The Rolling Stones

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Just a kid actin’ smart

I went and broke my darlin’s heart

I guess I was too young to know

Die Kraft der romantischen Dichtung, deren Details von Coleridge und Wordsworth aus den Schriften von William Bartram über das Land und die Legenden rund um den Okefenokee-Sumpf geklaut waren, führ­te die beiden englischen Rhythm-&-Blues-Jungs Mick und Keith mit einem Country-Verrückten aus Georgia am Klavier zusammen, und gemeinsam sangen sie Songs von Hank Williams. Keiths Hund Okefenokee lernte ich erst später kennen; Mick schien sich nicht sicher zu sein, ob er an diesen Songs Gefallen fand.

Steckler redete ins Telefon: „In einer Woche ist schlecht. Wir brau­chen bis morgen zusätzliche Leitungen. Würde es helfen, wenn ich den Gouverneur anrufe? Das meine ich ziemlich ernst, meine Liebe.“

I’ll never see that gal of mine

Lord, I’m in Georgia doin’ time

I heard that long, lonesome whistle blow

Im Büro gleich neben dem Wohnzimmer – dass diese Villa wie ein Motel wirkte, habe ich bereits erwähnt – hielt sich ein weiterer Promotionmann auf, David Sandison aus England. Er jagte eine Pressemeldung hinaus, die ich über seine Schulter hinweg las. Sie sagte nichts über Brian Jones, sondern hielt nur fest, dass diese Tour „Mick Taylors Amerika-Debüt mit den Stones darstellt“. Sie verfluchte, ohne seinen Namen zu nennen, Ralph Gleasons Attacke auf die Stones und versicherte der Presse, dass „alle die Band unter den besten Bedingungen sehen und hören“ würden. Die Aussendung teilte auch noch mit, dass „dreizehn Städte auf dem Plan“ standen, worauf eine Liste von vierzehn Städten folgte, in denen die Stones spielen würden. Es freute mich zu sehen, dass ich nicht der einzige war, der nicht so recht wusste, was vorging.

In einem Alkoven des Büros gab es eine Bar mit Kühlschrank. „Willst du ein Bier?“ fragte Sandison und nahm sich selbst eins. „Nein, danke“, sagte ich. Das Büro war nicht schlecht, wie Büros halt so sind, mit Bücher­regalen rundherum an den Wänden und einem großen, von Papieren über­säten Tisch.

„Zuerst war geplant, dass sie jeweils drei Tage lang in drei verschie­denen Städten spielen sollten“, sagte Sandison, wobei er die grüne Heineken-Flasche öffnete und sich ein Glas eingoss. „Dann waren es sie­ben Städte.“ Er nahm einen großen Schluck, und ich sah, dort auf dem Tisch, zum Teil von anderen Papieren zugedeckt, jenen Brief meines Agen­ten an „Mr. Ronny Schneider“, von dem ich zwar gehört, den ich aber nicht zu sehen bekommen hatte.

„Jetzt sind es – wie viele? Fünfzehn?“ fragte Sandison.

„Sehr geehrter Mr. Schneider“, las ich. „Dieser Brief bestätigt … Ihre Einwilligung und die der Stones zur Zusammenarbeit … wir werden uns um die Zustimmung der Stones bemühen und sie auch erhalten … durch Ihr Büro vor einer Übereinkunft mit dem Verlagshaus … die Rolling Sto­nes werden am Erlös beteiligt …“

„Oder sind es dreizehn?“ fragte Sandison.

„… sind wir weiterhin einverstanden, dass der fertige Text mit den Sto­nes und ihrem Management abgeklärt wird …“

„Egal, morgen wird sich alles wahrscheinlich wieder ändern“, sagte Sandison, der von der Bar zurückkam, als ich den Brief in meinem Hemd verschwinden ließ.

„Mich würde gar nichts überraschen“, meinte ich und ging in die Halle hinaus, wo ich Schneider traf.

