Briefe über den Yoga

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4. Kapitel
Vernunft, Wissenschaft und Yoga
I. Abschnitt

Europäisches metaphysisches Denken überschreitet selbst in jenen Denkern, die das Dasein Gottes oder des Absoluten zu erklären suchen, weder in seiner Methode noch in seinem Ergebnis den Intellekt. Doch der Intellekt ist nicht imstande, die‚ höchste Wahrheit zu erkennen; er vermag lediglich tastend nach der Wahrheit zu suchen oder teilweise Darstellungen von ihr aufzufangen – nicht aber die eigentliche Sache selbst – und versucht dann, diese zusammenzustückeln. Das Mental kann die Wahrheit nicht erreichen; es kann nur ein konstruiertes Gebilde errichten oder eine Kombination von Gebilden, die diese darzustellen versucht. Europäisches Denken mündet daher immer im erklärten oder stillschweigenden Agnostizismus. Der Intellekt, der voller Wahrhaftigkeit an seiner eigenen Grenze angelangt ist, muss umkehren und bekennen: „Ich vermag nicht zu wissen; es gibt Etwas jenseits oder scheint es zumindest zu geben, es muss es sogar geben, eine höchste Wirklichkeit, doch über ihre Wahrheit kann ich nur Mutmaßungen anstellen; sie ist entweder unerkennbar oder kann von mir nicht erkannt werden“. Oder wenn dieser Intellekt auf seiner Suche aus diesem jenseitigen Bereich ein Licht empfing, kann er auch sagen: „Es gibt vielleicht ein Bewusstsein jenseits des Mentals, denn ich scheine es flüchtig erspürt und sogar Zeichen von ihm erhalten zu haben. Wenn dieses Bewusstsein sich in Kontakt mit dem Jenseits befindet oder wenn es gar selbst das Bewusstsein dieses Jenseits ist und du einen Weg zu seiner Erlangung finden kannst, nur dann und nicht anders kann dieses Etwas erkannt werden“.

Alles Suchen der höchsten Wahrheit allein mit Hilfe des Intellektes muss entweder in Agnostizismus dieser Art enden oder aber in einem intellektuellen System oder einer vom Mental errichteten Formel. Es gibt Hunderte dieser Systeme und Formeln, und wenn es noch Hunderte mehr gäbe, würde immer noch keines endgültig sein. Jedes mag für das Mental wertvoll sein, und verschiedene Systeme mit ihren einander widersprechenden Schlussfolgerungen können verschiedene Intellekte von gleicher Fähigkeit und Kompetenz gleichermaßen ansprechen. All diese mühsame Arbeit der Spekulation hat ihren Wert, da sie das menschliche Mental schult und ihm hilft, die Vorstellung eines Etwas jenseits von ihm und eines Höchsten, dem es sich zuwenden muss, aufrechtzuerhalten. Doch der intellektuelle Verstand kann nur unbestimmt darauf hinweisen oder es tastend erspüren oder versuchen, Teilaspekte und sogar einander widersprechende Aspekte seiner Manifestation hier aufzuzeigen; er vermag nicht, in es einzutreten und es zu erkennen. Solange wir allein im Bereich des Verstandes bleiben, können wir lediglich unvoreingenommen über all das, was bereits gedacht und gesucht wurde, nachdenken und fortwährend neue Ideen hervorbringen, alle erdenklichen Ideen, und uns diese oder jene philosophische Ansicht, Meinung oder Schlussfolgerung bilden. Diese Art unvoreingenommener Suche nach der Wahrheit wäre die einzig mögliche Haltung eines weiten, plastischen Intellektes. Doch jede Schlussfolgerung, zu der man auf diese Weise gelangte, wäre nur eine mutmaßliche; sie hätte keinen spirituellen Wert; sie würde nicht die entscheidende Erfahrung oder spirituelle Gewissheit bringen, nach der die Seele sucht. Wenn der Intellekt unser höchstmögliches Instrument ist und es kein anderes Mittel gibt, um die überphysische Wahrheit zu erlangen, dann ist die beste Einstellung ein weiser und weiter Agnostizismus. Die Dinge der Schöpfung können bis zu einem gewissen Grad erkannt werden, doch der Höchste und alles, was sich jenseits des Mentals befindet, müssen dann für immer unerkannt bleiben.

