The Rolling Stones

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Eines Abends kommt dieser Kerl in die Bar spaziert, mit seiner seitlich aufgesetzten Kappe, verstehst du. Und das ist Elmore.

Warren George Harding Lee Jackson: „Living Blues“

valentino, eine grau gefleckte Tigerkatze, die einmal Brian gehört hatte, gähnte und streckte sich auf der Terrasse. Keith und ich saßen auf einem marokkanischen Teppich im Garten neben dem Haus; der neun Monate alte Marlon, der 1969 geboren wurde, krabbelte nackt im Gras herum und kleine gelbe Stückchen Babykot schossen aus seinem Hintern. Seine Mutter Anita, deren Augen Funken sprühten, hielt sich noch oben im mit Wandteppichen geschmückten Schlafzimmer auf, wo sie und Keith schlie­fen und auf der Kommode ein kleines Foto von Brian in einem Silberrah­men stand. Auf der Innenseite des Klodeckels der Toilette im Unterge­schoß befand sich eine Collage aus Fotos der Rolling Stones. Diese Leute hielten mit nichts hinterm Berg. Als ich die erste Nacht in Keiths Haus ver­brachte, warf Anita eine Decke neben mich auf das Kissen, wo ich lag. „Du brauchst kein Leinen, oder?“ fragte sie.

„Nein, es geht schon“, sagte ich.

„Mick besteht auf Leintücher“, sagte sie, „schreib’s in das Buch.“

Redlands, ein strohgedecktes, sieben Jahrhunderte altes Haus in der Nähe von Dover an der englischen Südküste, diente Keith Richards seit 1965 als Landsitz. 1967 war er hier zusammen mit Mick Jagger verhaftet worden. An diesem Morgen erschien der Ort im blassen Sonnenlicht des Frühlings wie ein Hospital für Veteranen und Keith und ich wirkten wie zwei alte Soldaten, die regelmäßig ihre Medizin nehmen und über die alten Zeiten reden.

„Die Familie meines Urgroßvaters ist im neunzehnten Jahrhundert von Wales nach London gekommen“, sagte Keith, „und daher war mein Großvater, der Vater meines Vaters, ein Londoner. Seine Frau, meine Großmutter, war während des Krieges Bürgermeisterin von Walthamstow, einer Stadtgemeinde von London. Das war der absolute Höhepunkt des Ruhms der Familie. Sie waren sehr puritanische, sehr gradlinige Leute und sind jetzt beide schon tot. Aber dann war da noch Gus, mein Großvater mütterlicherseits, Theodore Augustus Dupree. Er war ein kompletter Freak. In den Dreißigern hatte er eine Tanzband, spielte Saxophon, Geige und Gitarre. Der abgedrehteste und verrückteste Alte, den man je treffen kann. Diese Seite der Familie kam von den Kanalinseln nach England. Sie waren Hugenotten, französische Protestanten, die man im 17. Jahrhundert aus Frankreich vertrieben hatte. Und Mitte des 19. Jahrhunderts kam der Vater von Gus nach Wales, nach Monmouth.“

Und er erzählt weiter: „Gus war so lustig. Er hatte sieben Töchter, die immer ihre Freunde mit nach Hause brachten und dann steif und förm­lich herumsaßen, während er im oberen Stockwerk Kondome aus dem Fenster baumeln ließ. Es gibt so viele Geschichten über ihn, dass ich mich nicht einmal an eine einzige hieb- und stichfeste Story erinnern kann. In den späten Fünfzigern spielte er Fiedel in einer Country-&-Western-Band und tingelte durch die amerikanischen Luftwaffenstützpunkte in England. Er ist ein Freund von Yehudi Menuhin. Gus bewunderte ihn und musste ihn einfach kennenlernen. Er ist einer dieser Jungs, die sich immer alles, was sie wollen, irgendwie ergaunern können. Ich könnte mir vorstellen, dass er ein wenig wie Furry Lewis ist. Und vom Zusammenleben mit all seinen Frauen hat er einen echten Sinn für Humor. Denn mit acht Frau­en im Haus wird man entweder verrückt oder man lacht darüber. Es war übrigens seine Gitarre, auf die ich als Kind abgefahren bin. Meine Großmutter spielte mit meinem Großvater immer Klavier, bis sie ihn, glau­be ich, eines Tages beim Herummachen mit einer anderen Frau erwisch­te, was sie ihm nie verziehen hat. Sie weigerte sich von diesem Zeitpunkt an, das Klavier wieder anzurühren und sie hat es bis zum heutigen Tag nicht mehr gespielt, seit den dreißiger oder vierziger Jahren. Ich glaube, sie hat sich seither sogar geweigert, mit ihm zu bumsen. Sehr eigenartig.“

