Am anderen Ende der Sehnsucht

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Am anderen Ende der Sehnsucht
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Stefan G Rohr

Am anderen Ende der Sehnsucht

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Inhaltsverzeichnis

Titel

Am anderen Ende der Sehnsucht

Prolog

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Epilog

Impressum neobooks

Am anderen Ende der Sehnsucht

Julietta

Prolog

Wie herrlich sie doch sind, die unzähligen Geschichten über die Liebe. Und so viele Gesichter sind ihnen zu Eigen. Unerfüllbarkeit, Eifersucht, Herzschmerz, Enttäuschung, Treuebruch, oder Intrige verleihen derlei Erzählungen ein gemeines, vielleicht sogar hässliches Antlitz, bevor die Schönheit erkennbar wird. Die Geschichten erzählen uns sodann von Einsicht, Reue, Bekenntnissen, Hingabe oder Edelmut in vielen Facetten, oder zeigen einfach nur das pure, schier unendliche Glück, gemalt in den schillerndsten Farben, wie in schönste Poesie gehüllt.

Gemein ist aber eben fast allen diesen Geschichten auch, dass es die Liebe selbst ist, ohne die wir nicht leben zu können glauben, sie dann doch aber das Gut ist, ganz paradox, mit welchem wir so häufig am achtlosesten und unehrlichsten umgehen, sie so manches Mal als lästig, hemmend und einschränkend verstehen, sie mit dummen und oberflächlichen Regungen riskieren, sie sogar nicht selten für Nichtigkeiten zu opfern bereit sind, gar mit Füßen treten.

Aber es gibt auch Liebesgeschichten, die anders sind, und nicht auf Dummheit, Leichtfertigkeit und Ignoranz beruhen, mitunter, zu allem Unglück, dennoch zur Tragödie werden können. Diese Geschichten sind dann mit Recht ganz tief im Herzen berührend, erlösend für den Fall, dass sich diese vielleicht sogar noch zu einem guten Ende wenden. Derlei Geschichten verdienen sodann ein Gütesiegel, denn nur sie berichten uns über die wahre Liebe zwischen zwei Menschen, nicht einseitig, nicht von Äußerlichkeiten getrieben oder verführt, nicht in Kitsch gekleidet.

Auch deshalb, weil sie vielleicht tatsächlich vom Leben selbst geschrieben wurden?

Das Siegel verdienen sie aber nicht allein deswegen. So denn auch, weil sie die Wahrhaftigkeit der Liebe erfassen, und nur diese verdient es dann diesen so großen Namen auch mit Recht zu tragen.

Weil sie unendlich ist. Über alle Grenzen hinweg.

Kapitel 1

Er merkte, dass er allmählich erwachen würde. Neugierig spürte er in sich hinein um, wie er es seit längerer Zeit stets beim Aufwachen tat, ein Gefühl dafür zu bekommen, ob die Ruhe, der Schlaf, ihm Erholung gebracht hatte. Diesmal mischte sich noch etwas anderes unter seine Selbstbeobachtung. Ganz deutlich vernahm er lautes Zwitschern von Vögeln und er begriff, dass es der Gesang von Amseln, Spatzen und vielen anderen war, der ihn heute erwachen ließ. Sanfter als sonst, viel, viel sanfter. Fast erfüllte das Gezwitscher den ganzen Raum, kroch durch seine Ohren tief in sein Innerstes ein und erfüllte ihn ganz überraschend mit einer schon lange nicht mehr verspürten Freude. Für einen kurzen Moment. Dann war dieses wohlige Behagen auch schon wieder verflogen.

In seinem Schlafzimmer war es bereits recht hell. Die dünnen Vorhänge vermochten es nicht, das Sonnenlicht des Morgens so abzuhalten, dass er noch eine halbe Stunde, vielleicht sogar eine ganze, hätte länger schlafen können. Der Raum war einfach schon zu hell und so öffnete er seine Augen, war nun wach. Es war Anfang Mai und ein lieblicher Duft von blühenden Blumen, Büschen und Bäumen zog durch das gekippt offenstehende Fenster bis an sein Bett. So roch der Frühling, das wusste er, auch wenn es ihm gerade wie eine Ewigkeit her vorkam, dass er es das letzte Mal so vernommen hatte.