„Ich hab’ dich gesucht“, sagte er. „Wir müssen über deinen Deal reden. Zunächst einmal bin ich der Meinung, dass die Jungs die Hälfte kriegen sollten.“

„Sprich mit meinem Agenten“, sagte ich, und meinem Agenten woll­te ich untersagen, weiter mit ihm zu verhandeln. „Ich versteh’ nichts von dem Kram.“

Am frühen Nachmittag war ich die breiten, baumgesäumten Straßen entlang nach Memphis, Tennessee, hinausgefahren, wo ich lebte. Die Land­straße außerhalb der Stadt war von Eichen überwölbt und auf dem Weg zum Flughafen kam ich durch den alten und von Highways umgebenen Stadtkern. Weiter draußen erstreckte sich neben der Straße ein breiter Streifen Land, der vor zehn Jahren, als ich zum ersten Mal nach Memphis ge­kommen war, aus drei oder vier Farmen bestanden hatte – mit einem Maultier auf dem Feld, mit einer ungestrichenen oder einer mit ziegelge­musterter Teerpappe tapezierten Hütte und mit alten Fords, die in Vor­gärten vergammelten. Alte schwarze Männer in Overalls hatten auf der Veranda eine Pfeife geraucht; alles war von Armut und Geißblatt über­wuchert gewesen und all das war jetzt längst vergangen. Als ich vorbei­fuhr, gab es dort nichts als eine ausgedehnte Schlammfläche mit kleinen Wasserlachen und einer im zeitlosen Schlick wie ein Fossil versunkenen Fernsehbildröhre. Ich musste an dem schlammfarbenen Bürogebäude vor­bei, wo Christopher während der letzten vier Jahre Reservierungen für Omega Airlines entgegengenommen hatte. Sie kann, wenn ihr danach ist, eine Persönlichkeit nach der anderen annehmen, und sie hat – es sei mir erlaubt, dieses blauäugige, wasserfarbene Einhorn vorzustellen – unserer Katze Hodge das Alphabet beigebracht. Sie war von liebenswürdigem Charakter und ihre Manieren waren um nichts weniger nett. Wenn ihr nach Fluchen zumute war, pflegte sie „Ratten und Mäuse“ zu sagen. Die Ar­beit bei Omega nahm sie jedoch ziemlich her und das beeinträchtigte unser Zusammenleben. Die letzten drei Jahre, seit Christopher und ich in den Stand der Ehe getreten waren, hatte ich Flüge zum Familientarif unter­nommen, um die Stories zu recherchieren, die ich derart langsam schrieb, dass niemand sich vorstellen konnte, wie dringend ich das Geld brauchte.

Später saßen die Stones und ihr Anhang, alles in allem waren wir zwan­zig Leute, faul um einen in den Boden versenkten, weiß gedeckten Tisch im Yamato-E, einem japanischen Restaurant im Century Plaza Hotel, und warteten auf das Dinner. Es dauerte lange und irgend jemand – Phil Kaufman – ließ eine Handvoll Joints herumgehen. Kaufman, ein zwergenhaf­ter Germanentyp aus Los Angeles mit einem gelben Schnurrbart, hing mit Gram herum. Man hatte ihn engagiert, um mitzuhelfen, die Stones zu be­treuen, während sie in der Stadt waren. Er war wegen einer Drogenan­klage im Terminal Island Correctional Institute in San Pedro, Kalifornien, mit einem Kerl namens Charlie Manson eingesessen. Wir anderen hatten noch nichts von Manson gehört, was sich indes schon bald ändern sollte. Hingegen würde es noch einige Jahre – genau gesagt vier – dauern, bevor Kaufman in die Nachrichten kam, weil er Grams Leiche von einer Gepäckrampe des Flughafens in L. A. gestohlen und in der Mojave-Wüste verbrannte hatte. Während eines Gesprächs zwischen Gram und Phil war, einige Monate vor jener Nacht im September 1973, in der Gram eine Über­dosis Morphium und Alkohol erwischte, die Rede auf Bestattungsvor­kehrungen gekommen. Als ich einen Joint anzünden wollte, bemerkte ich, dass die anderen die ihren wegsteckten. Chip Monck, der während der letz­ten Tage herumgeflogen war, um die Licht- und Soundverhältnisse der Konzert-Locations zu überprüfen und der mir jetzt gegenüber schlafend und mit zur Seite geneigtem Kopf am Tisch saß, erwachte. Er sah mich einen Joint und ein brennendes Streichholz halten und erklärte, dass es auf dieser Tour kein Dope geben und man im Falle einer Verhaftung auf sich alleine gestellt sein würde. Dann schlief er wieder ein. Ich fand sein Ge­rede zwar blödsinnig, steckte den Joint aber in meine Tasche.

Als Keith von der Toilette zurückkam, gingen ein Mann und eine Frau hinter ihm vorbei und die Frau sagte, als sie seine struppige schwarze Mähne sah, mit einer lauten, betrunkenen Stimme: „Du wärst süß mit getönten Haaren.“

Keith drehte sich lächelnd um und zeigte seine Hauer. „Du wärst süß mit getönter Möse“, sagte er.