Allein wenn es ein größeres Bewusstsein jenseits des Mentals gibt und jenes Bewusstsein uns zugänglich ist, können wir jene höchste Wirklichkeit erkennen und in sie eintreten. Intellektuelle Spekulation, logisches Schlussfolgern, ob es solch größeres Bewusstsein gibt oder nicht, bringen uns nicht sehr weit. Was wir brauchen, ist ein Weg, um zu seiner Erfahrung zu gelangen, um es zu erreichen, in es einzutreten, in ihm zu leben. Wenn uns dies gelingt, muss die intellektuelle Spekulation und Argumentation notwendigerweise auf einen durchaus zweiten Platz zurücktreten und sogar ihre Daseinsberechtigung verlieren. Philosophie und die intellektuelle Formulierung der Wahrheit können zwar bestehen bleiben, doch hauptsächlich deshalb, um diese größere Entdeckung und was von ihrem Inhalt in mentalen Begriffen darstellbar ist für jene auszudrücken, die noch im mentalen Verstand leben.

Du wirst erkennen, dass dies deine Frage über die westlichen Denker weitgehend beantwortet, über Bradley und andere, die auf dem intellektuellen Weg zu jener Vorstellung eines „Anderen, jenseits des Denkens“ gelangt sind oder die sogar, wie Bradley, versucht haben, ihre Schlussfolgerungen darüber in Begriffen auszudrücken, die an Formulierungen im „Arya“ erinnern. Diese Vorstellung ist an sich nicht neu, sie ist so alt wie der Veda selbst. Es gab sie in anderer Form im Buddhismus, im christlichen Gnostizismus, im Sufismus. Ursprünglich wurde sie nicht durch die intellektuelle Spekulation entdeckt, sondern durch Mystiker, die einer inneren spirituellen Disziplin folgten. Als zwischen dem siebten und fünften Jahrhundert v. Chr. die Menschen sowohl im Osten als auch im Westen das Wissen zu intellektualisieren begannen, blieb diese Wahrheit im Osten erhalten; im Westen, wo der Intellekt allmählich als das einzige oder höchste Instrument zur Entdeckung der Wahrheit anerkannt wurde, begann diese Vorstellung zu verblassen; die Neo-Platoniker entdeckten sie aufs neue, und nun scheinen die Neo-Hegelianer und andere (zum Beispiel der Russe Ouspensky und, ich glaube, ein oder zwei deutsche Denker) danach zu suchen. Und dennoch ist ein Unterschied vorhanden.

Nicht nur im Westen, auch im Osten, besonders in Indien versuchten metaphysische Denker, die Natur der höchsten Wahrheit mit Hilfe des Intellektes zu bestimmen. Doch erstens räumten sie dem mentalen Denken als Instrument bei der Entdeckung der Wahrheit nicht die höchste Stufe ein, sondern behandelten es zweitrangig. Der vorderste Platz gehörte hier immer der spirituellen Intuition und Erleuchtung, der spirituellen Erfahrung; eine intellektuelle Schlussfolgerung, die dieser höchsten Maßgeblichkeit widersprach, wurde nicht anerkannt. Zweitens, jede Philosophie versah sich mit einem praktischen Weg, um das höchste Stadium des Bewusstseins zu erreichen, so dass das Ziel, selbst wenn man mit dem Denken begann, darin bestand, zu einem Bewusstsein jenseits des mentalen Denkens zu gelangen. Jeder Gründer einer Philosophie – oder jene, die sein Werk oder seine Schule fortsetzten – war gleichzeitig ein metaphysischer Denker und Yogi. Die rein philosophischen Intellektuellen wurden ob ihrer Gelehrsamkeit respektiert, doch nahmen sie nie den Rang von Wahrheits-Entdeckern ein. Und jene Philosophien, denen eine genügend machtvolle Methode spiritueller Erfahrung fehlte, starben aus und gehörten der Vergangenheit an, da sie für spirituelle Entdeckung und Verwirklichung nicht brauchbar waren.