Wie doch alles anders war. Seine Blicke wanderten in dem kleinen, aber gemütlich eingerichteten Zimmer herum. Adrett war es eingerichtet, ordentlich und mit dem typischen Geschmack aus einer Zeit, die schon einige Jahrzehnte zurücklag. Und ein Lächeln kam ihm ganz kurz über sein Gesicht. Ja, er würde sich hier sicher wohl fühlen können. Und die zurückliegende Nacht war zwar traumlos und sicher den Anstrengungen der jüngsten Vergangenheit geschuldet, denn wie es sich für ihn gerade anfühlte, war er in einem tiefen, schweren Dunklen gewesen, diesmal aber eben anders als er es sonst kannte. Er schien wirklich besonders guter Laune zu sein.

Er stand auf, reckte sich kurz, zog die Vorhänge auf uns sein Blick fiel über einen blühenden Vorgarten hinaus in die Umgebung. So weit sein Auge reichte, sah er das satte junge Grün der Rebstöcke unzähliger Weinberge. Sie besetzten die Hügel und die steilen Hänge zum breiten Fluss im angrenzenden Tal, als hätte sie ein Riese mit großer Sorgfalt aneinander gereiht, akkurat, in wunderbaren Linien, mit einer ganz eigenen Symmetrie, die wohl nur ein Winzer kennen würde. Der ruhige Fluss lag wie eine grünliche Ader zwischen den Weinhängen und teils schroffen Felsen, die sich mit fast fürsorglicher Macht in das Bild streuten. Sie waren grau, aus Schiefer, verwittert und häufig schon spitz verwittert in ihrer Figur. Den Fluss aber schien das nicht zu berühren. Er floss in fast mystischer Stille langsam und beschaulich vor sich hin, zog einen langen Bogen, um sich dann in einer engen Schleife hinter steilen Hängen dem Auge des Betrachters zu entziehen. Die Sonne war noch nicht allzu hoch gestiegen, doch sie wärmte bereits mit erster Kraft des jungen Tages. Mit jedem neuen wird sie die hier wachsenden Trauben reifen lassen, und so die köstlichsten Weine ermöglichen, für die diese Region so berühmt geworden ist.

Er öffnete die Fenster ganz und ließ die Morgenfrische hinein. Dann zog er sich seinen Bademantel über und ging in den nächsten Raum. Es war ein kleines Wohnzimmer und sein Blick fiel sofort auf die doppelte Türe zu dem kleinen Balkon, der natürlich so lag, dass der Blick aus dem Schlafzimmer zuvor nun direkt von hier im Freien zu genießen war. So zögerte er nicht lange, öffnete die Balkontüre und trat hinaus. Er stellte sich an das Geländer, legte die Arme stützend auf dieses und ließ erneut seine Blicke über das vor ihm liegende Panorama gleiten. Nach einigen Minuten des stillen Genießens ging er zurück in seine Wohnung, betrat die winzige Küche, die eigentlich eher als Kochnische hätte bezeichnet werden müssen, füllte den Tank seiner Kaffeemaschine und hörte dem Mahlwerk zu, wie es die Bohnen zu Pulver rieb. Mit der Tasse in der Hand ging er zurück auf den Balkon, setzte sich auf einen der beiden bereits etwas klapprig und rostig gewordenen Eisenstühle und zündete sich eine Zigarette an. Dann ließ er erneut seine Blicke schweifen. Und was er sah und gerade empfand, hatte für ihn für einen kleinen Moment eine ganz erstaunliche Leichtigkeit.

Nachdem er sich noch eine zweite Zigarette angesteckt und geraucht hatte, stand er auf und ging ins Bad. Auch dieses war eher winzig, doch es reichte ihm vollkommen. Nach seiner Morgentoilette hatte er sich angezogen und machte sich auf, das kleine Städtchen, das fußläufig nur einige Minuten von hier entfernt lag, ein erstes Mal zu erkunden. So verließ er seine Wohnung auch schon bald, und ging die Treppe hinunter in die kleine Lobby des Hauses, in der die Vermieterin ein paar Tischchen und plüschige Sessel gestellt hatte, damit sich ihre Hausgäste hier ein wenig zusammenfinden können. Doch es war noch niemand von den anderen zugegen.

