am Tee vorbei, malte wirre Löcher in die Luft, und katapultierte nicht selten statt des Balls ein Eisen oder den Driver beim Ausswingen in Richtung der Fahne. Der Bewunderung seiner Traumbälle vom Abschlag direkt ins Loch standen seine trottelhaft anmutenden Fehlschläge gegenüber. Und das empfanden alle als zusätzlichen Unterhaltungswert.

Sam benötigte mitunter aber auch übermäßig viele Versuche, selbst einfachste Bälle auf das Green zu bringen und einzulochen. An einem Tage waren es zweiunddreißig erfolglose Schläge, den Ball aus dem Sandbunker am Loch 18 in Richtung der Fahne und auf das Green zu bringen. Unter tosendem Gegröle der Golfer auf der angrenzenden Terrasse gab er ein wahres Schauspiel ab, welches er schließlich bockig beendete, in dem er den Ball mit der Fußspitze in Richtung der Zuschauer kickte, woraufhin dieser in der Tasse Earl Grey der Stadträtin Elly Sherman – pikanter Weise auch noch englischer Abstammung – landete. Kein Wohle-in-One – aber ein eindrückliches Kunststück. Gottlob nahm Mrs. Sherman das sportlich und nicht als unzivilisierten Akt gegenüber dem Ursprungsland dieser Sportart. Sie äußerte sogar eine gewisse Anerkennung und attestierte dem Kunstschützen einen ausgesprochen guten Geschmack, denn dieser hatte immerhin ihrem Tee gegenüber dem gewöhnlichen deutschen Bier am Nebentisch den Vorzug gegeben. Sam erhielt deshalb Applaus. Und so war es dann auch nicht verwunderlich, dass er schon nach kürzester Zeit nicht mehr Sam, sondern `Mister-One´ gerufen wurde – der Anfänger mit dem unverschämten Glück.

Sam mochte diese Freude nicht lange teilen. Es wurde ihm zu viel Brimborium um seine Löcher gemacht und er entschied sich deshalb, das geliehene Schlägerset erst einmal wieder zurück zu geben und ein wenig Abstand zu dieser Sportart zu nehmen. Alle Versuche seines Pros ihn zum Weitermachen zu bewegen, schlugen fehl. Sam versprach ihm aber, nur pausieren zu wollen und es in Bälde wieder fortzuführen. Der Trainer konnte also noch hoffen, denn er war der festen Überzeugung, dass mit einem solchen Spieler viel Geld zu verdienen war.

*

Sam landete kurz vor Mitternacht auf dem internationalen Flughafen von Spartanburg, unweit von Greenville. Seine Unglücksairline hatte ihm zwar angeboten, auch eine Schiffspassage von Durban nach New-York zu organisieren, doch Sam entschied sich schnell für den Flug nach Hause. Es war nicht etwa so, dass er bei dem Gedanken ans Fliegen, oder gar beim Betreten eines Flugzeuges nun ein Problem gehabt hätte. Sicher wäre es das Normalste der Welt gewesen, wenn ihn nach einem solchen Unglück, einem Absturz mit nur ihm als einzigen Überlebenden, keine zehn Pferde mehr auch nur in die Nähe eines Flughafens gebracht hätten. Doch Sam meinte, er würde das schon aushalten.

Ester und Jakob Goldman empfingen im Ankunftsbereich ihren Sohn. Gern wären die beiden mit Sam ein wenig ungestörter geblieben, denn das Glück, welches Mutter und Vater empfanden, als sie ihren Sohn in die Arme nahmen, ihrem Jungen, der dem Tod gerade von der Schippe gesprungen war, hätte eine ungestörte Privatsphäre gerechtfertigt. Doch blieb es bei dem frommen Wunsch der beiden, denn um sie herum belagerten mehr als zwei Dutzend Reporter und Fotografen die Ankunftsplattform und drängelten sich dicht an dicht vor der milchigen Automatiktür aus Glas, durch die alle ankommenden Fluggäste hindurch mussten. Immer wieder öffnete sich der Ausgang und man konnte für einen kurzen Moment die herankommenden Fluggäste erspähen. Dann schlossen sich die Ausgangsflügel wieder und die Spannung wuchs mit jedem Mal des neuerlichen Öffnens.