Einige Mitglieder des Grüppchens sangen, angeführt von Jo Bergman, „Happy Birthday“. Ronnie Schneider war heute sechsundzwanzig. Ich war siebenundzwanzig. Ich sang nicht. Die Stones auch nicht.

Nach dem Essen fuhren wir mit einer Flotte von Cadillacs zu einem kleinen Club namens Ash Grove, in dem der alte Blues-Sänger Big Boy Crudup gemeinsam mit dem jungen Blues-Sänger Taj Mahal das Pro­gramm bestritt. Da das Lokal total überfüllt war, standen wir im Durch­gang herum, um besser zu sehen, als ein großer, rothaariger und som­mersprossiger Cowboyjunge an uns herantrat, sich als Tajs Roadmanager vorstellte und seiner Freude darüber Ausdruck verlieh, dass die Stones in L. A. waren. Er erinnerte sich daran, wie freundlich sie gewesen waren, als Taj sich in London aufgehalten hatte. Hinter der Bühne bekamen wir Gras, Koks, Scotch, Wein, alles was wir wollten.

Dann bezogen wir wieder im Durchgang Stellung. Crudup sang mit der Band von Taj Mahal, in der zwei Weiße, ein Schwarzer und ein Indianer zusammen spielten, „That’s All Right, Mama“, und ich spürte ge­rade jede einzelne Schwingung der Musik mit sämtlichen spinnenartigen Verästelungen meines Nervensystems, als der Roadmanager zu mir sagte: „Weißt du, es ist schwer, für Nigger zu arbeiten.“

Ich wusste nicht, was ich darauf antworten sollte. Mit einer Kopfbe­wegung deutete er auf den Rest der Band: „Und dieser Bassist, der Gi­tarrist und der Schlagzeuger – die sehen vielleicht wie, ähm, Kaukasier aus, aber in ihren Herzen sind sie auch Nigger.“

Ich wusste auch darauf nichts zu sagen. Dann beendete er seinen Ge­dankengang: „Aber weißt du, mit Niggern kannst du mehr Spaß haben als mit irgend jemand anderem auf der Welt.“

2

Musik is’ Musik. Wenn wir aber drüber reden, eine Show in New York abzuziehen, dann werd’ ich mich aufführ’n wie ’n Affe, denn ich geh’ da nicht hin. Es gibt jetzt so viele Schießereien und Morde und so Sachen. Und dann ist dort alles überfüllt, all die Leute, und man weiß einfach nicht, was als nächstes passieren wird. Stimmt’s oder hab’ ich recht? Du weißt nie, mit was für Typen du es zu tun hast, Junge. Und dann, Mann – überall Heckenschützen. Ich will mich ja nicht davor verstecken. Aber ich kann mich gut erinnern, dass drei oder vier Jungs umgebracht wurden, nur weil sie ihre Musik spielten. Ich und du, wir sind Partner – ich hab’ dich dabei – wir spiel’n zusammen – du weißt, was ich meine. Und, na ja, wir haben sie eh überlebt. Deswegen will ich jetzt keine Namen nen­nen; sie sind ja tot – einer vergiftet, der andere auch umgebracht. Die haben’s gemacht, weil er besser als sie spielen konnte. Ich sag’ dir jetzt, was ich weiß. Ich würd’ keinen umbringen, nur weil er bei irgend etwas besser ist. Jawoll. Und hab’ ich nicht recht? Aber ir­gendwer wird mich umbringen, weil ich und du ein wenig besser klarkommen als sie. Sie machen uns die ganze Zeit blöd an. Wir sie nicht. Wir geh’n; wir sagen, dass wir geh’n, also geh’n wir. Wir spielen dort drüben, und die geh’n auf uns los und geben’s uns. Sie geben’s dir, Junge. Und noch was: Wenn du dich schon in solchen Lokalen aufhältst, dann trink nicht viel. Trink vor allem nicht viel Whiskey. Spiel’ einfach weiter. Die machen dich dumm an, bevor du weißt, wie dir geschieht. Und sie haben jetzt eine Bande bei­sammen. Versuch’s nur – du wirst schon sehen, sie geben’s dir, Junge. Nimm mal zum Beispiel Buck Hobbs: Der hatte ein paar so­genannte Freunde, nein, ich werde keine Namen nennen, und er konnte spielen, wie sie es einfach nicht konnten. Der gleiche Song, den ich spiele, über Frankie und Albert, die ganzen alten Songs, „John Henry“ und so – er kriegte die alle prima auf die Reihe. Die anderen konnten ihm einfach nicht das Wasser reichen. Und des­halb hat ihm einer eines abends eine Gitarre über den Schädel ge­zogen, weil ihm das gestunken hat. Buck hat sich nicht stören las­sen. Spielt einfach weiter. Hört auf, geht von der Bühne runter, schnappt sich ’nen Drink. Und dann stirbt er. Buck Hobbs. Die haben ihn umgebracht. An so was alles denk’ ich. Ich möchte nicht weg von hier. Wir haben volles Haus. Also kämpfen. Daheim, wo ich geboren wurde, oben in Pleasant Hill, dort haben sie’s getan. Gleich in der Nähe von Pleasant Hill. Im Wäldchen.