Als er unten angekommen war, öffnete sich die Tür zur Wohnung der Eigentümerin. Sie wird ihn sicher gehört haben, denn die hölzernen Treppenstufen knarrten vernehmbar, was auch der schwere Teppichläufer, der sich von oben nach unten über die Treppe zog, nicht verhindern konnte. Mit einem Küchenhandtuch in der Hand und mit einer Schürze bekleidet stand die ältere Frau in ihrer Türe und lächelte ihn mit einer liebevollen Freundlichkeit an.

„Guten Morgen, Herr Renatus!“ trällerte sie ihm entgegen. „Haben Sie heute gut geschlafen?“

Leon Renatus nickte mit ebensolcher Freundlichkeit zurück: „Tief und süß, liebe Frau Theissen. Und geweckt vom Zwitschern der Vögel.“

„Oh!“ ein Hauch von Sorge war nun von der Dame zu vernehmen. „Ich hoffe dann innständig, dass Sie sich nicht allzu sehr daran stören mögen. Denn ich vermag keinen Einfluss darauf zu nehmen, geschweige denn den Vögelchen ihren Gesang zu verbieten.“

 

Leon Renatus musste lachen. „Liebe Frau Theissen. Wie könnte ich mich an so etwas Schönem bloß stören? Im Gegenteil. Wie grässlich vernimmt sich ein profaner Wecker dagegen? Ich bestehe vielmehr darauf, dass es die Vögle nicht unterlassen mögen, mich allmorgendlich auf diese Weise aus meinen Träumen zu holen.“

Diese Antwort schien der älteren Frau zu gefallen. „Dann bin ich beruhigt, lieber Herr Renatus.“ Und sie trat einen kurzen Schritt näher an ihren Gesprächspartner heran. „Wir haben mitunter auch einmal ein Nachtigallen-Pärchen zu Gast. Wenn sie also Glück haben …“

Leon machte ein nachdenkliches Gesicht: „Nun, da werde ich mich freuen. Jedoch habe ich Zweifel, eine Nachtigall von einem gewöhnlichen Spatzen unterscheiden zu können.“

Frau Theissen lachte mütterlich: „Lieber Herr Renatus!“ rief sie nun freudig. „Sie werden bestimmt von ganz allein merken, wann es kein Spatz ist, der für Sie singt. Die Nachtigall ist ganz wunderbar und auch Sie werden sie sofort erkennen, selbst wenn der Gesang Ihnen bis dahin noch nie zu Ohren gekommen ist.“ Dann machte diese freundliche Dame ein nachdenkliches Gesicht. „Und wenn es dazu kommen sollte, dass Ihnen ein Buchfink ein Ständchen trällert, dann öffnen Sie Ihr Fenster umso mehr. Denn es heißt: Ein singender Fink bringt Ihnen eine Lebensbotschaft, Veränderungen stehen an, und man ist gut beraten, aufmerksam zu lauschen.“

Leon lächelte seine Gesprächspartnerin höflich an. „Wo sind die anderen Bewohner? Schlafen die noch alle?“

„Oh, ganz gewiss nicht!“ Frau Theissen errötete dabei ganz leicht. „Sie sind alle bereits ausgeflogen. Schließlich ist es ja auch schon nach elf Uhr …“

Leon Renatus zuckte fast ein wenig zusammen. Er hatte noch gar nicht auf die Uhr gesehen, und nach seinem Gefühl war es eher noch früh, als denn schon fast Mittag.

Frau Theissen machte Anzeichen, sich wieder in ihre Wohnung zu begeben. „Nur der Professor ist da. Er arbeitet in seinem Appartement, so wie immer. Alle anderen sind schon vor mehr als einer Stunde spazieren gegangen.“

„Na, dann will ich es Ihnen nun gleich tun.“ Leon ging langsam zur Haustüre. „Und ich bin auch schon ein ganz klein wenig gespannt, wie mir das Städtchen an einem Tag wie diesem gefällt.“

Frau Theissen war fast schon wieder in ihrer Wohnung verschwunden, als sie ihrem Gast noch etwas zurief: „Genießen Sie das Leben, lieber Herr Renatus. Am besten in einem der vielen kleinen Cafés am Fluss. Oder später auch in einer der Winzerstuben, im Schatten, bei einem guten Riesling. Und um halb sieben dann werde ich hier wie immer zu Tisch bitten.“ Sie schaute noch einmal prüfend in das Gesicht ihres neuen Gastes. „Sie mögen doch sicher gute Hausmannskost …?“

„Und wie, liebe Frau Theissen.“ Leon lachte und trat schon aus der Haustür. „Ich werde gewiss da sein. Pünktlich und hungrig. Versprochen!“

Dann war er schon aus dem Haus herausgetreten, ging über den schmalen mit Schieferplatten angelegten Weg durch den hübsch gestaltete Vorgarten, in dem es schon prachtvoll blühte, zur weißen Zaunpforte, um sodann nach links die Straße herunter in die Stadt zu nehmen. Leon sah nicht, dass Frau Theissen an ihrem Küchenfenster stehend ihm nachdenklich nachblickte, während sie mit dem Küchenhandtuch langsam einen Teller abtrocknete.