Und dann war er da. Samuel Goldman, ein wenig blass und erkennbar übermüdet, doch mit ungebrochenen, strahlenden blauen Augen, die unter den welligen braunen Haaren seinem Gesicht stets ein Leuchten verpassten, welches selbst unaufmerksamen Beobachtern sofort auffiel. Da er keine Koffer mehr besaß, denn diese lagen unter den Trümmern in Durban, schlenderte er mit einer fast provokanten Gelassenheit an den anderen Fluggästen vorbei. Doch als er den Auflauf der Presse erblickte, schaute er sich nach seinen Eltern um, fast ein wenig hilflos, immer mehr bedrängt von Kameras, Mikrofonen und schnatternden Mündern, die ihm unsinnige Dinge fragten.

Sam wurde sofort klar, dass er dieser Meute nicht einfach entfliehen konnte. Er musste sich ihnen stellen, er sah keinen anderen Ausweg. So blieb er kurzerhand stehen, atmete einmal tief durch, schaute in die Runde und begann zu lächeln. Ohrenbetäubend prasselte erneut ein Wirrwarr von Fragen auf ihn ein, mischte sich das fortwährende Klicken der Kameraauslöser bei, und die Pöbeleien der Medienvertreter unter sich, die sich immer mehr stritten, wer wo zuerst gestanden hätte, und wer nun eigentlich das Vorrecht für die ersten Fragen innehalten würde.

Wie fühlen Sie sich? Was geht jetzt in Ihnen vor?

Sind Sie glücklich, wieder hier zu sein?

Was bedeutet es für Sie, einziger Überlebender zu sein?

Werden Sie die Fluggesellschaft verklagen?

Was war Ihr letzter Gedanke?

Was werden Sie jetzt als Erstes machen?

Glauben Sie jetzt an Gott?

Welche Lottozahlen werden Sie tippen?

Und die Fotografen übertrumpften sich gegenseitig mit Anweisungen in Sams Richtung, wie er zu schauen hätte und wedelten mit allem Zeug, um seine Blicke auf sich zu lenken.

Können Sie nochmal in die Kamera lachen?

Sam, gucken Sie hierhin …! Nochmal, Sam!

Mr. Goldman – hier!

Schauen Sie mich verdammt einmal an!

Könnten Sie bitte jetzt mal weinen!

Los, mach das Siegeszeichen!

Hierher, Arschloch! Nicht immer nur nach rechts!

Goldman! Küssen Sie mal den Boden …!

Mehrere TV-Sender waren ebenfalls zugegen. Die Kameraleute versuchten, teils verzweifelt, teils mit roher Gewalt, sich in der Menge so zu positionieren, dass ihr Reporter mit dem Mikrophon in Stellung vor Sam geraten konnte. Wem es irgendwie gelang, hatte größte Mühe, sich in seiner Pol-Position zu halten. Es wurden Sam die Mikrophone hingestreckt, und er konnte an den aufgesteckten bunten Schutzkappen erkennen, welche Sender zugegen waren. Es war ein ungeheures Durcheinander in dem jeder Überblick, jede Ordnung unmöglich schien. Zudem hatten sich viele Menschen um das Spektakel herum versammelt und wollten sehen, was für ein Prominenter denn da im Mittelpunkt stehen würde. Sie hielten ihre Smartphone in die Luft, schossen ihre Fotos oder versuchten ein Videomitschnitt zu machen.

Sam spürte einen festen Griff am rechten Oberarm und wurde gleich darauf mit einem kräftigen Ruck weggezogen. Er blickte in die mürrischen Gesichter mehrerer uniformierter Sicherheitsbeamten des Flughafens, die ihn nun schützend umzingelt hatten und Schritt für Schritt durch den Menschenauflauf durch den Empfangsbereich führten. Sam sah sich immer wieder um. Er wusste, dass seine Eltern irgendwo in der Menge ihn warteten. Nur entdecken konnte er sie nicht. Er stolperte mit der Security zu einer Seitentüre, die kurz danach geöffnete wurde, und er war in Sicherheit. Sie brachten ihn in den VIP-Bereich des Airports, wo er erschöpft und sichtlich fassungslos in einen der Sessel fiel. Sam brachte noch heraus, dass seine Eltern zu ihm geholt werden sollen und man versprach, sie ausrufen und hierher bringen zu lassen. Nach einigen Minuten, die ihm schier endlos vorkamen, erschienen Ester und Jakob Goldman in der abgeschirmten Lounge, und sie fielen sich überglücklich in die Arme.