Keiths Eltern waren schon lange zusammen, bevor sie heirateten. „Ich glaube, sie lernten einander 1934 kennen, vielleicht sogar 1933, und 1936 haben sie geheiratet. 1963 trennten sie sich. Das ist, was mich anbelangt, der sonderbare Teil der Geschichte. Sie haben sich gleich getrennt, nach­dem ich von zu Hause ausgezogen war, faktisch innerhalb von Monaten. Ich denke, das liegt hauptsächlich daran, dass mein alter Herr im Zusam­menleben mit einer Frau unvorstellbar langweilig sein kann. Er arbeitet nach wie vor in einer Firma der Elektronikbranche, als Vorarbeiter oder so. Er hat sich dort hochgearbeitet, seit seinem einundzwanzigsten Le­bensjahr. Immer sehr sittenstreng, prüde – niemals betrunken, sehr kon­trolliert, sehr unlocker. Ich muss schon sagen, dass er sehr unlocker war. Das Seltsame ist, dass ich, weil ich ihn noch immer mag, gewisse Dinge an ihm ziemlich liebenswert finde. Aber der Bastard will nichts mehr mit mir zu tun haben, seit er sich von meiner Mutter getrennt hat – ich glaube, weil ich zu meiner Mutter nach der Trennung noch immer ein gutes Verhältnis hatte. Da hat er sofort zugemacht. Ich hab’ ihm ein paarmal ge­schrieben. Zum Beispiel, als ich eingebuchtet wurde, weil ich ihm die Angelegenheit erklären wollte; ich wollte nicht, dass er das alles aus den Zei­tungen erfährt. Aber ich habe keine Antwort bekommen, was mich ziem­lich frustriert hat. Hab’ seit 1963 nichts von ihm gehört. Sieben Jahre.“

„Standest du ihm als Kind sehr nahe?“

„Nein, es war nicht möglich, ihm besonders nahe zu kommen; er konn­te sich nicht öffnen. Aber er war immer gut zu mir.“

„War er streng, als du älter wurdest, beispielsweise wenn du ausgehen wolltest?“

„Er versuchte es. Aber ich glaube, er gab es dann auf – wegen meiner Mutter, die den Hang hatte, mir nachzugeben, besonders als ich älter wurde. Und … ich glaube, er hat mich einfach aufgegeben. Ich habe ihn unglaublich enttäuscht.“

„Du hast dich als Dupree entpuppt statt als Richards …“

„Genau. Ich bin wirklich nicht einmal annähernd so geworden, wie er es gewollt hätte.“

„Wo lebt er?“

„Soviel ich weiß, immer noch dort, wo wir alle gelebt haben, in die­sem furchtbaren, gottverdammten Gemeindewohnhaus in Dartford. Das ist achtzehn Meilen Richtung Osten am Stadtrand von London, gleich außerhalb der Vororte, wo die ländliche Gegend beginnt. Er hat es wirk­lich nicht verstanden, auch nur irgendwas zu riskieren. Dieser gottver­dammte, seelenzerfressende Gemeindebau. Eine Mischung aus schreckli­chen Wohnblocks und fürchterlichen neuen Straßen voller Doppelhäuser, alle in einer Reihe, alle neu, ein echter Betondschungel, ein wirklich ge­schmackloser Ort. Und weil er so rein gar nichts riskieren wollte, unter­nahm er nicht einmal den Versuch, uns dort rauszukriegen, was meiner Mutter, soweit es ihn anging, schließlich den Rest gegeben hat. Ich werde ihn eines Tages besuchen gehen müssen, und sei es nur, weil ich nicht so verbohrt sein werde wie er. Eines Tages werde ich ihn mir einfach schnap­pen und versuchen, zu ihm durchzudringen, ob es ihm passt oder nicht.“

„Er hat nicht wieder geheiratet?“

„Nicht dass ich wüsste. Ich kann mir nicht einmal vorstellen, dass er sich genug zusammenreißt, um eine andere Frau zu finden. Er wird eher ver­bittert bleiben und sich selbst bemitleiden. Es ist eine Schande. Was mich anbelangt, hätte ich ihn gerne hier. Er ist ein Gärtner, er könnte sich um das Anwesen kümmern und er würde es gerne tun, wenn er wirklich ehr­lich zu sich selbst wäre. Und ich würd’ wirklich drauf steh’n, wenn er ein­fach hier leben und sich um alles kümmern würde.“ (Zehn Jahre später gliederte Keith seinen Vater tatsächlich wieder der Familie ein, allerdings ohne vorgetäuschtes Gefühl von beiden Seiten. Als Bert Richards 1983 in Keiths Haus auf Jamaika ein Telefo­nat entgegennahm, sagte der anrufende Freund: „Sie müssen sehr stolz auf ihn sein.“ – „Na ja …“, meinte sein Vater, der sich nicht festlegen wollte.)