Leon war ein sportlicher, schlanker Mann von Anfang Vierzig. Federnd war sein Gang, durchaus auch kraftvoll seine Schritte. Dieses jedenfalls für gewöhnlich. In letzter Zeit war ihm das Elastische irgendwie abhandengekommen, seine sonstige Leichtigkeit verflogen. Selbst merkte er das kaum, nahm es mehr auf eine Art wahr, als würde tief in ihm etwas an Erinnerung versteckt sein, das ihm zuflüsterte, es ist anders geworden, beschwerlicher, fast ein wenig schleppend. Er ging leicht nach Vorn übergebeugt, und seine gewohnte Geschwindigkeit, sein sportliches Stampfen, war einer Vorsicht gewichen, einer Behäbigkeit, als würde er mit Blei in seinen Schuhen unterwegs sein. All das passte so gar nicht zu seinem eigentlichen Gesamtbild, welches doch viel eher geeignet war, Vitalität, eine gewisse Dynamik, durchaus auch Eleganz und eine Augenfälligkeit auszustrahlen, die ihm einen nicht zu übersehenden Zuspruch einbrachten, vor allem des anderen Geschlechtes. Markant waren seine Gesichtszüge, gefällig sein Haar, das er in einer Länge trug, die ihm etwas Abenteuerliches verliehen, ohne ihn dabei ins Feminine geraten zu lassen. Seine Hornbrille ließ ihn recht intellektuell wirken, seine Größe von 1,85 Metern machten ihn zwar nicht erhaben, dennoch ein klein wenig über den Dingen stehend.

Jetzt also war er hier. In diesem kleinen Ort inmitten von Weinbergen, schiefergedeckten Villen, einer schier unübersichtlichen Anzahl von kleinen Hotels, Herbergen, Restaurants und aneinander gereihten Innenhöfen von Winzern, die den Touristen aus aller Herrenländer ihre Weine unter Sonnenschirmen und Markisen anboten, regionale Speisen offerierten und allerlei Souvenirs feilboten. Einen Bezug zu diesem Städtchen, einen wirklichen Grund hierher zu kommen, hatte Leon nicht. Es war ein Zufall, der ihn hierhin verschlagen hat, ein Bericht im Fernsehen über Land und Leute, über Winzer und Weine, über das Örtchen als touristischer Dreh- und Angelpunkt. Spontan war er begeistert, fühlte einen unerklärlichen Bezug zu diesen Bildern, empfand Wärme und sogar ein wenig Geborgenheit, die er ganz intuitiv bei der Betrachtung verbunden hatte. Und da er die Veränderung suchte, das Andere, etwas Neues, entschloss er sich ganz spontan, hierher zu ziehen, ohne es jedoch tiefer begründen zu können. Ihm war es auch nicht wichtig, diesbezüglich eine Logik abzuleiten. Es war vielmehr eine Eingebung, der er unmittelbar auch folgen wollte. Eine Rechtfertigung, eine Erklärung, musste er sich selbst auch nicht geben.

Und als er am Tag darauf, nachdem er den Beitrag im Fernsehen gesehen hatte, sogleich um eine Wohnmöglichkeit erkundigte, war bereits das erste Angebot das kleine möblierte Appartement in der alten Villa von Frau Theissen. Es sah auf den Fotos so puppig aus, so anheimelnd und beschützt, dass er sich dem Bann nicht entziehen konnte, der inneren Stimme nicht widersprechen vermochte, dass dieses Angebot für ihn vielleicht tatsächlich vorgesehen war. Es schien nicht nur wie gemacht für ihn, es schien zudem förmlich auf ihn gewartet zu haben.