Kapitel 2

Paul Wayne war bei NCCB eine Institution. Er galt als knallhart und war berüchtigt für sein untrügliches Gespür für erfolgreiche TV-Formate und gute Stories. Er hatte nun schon mehr als dreißig Jahre Erfahrung auf dem Buckel und zog erbarmungslos, mit traumwandlerischer Sicherheit für Effekte und Quoten, an den Strippen des Senders. Wayne war ein Halbgott der Branche, ach was, ein Gott. Er war einer der Vorreiter der Sensationsberichtserstattung, und peitschte seine Reporter und Journalisten mit unablässiger Dominanz stets an die vordersten Stellen der Brennpunkte. Er war die graue Eminenz des Geschäfts. Er bewegte seine Mitarbeiter wie Marionetten, und wer nicht mithielt, wer die gewünschten Erfolge nicht brachte, flog schnell im hohen Bogen aus seinem Team, meist gleich aus dem Sender. Aber wer es bei ihm schaffte, war gleichsam zum Ritter geschlagen.

Wayne war schlank und hatte, mit nun schon fast sechzig Jahren, volles weißes Haar. Er trug dieses stets mit Festiger versetzt nach hinten gestriegelt, und hielt hieran, gleich einem Markenzeichen, seit Anbeginn seiner Fernsehtage fest. Diese Frisur verlieh ihm das Aussehen eines sensiblen und kunstverliebten Orchesterdirigenten. Sein dicker, grauer Schnauzbart war durchaus in der Lage, diesen Eindruck zu unterstreichen. Wer Paul Wayne aber kennenlernte, stellte schnell fest, dass dieser Mann weder ein Hort schlummernder Urgemütlichkeit, noch zartfühlender Empathie war.

Wayne saß, wie immer im weißen Oberhemd und mit breiten blau-weiß-roten gestreiften Hosenträgern, in seinem Büro und hatte am großen Besprechungstisch Platz genommen. An diesem Tisch fand sich täglich die Prominenz seiner Journalisten zusammen, zur Chefredeaktionsbesprechung. Vor ihm stand ein dampfender Kaffeebecher – sein Kaffeebecher – auf dem der Spruch stand: TV ist Krieg. Er bezeichnete sich selbst als Warlord der Medien, als Heerführer von Elitesoldaten mit Kamera, Mikrofon und Schnittraum. Es war noch früh am Morgen, der Tag nach Samuel Goldmans Rückkehr.

Wayne hatte seine Brille, die ihn mit ihren breiten schwarzen Rändern nochmals bedrohlicher aussehen ließ, auf die Stirn geschoben, drehte nachdenklich, mal nach links, dann wieder rechts, seinen Kaffeebecher vor sich auf der Tischplatte, und er verharrte in dieser Position, als Mary Thompson den Raum betrat. Sie setzte sich sogleich, wie immer ohne dazu von ihrem Chef aufgefordert worden zu sein, zwei Stühle neben ihn, und knallte ihren eigenen Becher mit schwarzem Kaffee unüberhörbar auf den Tisch. Dann wandte sie sich, ohne die Eröffnung von Wayne abzuwarten, direkt an ihn.

 

„Lass` mich raten, Paul,“ begann Mary, „es geht um die Goldman-Story! Und Du wirst mir gleich mit ewiger Verdammnis und dem Höllenfeuer drohen, falls ich Dir diese nicht sofort exklusiv besorge.“