„Wie war deine Einstellung zur Schule?“

„Ich wollte verdammt noch mal nichts wie raus. Je älter ich wurde, desto mehr wollte ich weg. Ich wusste einfach, dass ich es nicht schaffen würde. In der Primary School hatte man nicht allzuviel zu tun, aber als ich später diese verdammte Technical School in Dartford besuchte, war die Gehirnwäsche ganz offensichtlich. Vom fünften bis zum siebten Lebens­jahr ging ich in die Primary School, die erste Stufe der Grundschule, die zumindest damals in England ‚Kinderschule‘ genannt wurde. Als ich gleich nach dem Krieg eingeschult wurde, lehrten sie die grundlegenden Dinge, aber hauptsächlich war es eine Indoktrination, wer zu wem ja zu sagen hatte und wie man sich in die Klasse einfügen sollte. Darauf hat man sich also für die nächsten zehn Jahre eingelassen. Mit sieben geht man dann in die Junior School. Dort, in der Wentworthschule, habe ich Mick kennen­gelernt. Er wohnte zufällig in der Nähe und wir haben einander oft in der Nachbarschaft gesehen … auf unseren Dreirädern. In der Junior School werden die Kids jedes Jahr in drei Gruppen eingestuft – schnelle, durch­schnittliche und langsame. Mit elf machst du eine Prüfung, die ‚Elf-Plus‘ heißt und ein großes Trauma darstellt, weil sie tatsächlich den Rest deines Lebens bestimmt, soweit es das System betrifft. Heutzutage ist wahrscheinlich mehr Psychologie im Spiel, aber damals wollten sie nur sehen, wieviel man gelernt hatte und ob man es niederschreiben konnte. Das entschied dann darüber, ob man in die Grammar School ging, wo man eine Art semiklassischer Ausbildung für die breite Masse be­kommt – oder in eine sogenannte Technical School, in die es mich ver­schlug und die eigentlich für Kids ist, die normalerweise ziemlich intelli­gent sind, sich aber mit dem Akzeptieren von Disziplin etwas schwertun. Die Schule für jene Kinder, die kaum Chancen haben, etwas anderes zu tun, als sich als Arbeiter oder Hilfsarbeiter ihr Brot zu verdienen, nennt man Secondary Modern. Für diejenigen, die das Geld dafür hatten, gab es noch jede Menge privater Internate, aber das war das staatliche Aus­bildungssystem. Nach meinem elften Lebensjahr verlor ich den Kontakt zu Mick, da er in eine Grammar School ging und ich die Technical School besuchte. Ich verlor ihn aus den Augen – für ungefähr sechs Jahre, was mir lange vorkam.“ Keith Richards, der jüngste der originalen Rolling Stones, wurde am 18. Dezember 1943 geboren. Michael Philip Jagger erblickte im selben Jahr und in derselben Stadt, Dartford, am 26. Juli das Licht der Welt. Mit vier Jahren war Micks Mutter von Australien, wo sechs Generationen ihrer Fa­milie gelebt hatten, nach Dartford gekommen. „Die Frauen in meiner Fa­milie sind nach Australien gegangen, um von den Männern wegzukom­men“, sagte sie. Sie heiratete Joseph Jagger, einen Turnlehrer, der aus einer streng antialkoholisch eingestellten nordenglischen Baptistenfamilie nach Dartford gekommen war. Von frühester Jugend an war ihr Sohn Michael an Leichtathletik und am Geldverdienen interessiert.