Frau Theissen war alleinstehend, schon lange verwitwet. Diese große Villa, in der einst eine Winzerfamilie lebte, war zu einer Pension umgebaut. Doch neben den Fremdenzimmern, die sie anfänglich vornehmlich an Feriengäste vermietet hatte, gab es noch einige kleine Appartements, vollständig ausgestattet, die sie langfristig vermietete. Und Leon kam gerade recht, denn die hübsche Kleinwohnung war gerade wieder frei geworden, und Frau Theissen hoffte auf einen würdigen Nachfolger, der auch ein wenig länger bleiben wollte. Das alles hatte sie so auch Leon berichtet.

Das Besondere an ihrem Angebot aber war nicht nur die Idylle, die fast märchenhafte Anlage des alten Gebäudes, mit samt der Gärten und vor allem des Ausblickes auf den Fluss, es war ihr Wirken gegenüber den Gästen und Dauermietern, welches durchaus auch als mütterlich umsorgend gewertet werden konnte. Eines der größeren Zimmer hatte sie als Speiseraum, als gemeinsames Esszimmer gestaltet. Sie kochte für alle, und es war jedem schnell klar, dass es zur Hausgemeinschaft gehören sollte, sich weder zu separieren, noch dem Ansinnen der Hausdame entgegen zu wirken, in dem man selbst nicht etwa das Abendessen andernorts einnahm, jedenfalls nicht, ohne es zuvor der Köchin sorgsam und mit der gebotenen Sensibilität mitgeteilt zu haben.

Wahrscheinlich war auch hierin einer der Gründe zu finden, warum es einer der Mieter, der Professor, nun schon einige Jahre in diesem Haus, in der Obhut von Frau Theissen, gehalten hat. Und sie war stolz darauf, worin wohl auch der Grund lag, dass sie diese Tatsache gern prominent in ihre Eigenwerbung einbezog.

Leon war es Recht. Überdies offerierte seine Vermieterin in der Lobby eine stattliche Auswahl an regionalen Weinen. Allesamt natürlich weiß und von der Traube her Riesling. Alles andere wäre einem Verrat gleichgekommen, denn diese Region stand nun einmal für die besten Weine dieser Rebsorte, für Steilhanglagen, große Schiefergewächse und stets prämierte Jahrgänge mit meist goldenen Medaillen. Ein Eldorado also, zumindest für Liebhaber dieser Weinregion und Puristen, denn ein wie auch immer komponierter Cuvée lässt sich vielerorts erzeugen, von Südafrika, über Australien bis Argentinien oder Kalifornien. Einen reinrassigen Riesling, der sogar verträglich und genießbar ist, wenn er noch im Lesejahrgang verkostet wird, lässt sich eben nicht mit vermischtem Sortengemenge vergleichen. Und in der Lobby, vor einem der schönen Kamine der Villa, wird es gewiss eine gute Zahl an Gelegenheiten geben, die Köstlichkeiten der Saison, vielleicht auch das eine oder andere Schätzchen eines der hiesigen Kellermeister, im Kreise der Mitbewohner zu verkosten und Bacchus zu huldigen. Mit einem ungarischen Tokajer wird das nicht nur schwer, es könnte auch den Zorn des Gottes hervorrufen, welcher sich in aller Regel in der Schwere des Kopfes am Folgetag zu erkennen gibt.

Leon hatte das Zentrum des kleinen Städtchens erreicht. Sein Weg führte ihn noch über die breite, geschwungene Brücke, unter der schon die ersten weißen Ausflugsschiffe fuhren, mit unüberhörbaren Erklärungen des Touristenführers am Mikrophon, der mit lustigem Akzent in Englisch und Deutsch auf die Sehenswürdigkeiten in der Umgebung aufmerksam machte. Auf einem großen Parkplatz am Flussufer, direkt unter der Brücke, standen unzählige Reisebusse. Manche waren gerade erst angekommen und aus ihren Türen strömten die Fahrgäste heraus, wurden von aufgeregten Reiseführern zusammengehalten und mit Anweisungen für die bevorstehende Stadtführung beschallt. Auf der Uferpromenade teilten sich Spaziergänger und Fahrradfahrer die Vorherrschaft, und auf den vielen Bänken saßen mit Blick auf den ruhig dahinfließenden Strom Alt und Jung nebeneinander, empfingen mit geschlossenen Augen die warmen Sonnenstrahlen, lasen ein Buch oder beobachteten ganz einfach nur die vorbeispazierenden Menschengruppen.