Im Westen geschah genau das Gegenteil. Der Gedanke, der Intellekt, der logische Verstand wurden mehr und mehr als die höchsten Mittel betrachtet und sogar als höchstes Ziel; in der Philosophie ist das Denken der Anfang und das Ende. Die Wahrheit muss hier durch intellektuelles Forschen – und die Spekulation entdeckt werden; sogar die spirituelle Erfahrung wird aufgerufen, sich den Prüfungen des Intellektes zu unterziehen, wenn sie als gültig angesehen werden will – also praktisch das Gegenteil der indischen Einstellung. Selbst diejenigen, die erkennen, dass mentales Denken zurückgelassen werden muss, und ein supramentales „Anderes“ anerkennen, scheinen zu meinen, dass mit Hilfe von mentalem Denken, das sich sublimiert und wandelt, diese andere Wahrheit zu erreichen sei und an Stelle der mentalen Begrenzung und Unkenntnis treten muss. Und dennoch, westliches Denken ist nicht mehr dynamisch, es hat eine Theorie der Dinge und nicht die Verwirklichung gesucht. Bei den alten Griechen war es noch dynamisch, doch eher mit einem moralischen und ästhetischen als einem spirituellen Ziel. Späterhin wurde es umso mehr rein intellektuell und akademisch; es wurde zu einer intellektuellen Spekulation, doch ohne jeden praktischen Weg und praktische Methoden, die Wahrheit mit Hilfe spiritueller Erfahrung, spiritueller Entdeckung und spiritueller Umwandlung zu erreichen. Gäbe es diesen Unterschied nicht, dann bestünde für Suchende, wie du selbst einer bist, kein Grund, sich dem Osten zur Unterweisung anzuvertrauen; denn im rein intellektuellen Bereich sind die westlichen Denker so maßgebend wie jeder östliche Weise. Was in der Überintellektualität des Mentals in Europa verloren ging, ist der spirituelle Pfad, der Weg, der über den Intellekt hinausführt, der Übergang vom äußeren Wesen zum innersten Selbst.

In den Auszügen von Bradley und Joachim, die du mir schicktest, ist es immer noch das intellektuelle Denken über das, was sich jenseits von ihm befindet, und das zu einer intellektuellen, einer vernunftmäßigen, spekulativen Schlussfolgerung daraus gelangt. Es besitzt nicht die Dynamik für die Veränderung, die es zu beschreiben sucht. Wenn diese Autoren eine Verwirklichung in mentalen Ausdrücken beschreiben würden, selbst eine mentale Verwirklichung, eine intuitive Erfahrung jenes „Anderen, jenseits des Denkens“, könnte man in die Nähe der gleichen Erfahrung gelangen, sofern man bereit wäre, sie durch den Schleier ihrer Sprache zu spüren. Oder man könnte sich, ihren Überlegungen folgend, für den gleichen Übergang bereitmachen, wenn sie nach Erreichen der verstandesmäßigen Folgerungen – auf der Suche nach dem Weg oder einem bereits gefundenen folgend – zur spirituellen Verwirklichung fortgeschritten wären. Doch nichts dieser Art ist in all dem schwerfälligen Denken zu finden. Es bleibt im Bereich des Intellekts und ist darin zweifellos bewundernswert; doch für die spirituelle Erfahrung fehlt ihm die Dynamik.

 

Nicht indem man die gesamte Wirklichkeit „durchdenkt“, sondern durch eine Bewusstseinsveränderung kann man aus der Unwissenheit zum Wissen gelangen, zu jener Erkenntnis, durch, die wir zu dem werden, was wir erkannten. Der integrale Weg zur Wahrheit1 besteht darin, sich vom äußeren in ein direktes und wesenhaftes inneres Bewusstsein zu wenden, das Bewusstsein über die Grenzen von Körper und Ego auszudehnen, es durch inneren Willen und Aspiration zu erhöhen und dem Licht zu öffnen, bis es in seinem Aufsteigen das Mental überschreitet; ferner eine Herabkunft des supramentalen Göttlichen durch Selbst-Geben und Hingabe und die fortwährende Umwandlung von Mental, Leben und Körper herbeizuführen. Dies ist es, was hier die Wahrheit genannt wird und das Ziel unseres Yoga ist.