 

„Als ich zwölf Jahre alt war“, sagte Mick, „habe ich auf einem ameri­kanischen Armeestützpunkt in der Nähe von Dartford gearbeitet und an­deren Kindern Turnunterricht gegeben – weil ich gut darin war. Ich musste ihre Spiele lernen, also habe ich Football und Baseball gelernt, all die ame­rikanischen Spiele. Es gab da einen schwarzen Typen namens José, einen Koch, der mir R&B-Platten vorspielte. Das war das erste Mal, dass ich schwarze Musik hörte. Es war in der Tat mein erstes Zusammentreffen mit amerikanischem Gedankengut. Sie begruben eine Flagge, ein Stück Stoff, mit allen militärischen Ehren. Ich fand das lächerlich und sagte es auch. Sie fragten: ‚Wie würdest du es empfinden, wenn wir etwas über die Queen sagen würden?‘ Ich antwortete: ‚Es wäre mir egal, ihr würdet ja nicht über mich reden. Der Queen würde es vielleicht etwas ausmachen, mir nicht.“

Wir unterhielten uns an vielen verschiedenen Orten – bei Filmdrehs, in Motelzimmern, in Flugzeugen, in Micks Haus am Cheyne Walk, während Marsha Hunt, die afroamerikanische Schauspielerin, mit Micks erstem Kind schwanger war und ihren Busen unter einem indischen Hippiekleid mit Klebeband befestigt hatte und auch im nur ein paar Schritte entfernten Haus wohnte, das Keith in London gehörte.

„Diese Technical School war das komplett falsche Ding für mich“, sagte Keith. „Mit den Händen arbeiten, mit Metall arbeiten. Ich kann nicht ein­mal ordentlich ein Inch abmessen und die zwangen mich, eine Reihe von Löchern zu bohren, auf ein Tausendstel Inch genau. Ich habe getan, was ich konnte, damit sie mich rauswarfen. Ich habe vier Jahre gebraucht, aber ich habe es geschafft.“

„Du wolltest hinausgeworfen werden? Indem du geschwänzt hast?“

„Das nicht so sehr, denn dafür tun sie dir zuviel an. Es erschwert das Leben. Ich wollte es mir leichter machen. Damals brach gerade der Rock ’n’ Roll über die Szene herein, und das spielte auch eine gravierende Rolle in meiner Entscheidung. Die erste Rock ’n’ Roll-Platte, auf die ich echt ab­gefahren bin, war ‚Heartbreak Hotel‘.“

„Hast du den Film ‚Blackboard Jungle‘ gesehen?“

„Yeah, das war die erste Teddy-Boy-Szene mit Sesselzertrümmern. Ich war damals sehr jung. Ich absolvierte also das erste Schuljahr, das zweite, das dritte, und am Ende des dritten Jahres hatte ich so viel Mist gebaut, dass ich es wiederholen musste; sie wollten mir eins auswischen. Ich hab’ also das dritte Jahr wiederholt, dann das vierte absolviert, und am Ende des vierten Jahres – alle anderen waren schon mit dem fünften fertig – trieb ich es so auf die Spitze, dass sie mich endlich rauswarfen – wobei der Höhe­punkt eine ganze Serie von Schwänzereien war, die sie sich von mir nicht bieten ließen. Es ging darum, dass ich immer viel zu früh von der Schule abhaute und generell immer das genaue Gegenteil darstellte von dem, was ihren Anforderungen entsprochen hätte. Ich trug zum Beispiel immer zwei Paar Hosen zur Schule – eine, die sehr eng war und eine weit geschnitte­ne, die ich überzog, sobald ich mich der Schule näherte, weil sie dich mit engen Hosen wieder heimschickten. An den englischen Schulen musste man die Schul-Uniform tragen. Die Kappe, ein sehr eigenartiges Ding, wie eine Schädeldecke mit Zipfel dran und dem Schulabzeichen vorne drauf. Und einen dunklen Blazer mit einem Aufnäher auf der Brusttasche, dazu eine Krawatte und graue Flanellhosen. Ich weigerte mich, den Schulweg in diesen verdammten Klamotten zurückzulegen. Aber bei meinem Hin­auswurf besorgten sie mir als eine letzte wohltätige Geste einen Platz an der Kunstschule.“