Mary Thompson schaute dabei mit ihren sanft wirkenden, großen braunen Augen auf Paul Wayne, der immer noch mit leicht gesenktem Kopf da saß und seinen Becher drehte. Er kannte Mary nun einige Jahre. Zunächst war sie ihm beim Wettbewerbssender CKC aufgefallen, dann, nachdem er sie in einem eineinhalbminütigen Gespräch abgeworben hatte, war sie zur Elite in seinem Team aufgestiegen. Sie entpuppte sich unmittelbar als Universalwaffe für besonders knifflige Reportagen. Mary sah blendend aus. Und das war ihrem Chef überhaupt nicht egal, denn ihre Schönheit war eine häufig entscheidende Eigenschaft im Kampf um Interviews und exklusive Reportagen. Ja, Mary hätte durchaus Karriere als Modell machen können, auch jetzt noch, trotz ihres Alters von zweiunddreißig Jahren. Sie trug mit Vorliebe blaue Kostüme, mit engen Röcken, die eine Handbreit über den Knien ihre langen und schön geformten Beine zur Geltung brachten. Aber Paul sah sie nicht als Frau, sie war allein Teil seines Arsenals, eine Waffe, eine extrem erfolgreiche Söldnerin, zudem mit höchsten Einschaltquoten.

Zwischen Marys Eröffnung und Pauls Antwort vergingen ein, zwei Minuten des Schweigens. Mary wartete geduldig ab. Sie kannte diese Situationen und wusste, dass sie ihm nun das Wort zu lassen hatte. Paul beendete urplötzlich sein Schweigen und blickte mit scharfem, stechenden Blick aus seinen hellblauen Augen auf seine Mitarbeiterin.

„Vielleicht ist es nur eine Eintagsfliege, diese Goldman-Sache“, begann er leise, „vielleicht ist das Ganze der Mühe nicht wert. Der einzige Überlebende eines Flugzeugabsturzes ist dann sicher nicht Programmfüller für viele Wochen, aber …. Irgendeine Stimme in mir schreit danach, die Story zu kriegen. Ja mehr noch. Meine Nase, ja, mein ganzer Körper, selbst beim Pissen, sagt mir: Paul, da steckt was drin. Das hat Potenzial. Ich rieche es förmlich.“ Und nach einer winzigen Pause fügte er hinzu: „Mary, ich will Goldman für NCCB, habe ich mich klar genug ausgedrückt?“

Mary nickte kurz und stand auf. „Es wäre für mich auch unerträglich dafür verantwortlich zu sein, dass Du auch noch auf dem Klo Stimmen hörst und Dir vor Schreck die Schuhe vollpinkelst.“ Sie nahm ihren Kaffeebecher und ging zur Türe. Dann drehte sie sich noch einmal zu ihrem Chef um. „Ich habe also freie Hand … freies Budget …?“

Paul Wayne hatte seinen Kopf wieder gesenkt und drehte erneut seinen Becher herum. Und als er kurz nickte, ging Mary hinaus und schloss die Tür hinter sich. Ein kurzes Aufatmen, dann drückte sie ihr Kreuz durch und verschwand mit vernehmbarem Klackern ihrer Absätze in ihr kleines, dafür aber umso schöner gestaltetes Büro.

Wayne grinste vor sich hin. Das war seine Mary, unverwechselbar. Und er lächelte weiter. `Goldman, Du kleiner Scheißer. Was ist dran an Dir? Was birgst Du für ein Geheimnis? Irgendwas ist da … ich weiß es. Und ich werde Dich kriegen, darauf kannst Du Deinen Arsch verwetten´.

Mary Thompson saß bereits schon wieder auf ihrem Schreibtischstuhl. Sie hatte ihren Assistenten vor sich und diktierte ihm gerade die ersten Anweisungen. Peter McDorman sollte das Team zusammenholen, und zwar gleich. Zudem hatte er sich höchstpersönlich selbst an die Arbeit machen und alles – wirklich alles – über Samuel Goldman aus Greenville, South Carolina, in Erfahrung zu bringen.

„Peter“, begann sie knapp und ein wenig herrisch, „durchleuchte den Kerl von Kopf bis Fuß, ist das klar? Ich will alles über ihn wissen, wann er das erste Mal onaniert hat, die Lieblingsfarbe seiner Unterhosen oder ob er überhaupt welche trägt. Vorlieben, Laster, ob er pervers ist und wenn ja, Bilder dazu. Kurzum: Ich will ihn nackt und nach vorn gebeugt vor mir haben.“ Sie wollte ihren Assistenten damit schon herausschicken, doch dann fügte Mary noch hinzu: „Zuerst aber besorg mir alle seine Telefonnummern, Emailadressen und … Du weißt schon. Alles, damit ich mit unserem Goldstück Kontakt aufnehmen kann. Also auch die Nummern seiner Frau, seiner Geliebten, seines Hundes und natürlich der Familie – das alles bitte bis gestern!“