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Yoga besteht nicht aus Ideen, sondern aus innerer spiritueller Erfahrung. Sich allein von gewissen religiösen oder spirituellen Ideen angezogen zu fühlen, führt zu keiner Verwirklichung. Yoga bedeutet eine Bewusstseinsveränderung; rein mentale Aktivität führt zu keiner Veränderung des Bewusstseins, sie vermag lediglich das Mental zu verändern. Und wenn dein Mental genügend beweglich ist, wird es sich bis zuletzt fortwährend verändern, ohne zu einem gesicherten Weg oder in einen spirituellen Hafen gelangt zu sein. Das Mental kann denken, zweifeln, in Frage stellen, billigen und seine-Billigung wieder zurückziehen, Formungen bilden und sie wieder auflösen, Entscheidungen fällen und sie rückgängig machen, immer an der Oberfläche und mittels oberflächlicher Anhaltspunkte urteilend und daher niemals zu einer tiefen und sicheren Erfahrung der Wahrheit gelangend – doch mehr vermag es allein aus sich selbst nicht zu tun. Es gibt nur drei Wege, wodurch es sich zu einem Kanal oder Instrument der Wahrheit machen kann. Entweder es muss zum Schweigen im Selbst gelangen und einem weiteren und größeren Bewusstsein weichen; oder es muss sich passiv machen für ein inneres Licht und diesem Licht erlauben, es als Ausdrucksmittel zu gebrauchen; oder aber es muss sich aus dem gegenwärtig zweifelnden, intellektuellen und oberflächlichen Mental in einen intuitiven Verstand wandeln, in ein visionäres Mental, das für eine direkte Wahrnehmung der göttlichen Wahrheit geeignet ist.

Wenn du irgend etwas im Yoga erreichen willst, hast du ein für allemal festzulegen, welchem Weg du folgen willst. Es hat keinen Wert, dein Gesicht der Zukunft zuzuwenden und dann immer wieder in die Vergangenheit zurückzublicken; auf diese Weise wirst du nirgendwohin gelangen. Wenn du an deine Vergangenheit gebunden bist, kehre zu ihr zurück und folge dem Weg, den du dann wählst; doch wenn du statt dessen diesen Weg wählst, musst du dich voll und ganz geben und darfst nicht jeden Augenblick zurückschauen.

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Über Zweifel zu diskutieren, habe ich seit langem aufgegeben, da ich es durchaus für sinnlos halte. Yoga eignet sich nicht für intellektuelle Untersuchung oder Erörterung. Man kann nicht über das logische oder debattierende Mental zum wahren Verständnis des Yogaweges gelangen oder diesem folgen. Eine unentschiedene Einstellung, „ehrliche Zweifel“ und die Forderung, dass der Intellekt zufriedengestellt werden muss und jeden einzelnen Punkt zu beurteilen hat, ist im Bereich einer äußeren mentalen Tätigkeit durchaus in Ordnung. Yoga aber ist kein mentaler Bereich, und das Bewusstsein, das gegründet werden muss, ist kein mentales, logisches oder erörterndes Bewusstsein – es gibt im Yoga sogar die Regel, dass die Sadhana ihr Ziel verfehle, wenn und solange nicht das Mental, einschließlich des intellektuellen oder logischen Mentals, zur Ruhe gelangt ist und sich in der Stille oder dem Schweigen einem Bewusstsein, einem Wissen und einer Schau von höherer oder tieferer Art geöffnet hat. Aus dem gleichen Grund wird in der indischen Tradition bedingungslose Offenheit gegenüber dem Guru gefordert; den Guru zu tadeln, zu kritisieren und anzugreifen, galt als verwerflich und als das unfehlbarste Hemmnis der Sadhana, das es gibt.

Könnte man den „Geist des Zweifels“ überwinden, indem man ihm mit Argumenten begegnet, dann wäre die Forderung, ihn mittels der Logik zu befriedigen, gewissermaßen berechtigt. Doch der „Geist des Zweifels“ zweifelt um seiner selbst, um des Zweifels willen; er gebraucht das Mental lediglich als Instrument seines speziellen dharma und dies umso mehr, je mehr das Mental glaubt, es suche aufrichtig nach einer Lösung seiner ehrlichen und ununterdrückbaren Zweifel Mentale Einstellungen, unterscheiden sich zudem immer, und es ist wohlbekannt, dass Menschen endlos argumentieren können, ohne einander zu überzeugen. Zu versuchen, hartnäckige und immer wiederkehrende Zweifel zu beschwichtigen – was lange Zeit in diesem Ashram verbreitet war und die Sadhana behinderte – bedeutet, das Ziel des Yoga zu vereiteln und sich gegen sein zentrales Prinzip zu wenden, ohne spirituell oder auf andere Weise etwas zu gewinnen. Grundlegende Zweifel überwindet man durch das Wachsen der Seele in sich oder durch die Weitung seines Bewusstseins und durch nichts anderes. Fragen, die sich aus einer forschenden Einstellung erheben, die weder aggressiv noch rechthaberisch sind, sondern zum allgemeinen Wissensdrang gehören, können beantwortet werden, doch der „Geist des Zweifels“ ist unersättlich und nie zu befriedigen.