Das war das Beste, was die Schulverwaltung überhaupt für Keith tun konnte, „weil die Kunstschulen“, so fährt er fort, „in England sehr abge­treten sind. Die Hälfte der Lehrer arbeitet sowieso in Werbeagenturen und um der Kunst und des Extraverdienstes willen unterrichten sie viel­leicht einen Tag in der Woche. Freaks, Säufer, Kiffer. Außerdem gibt’s viele Kids. Ich war fünfzehn, viele Kids waren mit neunzehn im letzten Jahr. In den Kunstschulen ist in puncto Musik ziemlich viel los. Dort verfiel ich auch der Gitarre, weil es viele Gitarristen gab, die alles von Big Bill Broonzy bis Woody Guthrie gespielt haben. Ich fuhr auch auf Chuck Berry ab, obwohl ich das typische Kunstschulenzeugs gespielt habe, den Guthrie-Sound und den Blues. Nicht wirklich Blues, meist Balladen und Material von Jesse Fuller. In der Kunstschule lernte ich Dick Taylor, einen Gitarristen, kennen. Er war der erste Typ, mit dem ich spielte, etwas Blues und Chuck-Berry-Nummern auf Akustikgitarren, und damals hatte ich dann auch einen ersten kleinen, mistigen Verstärker. Es gab da noch einen anderen Typen namens Michael Ross in der Kunstschule, der eine Country-&-Western-Band gründete – echte Liebhaber, die Nummern von Sanford Clark und ein paar Songs von Johnny Cash spielten, ,Blue Moon Of Kentucky’. Das erste Mal, dass ich eine Bühne betrat und spielte, das war mit dieser C&W-Band. Ich erinnere mich an einen Auftritt bei einem Sport-Tanzfest in Eltham, nahe Sidcup, wo die Kunstschule war.“

Mit fünfzehn verließ er also die Technical School. „Drei Jahre lang be­suchte ich die Kunstschule. Ich stand gerade am Anfang meines letzten Jahrs, als Mick und ich einander zufällig im Zug an der Dartford-Station trafen. Zwischen elf und siebzehn verändert man sich ziemlich stark. Ich hatte also keine Ahnung, wie er sein würde. Es war so, als träfe man einen alten Freund, lernte aber gleichzeitig einen neuen Menschen kennen. Er hatte die Grammar School verlassen, besuchte die London School of Economics und machte schwer auf Studententyp. Er hatte ein paar Platten dabei und ich fragte: ‚Was hast ’n da?‘ Es stellte sich als Chuck Berry heraus, ‚Rocking At The Hop‘. Er sang im Bad Sachen, die er etliche Jahre zuvor mit einer Rockband gebracht hatte, ,Sweet Little Sixteen‘, Stücke von Buddy Holly und Eddie Cochran, in Jugendclubs in Dartford, aber als ich ihn traf, hatte er das schon eine Zeitlang nicht mehr gemacht. Ich erzählte ihm, dass ich mit Dick Taylor herumspielte. Dabei kam heraus, dass Mick Dick Taylor von der Grammar School her kannte. Na prima, warum tun wir uns dann nicht einfach alle zusammen? Eines Abends sind wir dann zu Dick gegangen und haben geprobt, einfach eine Jam Session gemacht. Das war das erste Mal, dass wir miteinander gespielt haben. Nur Zeug fürs Hinterzimmer, nur für uns selbst. Wir begannen also, was auf die Beine zu stellen, in Vorderzimmern und in Hinterzimmern und vor allem bei Dick Taylor zu Hause. Wir spielten Sachen von Billy Boy Arnold, ,Ride An Eldorado Cadillac‘, von Eddie Taylor, Jimmy Reed. Ich glaube nicht, dass wir uns in dieser Phase schon an Muddy Waters oder Bo Diddley versucht haben. Mick machte mich mit einer Menge Sounds vertraut, die ich noch nicht gehört hatte. Er hatte Platten von Ernie’s Re­cord Mart importiert.“

„Damals war traditioneller Jazz das große musikalische Ding für die jungen Leute – „einiges davon ziemlich funky, manches ziemlich flau und das meiste davon sehr, sehr flau. Rock ’n’ Roll war bereits in Richtung Pop abgedriftet, weil die Massenmedien jeden bedienen müssen. Die Musik war nicht segmentiert, so dass die Kids sich eine einzelne Radiostation hät­ten anhören können. Alles kam in einen Topf und verdickte sich schließ­lich zu dem, was der Durchschnittsmensch hören will, und das ist durch­schnittlicher Schrott. Wie auch immer – es kam damals keine gute Musik aus dem Radio, es gab keine gute Musik von den sogenannten Rock ’n’ Roll-Stars. Es gab rein gar nichts. Ungefähr zur gleichen Zeit kriegen Mick und ich die Sache mit Dick Taylor auf die Reihe, versuchen herauszufin­den, worum es überhaupt geht, wer was spielt und wie sie es spielen, und Alexis Korner gründet in einem Club im Westen Londons, in Ealing, zu­sammen mit einem Mundharmonikaspieler namens Cyril Davies, einem Arbeiter auf dem Autofriedhof einer Mülldeponie, eine Band. Cyril war in Chicago gewesen und hatte im ‚Smitty’s Corner‘ mit Muddy Waters gespielt, weshalb er eine sehr große Nummer war. Er war ein guter Harmonikaspieler und ein begnadeter Nachtmensch; er trank Bourbon wie ein verdammter Fisch. Alexis und Cyril stellten diese Band zusammen und kein anderer als Charlie Watts spielte Schlagzeug. Es war, soweit be­kannt, der einzige Club in England, in dem sie was Ordentliches spielten. In der zweiten Woche nach der Eröffnung gingen wir hin. Dabei sahen wir den ersten Gastmusiker mit der Band spielen – Alexis steht auf und sagt: ‚Und jetzt, Leute, ein sehr feiner Bottleneck-Gitarrist, der den ganzen Weg von Cheltenham gekommen ist, um heute Abend hier zu spielen‘ -, und plötzlich steht da oben der gottverdammte Elmore James, ,Dust My Broom‘, wunderschön gespielt, und das ist Brian.“