Das Verkehrsaufkommen auf der Brücke und der Hauptstraße, die sich hiernach einmal nach links und dann nach rechts gabelte, um jeweils am Ufer entlang zu führen, war auffällig hektisch. Die Fahrradfahrer störten die Autofahrer, diese wiederum waren offensichtlich den Busführern ein Dorn im Auge, und die Fußgänger hatten es mit allen schwer, scheinbar auch mit sich selbst, denn der massenhafte Strom der Menschen wurde immer wieder durch stehengebliebene Touristen gebremst, die sich für ein Foto zusammenstellten, den Weg kurz versperrten, um ihren Schnappschuss zu machen. Unter die kleinen Grüppchen und Familien mischten sich die größeren Kolonnen, die gehorsam einem Reiseführer hinterher trottelten, mal den Kopf nach links, dann wieder nach rechts drehten, fast synchron, wie im Ballett.

Leon mochte solche Menschenansammlungen nicht besonders. So schaute er bereits schon nach kurzer Zeit nach Möglichkeiten, der Masse ausweichen zu können, nach den Stellen, wo es weniger Leute zu geben schien. Als er von der Brücke kommend die hektische Straße überquert hatte, spazierte er in die erste Gasse zwischen den Häusern, die in die historische Innenstadt führte. Hier waren wenigsten Autos und Fahrräder verboten, und es zeigte sich schnell ein malerisches Bild alter Häuser, teils aus Fachwerk, teils mit den regional wohl so typischen grauen Felssteinen gemauert, die sich aneinander reihten und mit bunten Blumenkästen und vielen Markisen geschmückt waren. Manche der Häuschen waren so schief, dass der Turm von Pisa hätte neidisch werden können, aber kein einziges Gebäude kam ohne ein Lädchen, ein Café oder ein Weinstübchen aus. Alle Einwohner dieses Ortes schienen irgendetwas zu verkaufen zu haben. Und die vielen Menschen, die sich teils in und vor den Geschäften drängelten, gaben ihnen ja auch Recht.

Jeder Zentimeter an freier Fläche war genutzt. Es standen Kleider- und Postkartenständer vor den Häusern, die Restaurants und Gaststätten bestückten die Gehsteige und Plätze mit Tischen, Bänken, Sonnenschirmen und großen Schiefertafeln, auf denen Getränke, Kuchen, Weine und Liköre feilboten wurden. Kellnerinnen im Dirndl und mit Schürze liefen emsig durch die Reihen, nahmen Bestellungen auf oder luden an den Tischen ihre vollen Tabletts ab. Und Leon begriff sehr schnell, dass ein ruhiges freies Plätzchen nur sehr schwer zu ergattern sein würde. Hier hieß es mit der Masse mitschwimmen, oder wieder nach Hause gehen. Ein Ort zur Entspannung jedenfalls war das hier nicht, das war unübersehbar.

 

Dennoch, und das war durchaus erstaunlich, strahlte alles hier eine Gemütlichkeit aus, derer sich auch Leon nicht entziehen konnte. Trotz der vielen Menschen und den vollen Straßen erschienen die Gassen, die kleinen Plätze mit ihren Brunnen und Bänken, wie aus einer längst vergangenen Zeit. Ohne die Touristen, Restaurants und Verkaufsständer würde all ad hier eine perfekte spätmittelalterliche Kulisse für einen Film abgeben. Und er stellte sich kurz vor, dass sobald die Sonne hinter den Weinbergen versunken sein würde, Ruhe und Abgeschiedenheit einsetzte, in den Häusern würde Licht gemacht und aus den kleinen Fenstern, mit ihren Butzenscheiben, fielen matte Lichtkegel auf die gepflasterten Wege, über die nur noch vereinzelt hier oder dort eine Kutsche holpern würde, und das Geklapper der Pferdehufe hallt noch abklingend zu den geöffneten Dachfenstern hinauf. Ja, so müsste es sein, dachte Leon, als er langsam durch die Gassen schlenderte. So war es sicher noch vor hundert Jahren, so konnte er sich das vorstellen.