 

Mississippi Joe Callicott

der 11-uhr-45-zug ab Paddington Station (3 Pfund 2 Shilling 5 Pence Retourgeld) rollte von den eintönigen Wohnblocks am Stadtrand von Lon­don gen Westen – hin zu den maigrünen Feldern rund um Reading und Didcot mit Bäumen, Hecken, rosa Schweinen, schwarzweiß gescheckten Rindern, Traktoren, strohgedeckten Scheunen und Häusern unter schwe­ren, weißen Wolken.

Ich saß in Fahrtrichtung und versuchte die Biographie über Heming­way zu lesen, die mir William Burroughs empfohlen hatte, als wir über Brian Jones redeten und als mein Leben – genauso wie das von Brian ­auseinanderzufallen begann. Ich las, um herauszufinden, wie Hemingway es schaffte weiterzumachen, nachdem er Hadley verloren hatte. Zum er­sten Mal nach fast zehn Jahren war ich ein alleinstehender Mann, oder besser gesagt: Ich war allein. Das war 1970.

Hinter Kemble, nach dem Umsteigen in Swindon, wurde die Land­schaft hügelig, Pferde grasten an den Abhängen in der Sonne. Auf der linken Seite der Geleise fiel das Land steil ab; die grünen Baumkronen unten im Tal erinnerten mich an die Vorberge im mittleren Georgia. Außer­halb von Stroud überquerten wir einen schnell zwischen jungen Weiden dahinfließenden Bach und ich sah eine Schar Enten aufflattern sowie Schulkinder auf einem schmalen Pfad, der unter einer kleinen Ziegelbrücke hindurchführte. Ein Junge winkte dem Zug mit einem Union Jack zu. Zwei Sitzreihen vor mir sagte eine Frau zu ihren Kindern, einem kleinen Jungen und einem Mädchen, sie sollten endlich aufhören, „Yellow Submarine“ zu singen.

Nach Gloucester, wo das Land wieder flach ist, fährt der Zug in nörd­liche Richtung nach Cheltenham. Der offizielle Reiseführer nannte den Ort noch immer Cheltenham Spa, obwohl das „heilkräftige Mineral­wasser“, das die „Elite vieler Generationen“ angezogen hatte, schon seit einigen Jahren verunreinigt war. Aber ich kam nicht dorthin, um ein Bad zu nehmen.

Vor der Bahnstation aus roten Ziegelsteinen parkten Taxis, aber da ich die Dinge immer auf die schwierige Art angehe, ließ ich sie mit anderen Reisenden wegfahren und zog lieber mit meiner schwarzen Reisetasche aus Nylon, die zu klein war, um Kleidung darin zu verstauen, mit meinem Tonbandgerät und dem Buch über Hemingway zu Fuß los. Das Buch trug ich, wie ein Wanderprediger seine Bibel, in der Hand. Es gibt in Cheltenham abgelegene Straßen, die wie jene in Queens, New York oder Bir­mingham, Alabama, aussehen, mit Wohnsilos aus der Zeit der Depres­sion und Häusern mit Rasenflächen, auf denen kein Gras wächst. Das Buch und die Tasche wurden mir schwer bis ich die Stadtmitte erreichte.

Ich ging bis zu einer Seitenstraße, fand eine Telefonzelle und entschied mich anhand des Fotos im Telefonbuch für das Majestic Hotel am Park Place. Es sah aus wie das Hotel, in dem W. C. Fields absteigen würde, wenn er in der Stadt war. Außerdem lag es zwischen der Gegend, in der ich mich befand und der Hatherley Road, wo Brian Jones aufgewachsen war.