5

Wenn der Narr auf seiner Torheit beharrte,

so würde er weise.

William Blake: „Die Hochzeit von Himmel und Hölle“

es war nach elf Uhr vormittags, als ich die Halle hinunter und auf den Kühlschrank mit dem frischen Fruchtsalat zukrabbelte und hoffte, dass er die Kopfschmerzen lindern würde, die mir als Souvenir vom Kokainkon­sum der letzten Nacht geblieben waren. David Sandison, der gerade aus dem Büro kam, tauchte schemenhaft vor mir auf und sein Gesicht war traurig wie das eines Bassethundes. Er fragte, ob ich gerade aufgestanden wäre, ich sagte brüsk: „Stimmt“ und hatte es auf den dickflüssigen Apfel­saft, die kalten Erdbeeren, die Ananas- und Orangenspalten abgesehen –könnte sein, dass sie dich zu bestehlen versuchen, aber hungern lassen wür­den sie dich nie. Sandison sagte: „Dann hast du noch nicht von Kerouac gehört.“

„Was ist mit ihm?“

„Er ist tot.“

„Wo hast du das gehört?“ fragte ich, weil man solche Dinge nie glau­ben will.

„Es war heute morgen im Radio. Er ist vergangene Nacht gestorben. Er lebte in Florida. Hast du das gewusst?“

Ich antwortete nicht, weil ich in meinen Gedanken gerade im Bus von Waycross nach Macon, Georgia, fuhr, Lumber City vor uns, und eine Ge­schichte in einem Buch las, das ich aus der Okefenokee-Regionalbibliothek entliehen hatte, da es in Waycross keine Buchhandlung gab, wenn man vom Laden, der Bibeln verkaufte, absieht. In der Geschichte sang ein mexikanisches Mädchen einem jungen Amerikaner jenen Song von Piano Red vor, den wir immer in der Jukebox am See spielten, wo ich mit mei­nen Highschool-Freunden tanzte und Autorennen veranstaltete und Liebe im Auto machte. Noch nie hatte ich eine Story wie diese gelesen. Die Leute darin fuhren schnell und liebten einander in Autos, und das ließ mein Leben mehr wie etwas erscheinen, worüber man liest – oder wie der Song es ausdrückte: „If you can’t boogie, you know I’ll show you how.“ Dann erinnerte ich mich daran, dass die einzige Arbeit, die ich auf Grund eines vorliegenden Vertrages zu erledigen hatte, eine Story für „Esquire“ über Kerouac war. In Erwartung einer Nachricht von den Stones hatte ich die Reise für ein Interview nach Florida aufgeschoben. Der Gedanke kata­pultierte mich in die Gegenwart zurück, wo ich immer noch hungrig auf einer Couch im Wohnzimmer saß. Meine Stimmung hatte sich verändert und ich machte mir ein Schinkensandwich und trank ein Bier.

Mick, Mick und Keith waren eingetroffen. Jagger hielt sich im Büro, dessen Tür geschlossen war, auf, während Keith mit Mick Taylor Tennis spielte und dann im Pool zur Schau stellte, was er „die über sechs Jahre an den Stränden dieser Welt perfektionierte Form“ nannte. Nur sechs Jahre ein Rolling Stone und er sah aus wie hundert. Wie alt hatte Kerouac aus­gesehen? Grimmig beobachtete Sandison Keith beim Schwimmen. Bevor er sich ins Publicity-Spektakel gestürzt hatte, war Sandison Reporter für eine englische Kleinstadtzeitung gewesen. Sowohl sein Körper als auch sein frühzeitig kahl werdender Kopf waren birnenförmig; Kerouac hatte ein den Birnenförmigen unbekanntes Vagabundenleben geführt. Sandison fühlte sich wirklich so, als wäre ihm etwas weggenommen worden. Er er­zählte Keith von Kerouac, und obwohl Keith ihn niemals gelesen hatte, schwamm er ein paar Stöße lang gleichsam ernsthafter.