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Unter tausend mentalen Fragen und Antworten gibt es nur hie und da eine, die wirklich eine dynamische Hilfe bedeutet – während eine einzige innerliche Reaktion oder ein klein wenig Wachsen des Bewusstseins das erreicht, was tausend Fragen und Antworten nicht zu erreichen vermögen. Der Yoga schreitet nicht durch Anweisung, upadesa, voran, sondern durch innere Einflussnahme. Weit wichtiger, als Fragen zu stellen, ist, deinen Zustand und deine Erfahrungen zu erkennen und dich der Hilfe zu öffnen.

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Die ganze Welt weiß – und das gilt sowohl für den spirituellen Denker als auch für den Materialisten –, dass dieses Leben in der Unwissenheit oder der Unbewusstheit der Natur für das erschaffene oder natürlich [in der Evolution] entwickelte Wesen weder ein Bett aus Rosen ist noch ein Pfad in heiterem Licht. Es ist eine schwierige Reise, ein Kampf, ein Gefecht, ein oft schmerzhaftes und wechselvolles Wachsen, ein Leben, das von Finsternis, Falschheit und Leid umgeben ist. Es hat seine mentalen, vitalen und physischen Freuden und Vergnügungen, doch haben diese einen sehr vergänglichen Geschmack – den dennoch das vitale Selbst nicht missen will –, und sie enden in Ekel, Ermüdung und Desillusionierung. Und was dann? Zu sagen, es gäbe das Göttliche nicht, ist einfach, doch führt es nirgendwohin, es lässt dich dort, wo du bist, ohne Hoffnung und Ausweg – weder Russel noch sonst irgendein Materialist kann dir verraten, wohin du gehst oder gar wohin du gehen sollst. Das Göttliche manifestiert sich bekanntlich nicht derart, dass es in den äußeren Gegebenheiten der Welt erkannt werden kann. Wir haben es nicht mit dem Werk eines unverantwortlichen Herrschers irgendwo zu tun, sondern es sind die Gegebenheiten eines Ausarbeitens von Kräften gemäß einer bestimmten Natur des Seins – man könnte auch sagen, gemäß einer gewissen Anlage oder einem gewissen Problem des Seins – in etwas, in das einzutreten und mit ihm zusammenzuwirken wir tatsächlich alle zugestimmt haben. Die Arbeit sei schmerzhaft, zweifelhaft, ihre Wechselfälle unmöglich vorherzusehen? Dann gibt es zwei Möglichkeiten, nämlich entweder sich davon abzulösen und das nirvana zu erlangen, sei es mit Hilfe des buddhistischen oder des illusionistischen Weges, oder aber sich nach innen zu wenden und dort das Göttliche zu finden, das an der Oberfläche nicht zu entdecken ist. Diejenigen, die den Versuch unternahmen – und es waren ihrer nicht wenige, sondern Hunderte und Tausende –, haben durch alle Zeiten bezeugt, dass dort das Göttliche zu finden ist, und daher gibt es auch den Yoga. Es nähme lange Zeit in Anspruch? Das Göttliche sei hinter dem dichten Schleier seiner Maya verborgen und beantworte weder unseren Ruf sofort noch in einem frühen Stadium der Sadhana? Oder es gewähre nur einen ungewissen oder flüchtigen Blick und ziehe sich dann zurück und warte auf unser Bereitsein? Doch wenn das Göttliche irgendeinen Wert hat, lohnt es dann nicht eine gewisse Mühe und Zeit und Arbeit, ihm zu folgen, und können wir wirklich darauf beharren, es ohne Schulung, Opfer, Leiden oder Mühen zu erreichen? Ganz sicher ist es unvernünftig, eine derartige Forderung zu stellen. Soviel steht jedoch fest, wir müssen uns nach innen wenden, hinter den Schleier, damit wir es finden; nur dann können wir es auch außen sehen, und der Verstand kann nicht so sehr überzeugt als gezwungen werden, Seine Gegenwart durch die Erfahrung anzuerkennen – geradeso als hätte ein Mensch das erblickt, dessen Vorhandensein er abgestritten hatte, und kann es nun nicht länger leugnen. Doch hierfür müssen die Mittel akzeptiert werden, ein beharrlicher Wille und eine beharrliche Geduld bei der Arbeit.