Sein Blick fiel auf ein sehr kleines Lädchen, das nun nur wenige Meter vor ihm lag. Das Haus war auffällig schmal, ja eigentlich nur eine Hälfte, die irgendwann einmal vor zweihundert Jahren in eine Baulücke zwischen zwei größeren Häusern hineingesetzt wurde. Das sah lustig aus, ganz anheimelnd, und er empfand bei dem Anblick ein fast warmes Gefühl. Die Sonne hatte das Häuschen gerade in ein helles Licht getaucht, und links sowie rechts der offen stehenden Eingangstüre stand jeweils ein hölzerner Stuhl, vor diesem ein winziger Tisch, auf dem dennoch eine hübsche kleine Blumenvase mit einem bunten Sträußchen gestellt war. In der Scheibe des einzigen Fensters neben der Tür war mit einem weißen Stift die kurze, knappe Weinauswahl des Geschäftes ausgeschrieben: Ein einziger Riesling, allerdings ganz offensichtlich in einigen Jahrgängen erhältlich. Leon gefiel nicht nur dieses halbe Puppenhaus mit seinem so winzigen Geschäft, auch der Name des dort ausgeschriebenen Weines fand er reizvoll: Liebeswölkchen. Wie romantisch, dachte Leon sofort, und da noch beide Stühle unbesetzt waren, diese Stelle tatsächlich ein wenig abseits und damit deutlich ruhiger lag, setzte er sich hin und dachte an die Empfehlung von Frau Theissen, sich doch einen schönen Riesling zu gönnen. Und es erschien ihm ganz plötzlich, als gäbe es keinen geeigneteren Platz, kein besseres Örtchen für dieses Vorhaben, als hier.

„Guten Tag, der Herr!“ Eine sympathisch klingende Stimme, mit so typischem Singsang im Unterton, wie Leon es noch in der Zukunft erfahren sollte, ertönte hinter ihm, und Leon drehte sich um.

Eine junge Frau stand in der Türe und lächelte ihn freundlich an. „Sie möchten meinen Riesling probieren?“ fragte das hübsche Gesicht, das unter einem lockigen, braunen Haarbüschel lustig hervorschien. Und Leon kam nicht umhin, sofort die blitzenden Augen zu bemerken, die ihn interessiert und fröhlich anstrahlten.

„Gerne!“ antwortete Leon höflich. „Welchen Ihrer Liebeswölkchen können Sie mir denn empfehlen?“

Die hübsche junge Frau trat einen Schritt aus der Tür auf Leon zu. „Nun, das hängt sehr von Ihrem Geschmack und Ihrer Präferenz ab. Natürlich ist der jüngste aus dem Sortiment, die Vorjahreslese, ganz gewiss zu empfehlen. Es war ein gutes Jahr, mit viel Sonne und somit angenehmer Frucht. Ein wenig Säure ist aufgrund des jungen Alters natürlich noch vorhanden. Falls Sie eine solche nicht so gern haben, empfehle ich ein paar Jahre zurückzugehen und Sie zum Beispiel die nun schon vierjährige Lese probieren zu lassen. Ebenso mit großer Fruchtigkeit, leichter Süße, bereits schon ein wenig öliger Konsistenz. Mit einer sanften Pfirsichnote und einem wunderbaren Abgang, der Sie begeistern wird.“

Leon zögerte nicht lange. „Womit sollte ich anfangen …?“

Das Lächeln der jungen Frau wurde noch einmal strahlender: „Beginnen Sie mit dem jungen Riesling. Ich werde Ihnen nur ein halbes Gläschen einschenken, damit Sie hiernach noch den einen oder anderen probieren und genießen können. Einverstanden?“

Leon nickte zufrieden. Er war mehr als einverstanden.

Im Nu stand ein zweifingerhoch gefülltes Weißweinglas vor ihm. Ein helles Gelb leuchtete in der Sonne, und als Leon an dem Glas zu riechen begann, zog ihm ein fruchtig leichtes Bouquet in die Nase, setzte sich an seinem Gaumen ab und erfüllte seinen Sinn mit einer Leichtigkeit und Frische, die er so nicht erwartet hatte. Leon nahm einen winzigen Probierschluck, und er stellte sofort fest, dass dieser Riesling, obwohl noch jung und frisch, eine bemerkenswerte Qualität aufwies, die sicher nicht gewöhnlich war.

Die junge Frau beobachtete Leon aufmerksam, aber auch gespannt auf seine Reaktion. Und als sie merkte, dass ihm der Wein mundete, hüpfte ihr Herz ganz kurz einmal auf. Und ihr Gast schien verständig zu sein, genießen zu können. Sie drehte sich um und ging leise wieder zurück in ihr Geschäft. Er würde vielleicht sogar ein oder zwei Flachen mitnehmen wollen. Sie würde sich darüber freuen.