 

Als Keith wieder angezogen war und zurück zum Haus ging, erinner­te ich mich daran, dass ich ihm mitteilen wollte, dass ich den Brief ge­schrieben hatte. „Yeah“, sagte er, „ich werde mit Mick darüber reden“, und versetzte mich damit wieder in eine gedrückte Stimmung. Die Dinge schienen sich nie über diesen Punkt hinaus zu entwickeln, aber ich ging zurück in mein Oz-Zimmer und holte den berühmtberüchtigten Brief. Als ich eine Minute später zurückkam, war Keith weg. Jagger saß mit Jo Berg­man auf einer Couch im Wohnzimmer, besprach Geschäftliches und run­zelte die Stirn. Ich schaute in den Hinterhof, sah niemanden und ging dann nach vorne, wo ich Mick Taylor alleine antraf. Ich sagte nicht: „Wo zum Teufel ist Keith?“, sondern bemerkte leichthin: „Verrücktes Business, lau­ter Leute, die herumrennen.“ Es war der erste Satz, den ich, soweit ich mich erinnern kann, zu Mick Taylor sagte. Er lächelte einfach und mein­te: „Mir sind die Business-Angelegenheiten egal, solange ich mich nicht darum kümmern muss.“ Dann erst fragte ich: „Wo zum Teufel ist Keith?“

„Er ist mit Charlie gerade auf dem Weg ins Studio.“

Ich ging wieder rein und dachte, zur Hölle damit.

Dann blickte Jagger auf, als ich vorbeiging und fragte: „Gibt es da nicht einen Brief, den jemand von mir unterschrieben haben will?“ Jetzt runzelten wir beide die Stirn. Ich zog den Brief hervor und er unterschrieb ihn. Jo stand hinter der Couch und dachte gar nicht daran, nicht über un­sere Köpfe hinweg mitzulesen.

Ich hatte die Namen der Stones in der Reihenfolge aufgeschrieben, in der ich ihre Unterschriften einzusammeln gedachte – Jagger, Richards, Watts, Wyman, Taylor. Denn ich wusste, dass auch die anderen unter­schreiben würden, wenn erst einmal Jagger und Richards unterschrieben hatten. Ich fuhr also mit den beiden Micks am „Whisky-à-Go-Go“ und an der Hollywood High School vorbei zum Sunset Sound Studio, wo sie ihr neues Album fertigstellten. Ich bat Keith, der auf einer Couch vor dem Mischpult rumhing, den Brief zu unterschreiben. Er tat es, aber an der falschen Stelle. „Macht nichts“, meinte ich, und obwohl Mick Taylor am Ende der Liste stand, gab ich ihm das Papier und den Stift, weil er neben Keith saß, und er unterschrieb. Charlie beugte sich über die Mischpultkonsole und unterzeichnete ebenfalls. Damit waren es vier von fünf. Ich ging in einen Büroraum und rief Wyman im Beverly Wilshire an, wo er und Astrid noch immer untergebracht und damit gar nicht glücklich waren. Er sagte, dass er nicht ins Studio, dafür aber gegen halb acht zum Dinner ins Oriole-Haus kommen und dann unterschreiben wolle. „Das wird ja in Ordnung sein, oder?“ fragte er, und ich sagte: „Klar doch.“ Aber ich woll­te den Brief noch heute abend losschicken. Die Tournee würde bald be­ginnen, ich erwartete große Ausgaben und ich wusste instinktiv, dass es endlos dauern würde, einen Vertrag zu bekommen und noch länger, um bezahlt zu werden.

Als ich in den Regieraum des Studios zurückging, brachen Charlie und Mick Taylor gerade auf und ich fuhr mit ihnen zurück zum Oriole-Haus. Wyman und Astrid kamen zum Dinner herüber, weil sie genug davon hat­ten, in Lokalen zu essen, und wir gingen aus, weil wir genug davon hat­ten, daheim zu essen. Es gab nichts, worüber ich mir Sorgen machen musste – außer, dass wir weggehen könnten, bevor Wyman eintreffen würde, also machte ich mir darüber Sorgen. Aber gerade als wir gehen wollten, kamen sie herein und setzten sich zu ihrem Dinner. Ich legte den Brief neben Wymans Teller und bat ihn zu unterschreiben. Er las ihn durch und ließ sich Zeit. Ich hatte schon länger gewartet als mir lieb war. „Genau da“, sagte ich, während ich ihm einen Kugelschreiber gab. Wyman nahm den Brief und fragte: „Es macht dir doch nichts aus, wenn ich ihn lese, oder?“ Ich sagte: „Klar, mach nur, ist ja nur ein Satz, keine große Angelegenheit.“ –„Noch immer in der Defensive“, kommentierte Charlie, aber Bill unter­schrieb, ich steckte den Brief in mein Notizbuch und wir gingen.