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Doch warum um Himmels willen verlangt dein verzweifelnder Freund, dass jedermann mit ihm übereinstimmt und der von ihm bevorzugten Verhaltens- oder Glaubensrichtung folgt? Das ist der niemals verwirklichte Traum des Politikers, oder verwirklicht nur mit Hilfe eines gewaltsamen Druckes auf das menschliche Mental und Leben, jener neuesten Errungenschaft des Tat-Menschen. Die „inkarnierten“ Götter, also die Gurus und spirituellen Menschen, über die er sich so bitterlich beklagt, sind in ihren Hoffnungen viel bescheidener und zufrieden mit einer Handvoll oder aber – wenn du so willst – mit einem Ashram voller Schüler; doch selbst diese wollen sie nicht eigentlich – wenn sie da sind, sind sie da. Sind also diese verachteten „Inkarnierten“ der Vernunft und Weisheit nicht näher als die politischen Führer – ausgenommen natürlich, dass einer von ihnen den Fehler begeht, eine universale Religion zu gründen, doch das geht uns nichts an. Zudem tadelt dich dein Freund, du hättest deine Vernunft in blindem Glauben verloren. Doch was ist, außer einem vernunftmäßigen Glauben, seine eigene Ansicht der Dinge? Du glaubst deinem Glauben gemäß, was ganz natürlich ist, er glaubt seiner Meinung gemäß, was auch natürlich ist, doch keinesfalls besser, was die Wahrscheinlichkeit anbelangt, zur wahren Wahrheit der Dinge zu gelangen. Seine Meinung entspricht seiner Vernunft. Doch auch die Meinung seiner politischen Gegner entspricht deren Vernunft, dennoch ist die Idee, auf der sie beharren, das genaue Gegenteil der seinen. Kann man überhaupt durch Argumentation das Rechte aufzeigen? Die einander opponierenden Parteien können argumentieren, bis sie schwarz werden, und sind einer Entscheidung immer noch nicht nähergekommen. Am Ende gewinnt der, der die größere Macht hat oder der von der allgemeinen Richtung der Dinge begünstigt wird. Doch wer kann, wenn er die Welt betrachtet, behaupten, die allgemeine Richtung der Dinge bewege sich immer oder jemals der rechten Vernunft gemäß – was immer dies sein mag, das man die rechte Vernunft nennt. Tatsächlich gibt es keine universale, unfehlbare Vernunft, die zwischen gegensätzlichen Meinungen zu entscheiden und der Schiedsrichter zu sein vermöchte: es gibt nur meine Vernunft, deine Vernunft, Xs Vernunft, Ys Vernunft, die miteinander multipliziert ein misstönendes Vielfaches ergeben. Jeder urteilt nach seiner Einstellung zu den Dingen, nach seiner Meinung, das heißt seiner mentalen Beschaffenheit und Vorliebe gemäß. Welchen Wert hat es, den Glauben verächtlich zu machen, der uns letzten Endes etwas gibt, woran wir uns inmitten der Widersprüche eines rätselhaften Universums halten können. Wenn man zu einem Wissen, das weiß, zu gelangen vermag, dann ist es etwas anderes; doch solange wir nur ein argumentierendes Nicht-Wissen besitzen, nun, solange gibt es noch einen Platz für den Glauben; der Glaube kann sogar der Schimmer jenes Wissens sein, das weiß – wie fern es auch immer sei; und schließlich gibt es nicht den geringsten Zweifel daran, dass mit seiner Hilfe die Dinge geschehen. Hier hast du nun selbst ein Stück Argumentation – und wie alles übrige Argumentieren überzeugt es den Überzeugten, doch nicht den Unüberzeugbaren, also jenen, der den Boden, auf dem die Argumentation tanzt, nicht akzeptiert. Logik ist schließlich nichts anderes als ein abgewogener Tanz des Mentals.