Ein feines Plätzchen, schoss es Leon nun durch den Kopf. Ein wenig abseits der Touristenströme, in einem ruhigen Gässchen mit Sonne und einem mehr als trinkbaren Glas Riesling. Die Hektik war wie fortgeblasen, die Masse verirrte sich hierher wohl nicht, der Herdentrieb funktionierte zu gut. Das Herz der Lemminge schlägt eben eindeutig anders.

Vor der Türe hielt der Postbote, in der Hand ein paar Briefe, und rief durch die offene Tür ins Haus hinein: „Isabella! Poooost!“

Leon vernahm ein paar schnelle Schritte, dann erschien die junge Frau in der Türe und hielt dem Boten ein gut gefülltes Glas mit bernsteinfarbenem Inhalt entgegen. Mit einer Selbstverständlichkeit, natürlich nicht ohne ein wenig zu lächeln, ergriff dieser das Glas und überreichte der edlen Spenderin im Gegenzuge die Post, worauf die junge Frau, die offensichtlich Isabella hieß, dankend nickte, nicht ohne einen schnellen Seitenblick auf ihren sitzenden Gast zu werfen.

Leon beobachtete die sich vor ihm gerade abspielende Szene mit einem neugierigen Interesse. Der Postmann schien ein Kenner zu sein, zudem auch sein Tagwerk mit großer Gelassenheit und bar jeder Eile zu begehen. Denn mitnichten stürzte er das Glas hinunter. Vielmehr nippte er fachmännisch, ließ den winzigen ersten Schluck in seinem Gaumen kreisen, spitzte dabei die Lippen, als wolle er ein Lied pfeifen, bis er nach etwa vier bis fünf Sekunden den edlen Tropfen in seiner Kehle verschwinden ließ. Es folgte vernehmlich ein Schluckgeräusch, hiernach zufriedenes Schmatzen, begleitet von einem Einziehen von Luft in den nun wieder leicht gespitzten Mund. In kurzen Zeitabständen wiederholte der Mann das Spiel, einmal hielt er das Glas schräg gegen die Sonne, lies es kurz kreisen, und steckte dann seine Nase, die jetzt Leon als auffällig lang erschien, wie einen Rüssel tief in das Gebinde hinein, um kurz darauf einen etwas größeren Schluck zu nehmen.

Er sprach dabei kein Wort, und es störte ihn auch nicht im Geringsten, dass ihn sowohl die junge Frau, als auch der sitzende Gast in dieser Prozedur nicht aus den Augen ließen. Was Isabella anbelangte, war ihre Aufmerksamkeit dem Ansatz geschuldet, im Postmann einen wohl durchaus geeigneten Qualitätsprüfer ihres Weines zu wissen, so war sie einfach nur auf dessen Urteilsfindung gespannt. Leon hingegen amüsierte die Szene als solche. Ein Postbote als Weinexperte, der wohlmöglich nicht nur hier seine Kostproben erhält, sondern auch an anderen Orten, an denen ebenfalls Weine offeriert wurde, das ganze Städtchen war ja voll mit solchen. Wohlmöglich würde er auf diese Weise täglich mit einem netten Schwips in den Feierabend gehen, mitunter dann auch einmal gut gefüllt. Nach Leons Vermutung müsste der Dienstmann somit Junggeselle sein, denn welche Ehefrau möchte es erdulden, dass der Vater ihrer Kinder täglich berauscht nach Hause kommt.

Als das Glas leer war, nickte der Postbote mit einem kaum vernehmbaren Grunzen in die Richtung der jungen Frau, reichte ihr das Glas zurück, wischte sich noch kurz mit dem Handrücken über den Mund, und sodann drehte er sich um und schob sein Fahrrad mit samt der noch auszutragenden Post für alles Nachfolgende von dannen. Leon schaute ihm noch einige Zeit hinterher, unschlüssig, ob er ihn für seinen Job beneiden, oder ob er besser die Trinkfestigkeit des Mannes bewundern sollte. Die junge Frau war währenddessen schon wieder in ihrem Lädchen verschwunden, denn sie hatte bemerkt, dass ihr nunmehr wieder einziger Gast sein Glas noch nicht geleert hatte.