Der nächste Schritt war, Kopien des Briefs anzufertigen und das Ori­ginal an meinen Agenten zu schicken, was ich aber vor morgen nicht würde machen können. Immerhin hatte ich den Brief, er war unterschrieben, be­fand sich in meinem Notizbuch, und das Notizbuch hatte ich in der Hand.

Wir rollten in einer Limousine an teuren Häusern in Straßen vorbei, die nach Vögeln benannt waren.

Das Dinner in einem trendigen Restaurant mit mieser Stimmung war nicht besonders lustig, aber danach trafen wir die anderen Stones im „Whisky-à-Go-Go“, um Chuck Berry zu hören.

Auf dem Strip, an der Ecke, vorbei an den angespannt und abwesend wirkenden Typen, die am Eingang herumhingen, hinein in die Dunkel­heit, ins Land der Träume, wo es heiß und rauchig und dicht bevölkert war – ein großer Schuppen mit einer kleinen, erhöhten Tanzfläche und der aufragenden Bühne in einer Ecke, unbekannte Leute, die nach berühm­ten Leuten Ausschau halten, Berühmtheiten, die sich gegenseitig suchen, und an Tischen in der Ecke die Rolling Stones, die sich nach niemandem umsehen. Ich saß mit Jagger, Keith und Wyman zusammen, eine seltsa­me Kombination. Junge Mädchen, zu zweit oder zu dritt oder gar zu siebt, gingen immer wieder, vielleicht sechsmal, an unserem Tisch vorbei, bevor sie den Mut aufbrachten, um die Autogramme der Stones zu bitten. Die Kellnerinnen umschwebten uns und hatten der Länge nach gefaltete Dollar­noten zwischen ihren Fingern.

Auf der Bühne waren vier weiße Musiker, laut und inkompetent. Eine Lightshow flackerte an zwei Wänden, eine war mit fruchtgeleefarbenen, flüssigen Blasen und sich drehenden Wirbeln und Strudeln bedeckt, während die andere Lachse zeigte, die einen kleinen Wasserfall hinauf­sprangen – ein Clip, der ständig wiederholt wurde und in Filmszenen mit einem japanischen Monster hineingeschnitten war, das vom Himmel kam, um die Erde zu verschlingen. Das Verschlingen von Tokio passte perfekt zum Rest der Action in dem Saal, wo die Leute versuchten, so echt zu sein wie Batman oder Wonder Woman oder eben Zontar, das Ding von der Venus, das dort an der Wand erzitterte.

Aber dann kam ein hagerer schwarzer Mann mit hohen Backenkno­chen und brütendem Blick auf die Bühne, der seine Gitarre so tief hängen hatte wie ein Revolverheld seinen Colt. Er spielte sie mit geradezu obszö­ner Fertigkeit und sogar Keiths Gesicht – das ärgste Image im Raum, das des Indianers, des Piraten, der Hexe, jenes Image, das dem Tod entgegengrinst – verwandelte sich wieder zurück in den englischen Schuljun­gen mit seiner Uniform und Kappe, der zum ersten Mal Chuck Berry hört. Es waren damals einige Jahre vergangen, bevor Keith Chuck Berry leib­haftig zu sehen bekam, da Berry im Gefängnis in Terre Haute, Indiana, einsaß, weil er eine vierzehnjährige indianische Nutte aus den falschen Gründen über die Grenze eines Bundesstaates mitgenommen hatte. Aber Keith und Jagger lernten Berrys Markenzeichen, den Duck Walk (Entengang) aus dem Film „Jazz On A Summer’s Day“, den Keith vierzehnmal sah. Als Chuck Berry später aus dem Gefängnis draußen war und Mick und Keith die Rolling Stones waren, trafen sie ihn, doch er zeigte ihnen, anders als viele ihrer musikalischen Idole, mehrmals die kalte Schulter, so dass sie ihn noch mehr respektierten und versuchten, ihn für die anste­hende Tour zu engagieren.