Ich war weit genug gelaufen, um nun einer Taxifahrt etwas abgewin­nen zu können, wenn ich nicht so unvernünftig wäre. Aber ich war noch nicht bereit dafür. Ich wollte an den feinen Geschäften der Promenade und den ordentlichen Häusern unter den zurechtgestutzten Bäumen vorbeispazieren. Cheltenham wurde als netter Ort geplant, und es ist auch ein netter Ort – zumindest so lange, bis man beschließt, dass du selbst eigent­lich nicht so nett bist. Einige der nettesten Leute von Cheltenham hatten schon jahrelang nicht mit den Eltern von Brian Jones gesprochen, während andere erst aufhörten, mit ihnen zu reden, nachdem man Brian in geweihte Erde gebettet hatte, was sein letzter Frevel war. Wenn man genau hinhört, kann man die Heckenscheren von Cheltenham die Hecken zurechtstut­zen hören.

Das Majestic Hotel ragte zwischen verfallenden Apartmenthäusern drohend wie ein verblasstes Gespenst auf. Der Portier saß in einer kleinen Glaszelle von der Art eines Kartenschalters und der Bartender lümmelte auf seinen Ellbogen in der leeren Cocktailbar herum und zerknitterte die Ärmel seines gestärkten weißen Jacketts. Der Aufzug roch, als wäre er seit den 20er Jahren geschlossen gewesen. Langsam brachte er mich in den dritten Stock zu meinem Einzelzimmer mit Waschbecken. Der Raum war, wie alle Einzelzimmer in Hotels, mit dem Flair von Einsamkeit und Tod und des einsamen Totschlagens der Nacht durchtränkt. Ich legte mich auf die lachsfarbene Bettdecke.

Meine Füße ruhten sich zwar für ein paar Minuten aus, aber mein Be­wusstsein kam nicht zur Ruhe. Es gibt kein Buch, das gegen die Einsam­keit hilft, und keine Droge, die etwas gegen sie ausrichtet. Nachdem sie ihn verlassen hatte, muss Brian weiter an Anita Pallenberg gedacht haben – so wie auch ich, nachdem ich nun alleine war, weiterdachte. Anita glaub­te, ihr Sohn Marlon, den sie im vergangenen Jahr, nach Brians Tod, von Keith bekommen hatte, sei der wiedergeborene Brian. Er war es nicht, aber sie hörte nicht auf, an Brian zu denken. „Ich werde ihn wiedersehen. Wir versprachen, einander wieder zu treffen. Es ging um Leben und Tod“, sagte Anita. „Einer von uns musste gehen.“ Eine schwere Entscheidung. Ich schwang meine müden Füße vom Bett. Nachdenken führte zu nichts.

Der Aufzug fuhr abwärts genauso langsam. Der Bartender lehnte noch immer am Tresen, weit und breit keine Kundschaft in Sicht.

Ich setzte mich in den Imperial Gardens auf eine grüne Parkbank, um ein wenig Marihuana zu rauchen und das Ende des Mittwochnachmittags zu beobachten. Kellnerinnen räumten die roten, blauen und grünen Tische unter den orange und gelb gestreiften Tuborg-Sonnenschirmen ab, wo ein paar Leute noch immer zwischen den Blumen einen Imbiss zu sich nah­men. Die Inschrift auf der Sonnenuhr des Gartens besagte: „Ich zähle nur jede sonnige Stund’/Stürme und Regen tun andere kund.“ Nur ein Junge und ein Mädchen lagen jetzt noch unbeweglich im Gras, als wollten sie dort übernachten.

Während ich meinen Blick über die Tulpen und Bäume und den leise summenden Verkehr des in Zwielicht getauchten Cheltenham gleiten ließ, dachte ich daran, wie Brian, kurz vor seinem Tod, bei einem Besuch bei ihm zu Hause gesagt hatte: „Wäre ich doch bloß nie von hier weggegan­gen!“ Ich zerlegte den Zigarettenstummel, zerriss das kurze Stück Papier und rollte es zu einem kleinen Kügelchen zusammen, das sich, ebenso wie das Rauchmaterial, im Wind verlieren würde. Dann ging ich über die Pro­menade und am dritten Militärmonument vorbei, das ich in dieser Stadt sah. Die anderen beiden waren für Afrika 1899 bis 1902 und den Ersten Weltkrieg gewesen. Die Tafel dieses Denkmals besagte: „Auf diesem Eh­renmahl stand ursprünglich eine bei Sewastopol erbeutete Kanone. Während des Krieges von 1939 bis 1945 wurde die Kanone der Regierung übergeben, um Eisen für die Rüstung zu liefern.“ Obwohl es kleiner war, erinnerte mich Cheltenham an Macon, Georgia, wo ich mit Militäruni­form und ein Gewehr tragend zur Highschool gegangen war. Macon war der letzte Ort gewesen, an dem ich mich bemüßigt gefühlt hatte, Zigaret­tenreste auf diese Art und Weise zu beseitigen. Nicht weil ich Marihuana geraucht hatte, sondern um die Umgebung sauber zu halten. Denn beides sind hübsche Städte mit vielen Bäumen.