Kurz darauf erschien Marys Team. Da war der Kameramann, die Regieassistentin und die zwei Produktioner, die im Außendienst vor allem als Hiwis verwendet wurden, deswegen meist wie Falschgeld herumliefen und vom Rest mit lauten Befehlen von links nach rechts geschickt wurden. Mary Thompson war in ihrem Element. Wie aus dem Handgelenk gestaltete sie ein kurzes, knackiges Briefing zum Vorhaben, welches mit den Worten endete, dass alle auf Stand-by zu bleiben haben, es können jederzeit losgehen. Das Ganze dauerte zehn Minuten, dann war es wieder vorbei und alle stoben auseinander.

Mary setzte sich an ihren Computer. Über die Suchmaschine begann sie, sich die Berichte und Fotos über den Flugzeugabsturz in Durban anzuschauen. Sie wurde schnell fündig. Medien in fast allen Ländern der Erde hatten bereits darüber berichtet. Keiner von diesen aber schien über etwas Exklusives zu verfügen, keine längeren Interviews, keine persönlichen Fotostrecken. Es sah so aus, dass noch niemand wirklich vorne war. Das aber konnte sich jede Minute ändern, Zeit hatte sie also nicht zu verlieren.

Sie schaute sich verschiedene Fotos von Sam Goldman an. Ein hübscher Kerl, der ihrer spontanen Meinung nach durchaus auch Footballstar hätte werden können. Er sah überdies recht sympathisch aus, zugänglich, nicht unbedingt eitel, vor allem aber attraktiv und interessant. Ihr fielen seine Grübchen auf und für einen kurzen Moment kam ihr in den Sinn, das dieser Bursche, hätte er sie zuvor irgendwann einmal in einer Hotelbar angesprochen, das Zeug für einen Treffer bei ihr hatte. Doch, wie gesagt, dieser Gedanke flog ihr nur kurz durch den Kopf – dann war sie wieder bei der Sache.

Ihr Assistent hatte schnell gearbeitet und kam, sichtlich stolz und mit geschwollener Brust in Marys Büro gestürzt.

„Erste Fakten,“ begann Peter McDorman aufgeregt, „willst Du sie hören?“

„Wozu?“ Mary setzte ihr Pokerface auf. „Du willst doch fristlos gekündigt werden … leg schon los, Idiot!“

Peter McDorman, seine irischen Vorfahren hätten ihn nicht verleugnen können, war ein kleiner, leicht verschlagen wirkender Bursche von fünfundzwanzig Jahren. Er konnte ein Prädikatsexamen vorweisen und machte die Nachteile, die Mutter Natur bei der Verteilung von Schönheitssammelpunkten an ihm eingespart hatte, durch einen messerscharfen Verstand und eine Schnelligkeit auf, die oft nur mit Laserpistolen messbar war. In seinen Herangehensweisen war McDorman meist listig bis rotzfrech, Skrupel schien er höchstens beim Betreten des Vatikans zu entwickeln, und er war als Assistent, um es kurz zu sagen, der wahrgewordene Traum für jede investigative Journalistin. Mary wusste und schätzte das durchaus.

Peter McDorman stand immer noch. Er hielt seinen Notizblock vor sich, wie ein Chorknabe das Notenblatt, und begann zu berichten: „Samuel Goldman, sechsunddreißig Jahre alt, geboren in Greenville. Einziger Sohn von Jakob – der Vater – und Ester – die Mu….“

Mary unterbrach wirsch: „Kommt noch irgendwann was Interessantes?“

McDorman nickte: „Ok – also … mmmh … Ester, die Mutter … blablabla …. blabla … hier, jetzt kommt´s. Ich habe einige ältere Artikel über ihn gefunden. War ganz einfach. Viel kann ich zwar noch nicht sagen, habe diese nur kurz überflogen. Aber so viel ist sicher: Der Bursche scheint ein echter Glückspilz zu sein. Ich meine, der Absturz war nicht das erste seiner Wunder, wenn ich so sagen darf. Dein neuer Freund scheint ein echter Überlebenskünstler zu sein.“ Er hielt inne und versicherte sich der Wirkung seiner Worte auf seine Chefin.