Es war 18 Uhr 44, und ich hatte gerade noch genug Zeit für ein Sand­wich. Die Straße hinunter gab es ein Cafe, das ebenso verlassen wie die Bar des Majestic aussah. Abgesehen von einer jungen Inderin hinter der Theke war niemand da. Sie war am Aufräumen, um zu schließen, aber sie fragte, ob ich etwas essen wolle.

Ich kaufte ein wässriges Orangengetränk und ein Käsesandwich, weil man bei einem Käsesandwich nicht viel falsch machen kann. Eine Frau kam herein, nahm das Geld aus der Registrierkasse, ließ das Mädchen zur Hintertür hinaus und schloss ab. Als die junge Frau ging, fiel mir auf, dass sie der einzige dunkelhäutige Mensch war, den ich in dieser Stadt bisher gesehen hatte.

Zurück im Hotel war ich dermaßen cool und entspannt, dass ich mein Tonbandgerät noch immer nicht ausgepackt hatte, als mich die Rezeption anrief, weil ein Taxi auf mich wartete. Ich legte schnell ein Band ein, ent­schloss mich dann aber, das Gerät zurückzulassen.

Noch ehe ich meine Notizen durchsehen konnte, bog das Taxi in die Seitenfahrbahn ab, um mich aussteigen zu lassen. Die senffarbenen Doppelhaushälften sahen mit ihren kleinen Grasflächen hinter den Ziegelsteinmäuerchen so klein und gewöhnlich aus, dass ich dachte, ich könne nur an der falschen Adresse sein. Aber ich öffnete das Gartentor und ging zur Haustür, wo auf einer leuchtenden Klingel aus Plastik der Name L. B. Jones stand. Ich läutete, wartete und versuchte zu lächeln. Die Nacht war angebrochen und ich stand in einer Pfütze aus gelbem Licht unter der Verandalampe, während auf der finsteren Straße Autos vorbeisausten und einander die gleißend aufblitzenden Strahlenbündel ihrer Scheinwerfer entgegenknallten.

Der kleine Mann, der die Tür öffnete, hatte sich lichtendes graues Haar und ein eher breites Gesicht, das im Kontrast zu seiner spitzen Nase stand und dessen blasse, faltige Haut gerötet war. Als ich zu sprechen begann, musste ich daran denken, dass er dieselbe Größe wie Brian hatte, dass ihre Skelette identisch sein müssten. Er hatte Brians Art, fast auf Zehenspitzen zu gehen und seine Hände neben den Hüften nach hinten zu halten – oder besser gesagt, Brian hatte seine Art gehabt. Er hatte die gleichen kurzen Arme und kleinen, starken Hände. Und er hatte Brians lustige Art, die Dinge mit einem offenen und einem zugekniffenen Auge zu besehen, ob­wohl die Augen von Mr. Jones hinter seiner Brille mit dem Rahmen aus vergoldetem Metall und grauem Plastik nicht derart intensiv von innen heraus zu leuchten schienen, wie das bei Brian der Fall gewesen war. Da stand er nun vor mir und guckte mich einäugig an, einen Fuß vorgescho­ben, die Hände unten bei seinen Hosentaschen fast zu Fäusten geballt.

Ich stellte mich vor und Mr. Jones sagte, er freue sich, mich zu sehen. Er führte mich ins Wohnzimmer, wo ich mich auf der Couch niederließ und er sich auf einen mit hässlichen Blumen bedruckten Sessel vor ein aus­geschaltetes elektrisches Kaminfeuer setzte. Er erzählte mir, dass ich schon der vierte Amerikaner sei, der komme, um über Brian zu schreiben. „Da kommen irgendwelche Leute und haben Empfehlungsschreiben von Ver­lagen dabei, dann gehen sie wieder und man hört nichts mehr von ihnen. Ich weiß nicht, was ich davon halten soll. Ich denke, die wollen mich nur auf den Arm nehmen“, sagte er und blickte mich wieder mit einem Auge an.

Ich wollte ihm antworten, kam aber gerade mal bis „Äh, ähm …“, als Brians Mutter hereinkam. Ich rappelte mich auf und begrüßte sie. Sie sah sanfter aus als Mr. Jones. Sie nannte ihn Lewis, er sie Louie, die Koseform für Louisa. Ihre Augen waren blau, hübsch blau. Ihre Haare waren eben­so flachsblond wie die von Brian – ein Farbton, der sich im Alter gut zu halten schien, wenn er die Chance zum Altern hatte.

 

Wir setzten uns wieder. Mrs. Jones nahm in einem Sessel an der einen Seite des Zimmers Platz, ich an der anderen, und Mr. Jones, der den kal­ten Kamin anstarrte, saß in der Mitte. Ich versuchte zu erklären, woran ich arbeitete, aber das Zimmer nahm meine ganze Aufmerksamkeit ge­fangen. Es enthielt, außer uns und dem orangeroten Kater, typisch schwül­stige englische Möbel, einen alten Heathkit-Plattenspieler, ein noch älte­res Radio, einen Schwarzweißfernseher, einen blühenden Bonsai unter einer Glasglocke und die Statuette eines Indianers, die jedes Mitglied der Stones 1964 vom deutschen Teenie-Magazin „Bravo“ erhalten hatte. Auf dem Kaminsims stand eine kleine Gummipuppe mit knallroten Hosen und einer weißen Mähne aus Nylonhaar, die vulgärste aller Karikaturen, die es von Brian geben kann, die aber nichtsdestotrotz den Eindruck eines zu seinen Ehren aufgestellten Totems erweckte und das zentrale Objekt in diesem kleinen, grotesken Zimmer darstellte. Die orangefarbene Katze roll­te sich im Schoß von Mrs. Jones zusammen. Ich fragte sie nach dem Namen des Tieres und sie sagte: „Jinx.“

„Es ist so schade“, sagte Brians Vater. „Brian hätte ein brillanter Jour­nalist sein können, in der Schule hat er immer besser Schach gespielt als alle anderen, so viel vergeudetes Talent.“ Er presste die Backenzähne auf­einander und zog eine Grimasse, als fände gerade eine furchtbare Ver­wandlung statt.

Mrs. Jones fragte: „Hatten Sie heute Abend schon was zu essen, mein Lieber? Möchten Sie was?“

Ich dachte an mein heutiges Abendessen, an versäumte Abendessen und an andere Dinge – und auch an manche Dinge, die ich nicht verpasst hatte. Alles aufgrund dessen, was ich in den Augen ihres Sohnes gesehen hatte. „Gut, danke, gern“, sagte ich. Dann fing ich an, Fragen zu stellen.

Mr. und Mrs. Jones lernten einander in Südwales kennen, wo sie noch bei ihren Eltern gelebt hatten. Die Eltern von Mr. Jones waren Lehrer. Sein Vater sang in Gesellschaften von Opernfreunden und leitete den Kirchenchor. Der Vater von Mrs. Jones war über fünfzig Jahre lang Baumei­ster und Kirchenorganist in der Nähe von Cardiff. Ihre Mutter hatte, da stets kränkelnd, keinerlei Ausbildung genossen, war jetzt aber mit drei­undachtzig recht gut beisammen. Die Eltern von Mrs. Jones lebten noch, seine waren bereits tot.

Mr. Jones studierte Maschinenbau an der Universität von Leeds, hei­ratete dann und begann für Rolls-Royce zu arbeiten. Bei Kriegsbeginn 1939 wurde er nach Cheltenham versetzt, wo er seither mit Mrs. Jones lebte. Er arbeitete als Flugzeugingenieur, sie gab Klavierstunden.

Brian erblickte am letzten Februartag des Jahres 1942 als erstes Kind das Licht der Welt. Das zweite Kind, eine Tochter, starb mit ungefähr zwei Jahren.

„Wie ist sie gestorben?“ fragte ich so rücksichtsvoll wie möglich.

„Sie ist gestorben und mehr sage ich dazu nicht“, antwortete Mr. Jones. Ich versuchte ein weiteres Mal zu erklären, warum ich solche Fragen stell­te, aber Mr. Jones war zu oft von gedruckten Lügen und Wahrheiten ver­letzt worden und nicht einmal annähernd bereit, einem Schreiberling zu vertrauen. Er erklärte mir, dass das jüngste Kind, Barbara, 1946 geboren wurde und jetzt Turnlehrerin sei und dass sie überhaupt nichts mit Brian zu tun haben wolle, und er bat mich, sie in Frieden zu lassen. Wieder mahl­te er mit seinen Zähnen. Aber er konnte sich trotzdem nicht davon ab­bringen, zu erzählen und Alben mit den Familienfotos hervorzuholen.

Ein Foto zeigte Brian im Alter von ungefähr fünf Jahren, wie er mit einer grau getigerten Katze spielte.

„Eines Tages, beide, Brian und die Katze, waren noch sehr jung, hat er erklärt, ihr Name sei Rolobur“, sagte Mrs. Jones. „‚Das ist Rolobur‘, hat er gesagt. Keine Ahnung, ob er etwas anderes sagen wollte und es nur als Rolobur herausgekommen ist. Einmal hat er sie blau bemalt.“

„Die Katze?“

„Ohne ihr wehtun zu wollen“, sagte Mrs. Jones. „Was er auch nicht getan hat. Er verwendete Lebensmittelfarben, die sich bald wieder aus­wuschen und die Katze lebte noch ungefähr sechzehn Jahre bei uns.“

„Brian war ein eigenartiges Kind“, sagte seine Mutter.

Sie gab ihm seine ersten Klavierstunden, als er sechs Jahre alt war, und er lernte das Instrument bis zu seinem vierzehnten Lebensjahr. „Aber er war nicht gerade stark daran interessiert“, sagte sie. „Dann begann er, Kla­rinette zu spielen.“

„Was seinem Asthma auch nicht gerade gutgetan hat“, sagte Mr. Jones. „Brian hatte den Krupp mit vier und das chronische Asthma blieb davon zurück. Er hatte fürchterliche Asthmaanfälle. Es war immer besonders arg, wenn er in den Ferien an den Strand ging und er hatte unten in Cotchford Anfälle, schlimme Anfälle, kurz vor seinem Tod.“

Cotchford Farm war einmal das Zuhause von A. A. Milne; Pooh, der Bär, lebte in den Hefalump-Wäldern. Es schien irgendwie stimmig, dass Brian Eigentümer dieses Besitzes wurde, wo er so früh starb, weniger als ein Jahr nachdem er ihn erstanden hatte. Er war bis dahin schon durch vieles verletzt worden und Mr. Jones konnte nicht aufhören, diese Ereig­nisse zu rekapitulieren, um herauszufinden, wo die Dinge falsch gelaufen waren und wer oder was daran schuld hatte. „Ich war mit ihm dort unten in Cotchford, in so einer Art Rumpelkammer, kurz bevor er starb. Als ihm da ein Foto von Anita in die Hände fiel, stand er für einen Augenblick ein­fach nur da und starrte es an. Er sagte ‚Anita‘ – fast so, als würde er zu sich selbst sprechen, als hätte er vergessen, dass ich da war. Dann legte er das Foto beiseite und wir redeten weiter, was immer uns gerade beschäf­tigte. Der Verlust von Anita hat ihm schrecklich zugesetzt. Danach war für Brian nichts mehr so wie vorher. Dann die Drogenprozesse, all diese Schwierigkeiten. Ich wusste nicht, wie ich ihm helfen sollte. Wir waren ein­ander sehr nah, als er jung war, aber später hatten wir … nun ja … Mei­nungsverschiedenheiten.“

So vielversprechend … ein Chorknabe … erster Klarinettist … und dann sagen die alten Freunde, na ja, ist wohl an der Zeit, dass du dich zur Ruhe setzt, oder? Er starrte ins kalte Feuer, biss die Zähne zusammen, re­dete dann weiter.

„Brian lehnte jegliche Disziplin ab. Er wurde zweimal der Schule ver­wiesen. Einmal, in der sechsten Klasse, verwendeten er und ein paar an­dere Jungs ihre Akademikermützen als Boomerangs und ließen sie durch die Luft segeln. Die von Brian ging dabei kaputt und er weigerte sich, sie zu tragen. Sie haben ihn suspendiert. ‚Eine äußerst heilsame Erfahrung‘ für Brian, eine Woche Suspendierung, zumindest aus der Sicht dieses Trottels von Rektor. Brian verbrachte die ganze Woche unten am Strand von Cheltenham, ging schwimmen und kam für die anderen Jungen als Held zurück. Ich wusste kaum noch, wie ich ihn behandeln sollte. Der Rektor pflegte sich immer wieder über ihn zu beklagen, woraufhin ich jedesmal sehr ernst wurde und mir Brian für ein Gespräch vornahm. ‚Warum schreibt uns der Rektor immer Briefe mit Beschwerden? Warum bist du denen gegenüber so ungehorsam?‘ Und Brian sagte dann immer: ‚Schau, Dad, das sind nur Lehrer. Die haben nie was geleistet. Du willst, dass ich alles so mache wie du, aber ich kann nicht sein wie du. Ich muss mein eigenes Leben leben.‘ Er war diesbezüglich schrecklich konsequent. Ich bin kaum auf einen grü­nen Zweig gekommen, wenn ich mit ihm zu diskutieren versucht habe.“