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Dein Traum war bestimmt kein Mondschein, er war eine innere Erfahrung, die als voll gültig angesehen werden kann. Was die anderen Fragen anbelangt, so sind sie sehr verwickelt, und ich fühle mich nicht gerüstet, den Gordischen Knoten mit einem Hieb zu durchhauen. Sicher hast du recht, wenn du unmittelbar deiner eigenen Wahrheit folgst, und du brauchst Xs oder anderer Leute Vorschläge und Lösungen nicht anzunehmen. Der Mensch braucht beides, Glauben und Vernunft, solange er keine bessere Einsicht und kein größeres Wissen erreicht hat. Ohne Glauben kann er mit Sicherheit auf keinem Pfad wandern, doch ohne Vernunft durchaus, besonders wenn ihn der Stab des Glaubens in der Dunkelheit stützt. X gründet seinen Glauben zwar nicht auf der Vernunft, doch auf dem Argument; selbst der Rationalist, der Rationalisierende oder der Argumentierende muss Glauben besitzen und sei es nur der Glaube an die Vernunft selbst als ausreichend und maßgebend; genauso sieht der Gläubige seinen Glauben als ausreichend und maßgebend an. Dennoch können beide [Glaube und Vernunft] irren – wie es nicht anders sein kann –, da beide Instrumente des menschlichen Mentals sind, dessen Natur es ist zu irren, und beide teilen die Begrenzungen dieses Mentals. Jeder muss in dem Licht wandern, das er besitzt, auch wenn es dunkle Stellen gibt, über die er stolpert.

 

All dies hat mit der Frage nach der gegenwärtigen menschlichen Zivilisation jedoch nichts zu tun. Nicht diese ist es, die gerettet werden muss – die Welt muss gerettet werden; und dies wird bestimmt geschehen, obwohl es nicht so einfach oder so bald sein wird, wie manche es wünschen oder sich vorstellen mögen, oder gar auf die Weise, wie sie es sich vorstellen. Das Gegenwärtige muss sich mit Sicherheit ändern; die Frage ist nur, ob es mit Hilfe einer Zerstörung oder eines neuen Aufbaus auf der Grundlage einer größeren Wahrheit geschieht. Die Mutter hat diese Fragen offen gelassen, und ich kann nichts anderes tun. Schließlich muss der Weise, außer er ist ein Prophet oder der Direktor des astrologischen Instituts von Madras, die „Asquithsche“2 Haltung einnehmen. Weder Optimismus noch Pessimismus sind die Wahrheit: sie sind nichts als Veranlagungen des Mentals oder Temperaments.

Am besten also ohne übermäßigen Optimismus oder Pessimismus „abwarten und Tee trinken“.

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Der Glaube an spirituelle Dinge, der vom Sadhak verlangt wird, ist kein unwissender, sondern ein leuchtender Glaube, ein Glaube im Licht und nicht in der Finsternis. Der skeptische Verstand nennt ihn blind, da sich dieser Glaube von äußeren Erscheinungsformen oder scheinbaren Tatsachen nicht leiten lässt – denn er sucht die Wahrheit dahinter – und sich nicht auf den Krücken des Beweises und des Offenkundigen vorwärtsbewegt. Er ist eine Intuition – eine Intuition, die nicht nur auf die Erfahrung wartet, die sie rechtfertigen soll, sondern auch zur Erfahrung führt. Wenn ich an Selbst-Heilung glaube, werde ich nach einer Weile den Weg finden, mich selbst zu heilen. Wenn ich an die Umwandlung glaube, kann ich zu ihr gelangen, in dem ich meine Hand an den Vorgang der Umwandlung lege und diesen auslöse. Doch wenn ich mit Zweifel beginne und mit mehr Zweifel fortfahre, wie weit werde ich dann auf dieser Reise vermutlich kommen?

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Was die Frage des Glaubens und Zweifels anbelangt, so gibst du dem Wort „Glauben“ mit Übereifer eine Bedeutung und eine Reichweite, wie ich sie nicht damit verbinde. Ich werde nicht nur einen, sondern mehrere Briefe zu schreiben haben, um die Situation zu klären. Es scheint, dass du mit Glauben einen mentalen Glauben meinst, der dem Mental und den Sinnen in der zweifelhaften Form einer haltlosen Behauptung dargeboten wird. Ich meine damit die dynamische und intuitive Überzeugung des inneren Wesens von der Wahrheit übersinnlicher Dinge, die durch physische Tatsachen nicht bewiesen werden können, sondern dem Bereich der Erfahrung angehören. Meiner Ansicht nach ist dieser Glaube eine höchst wünschenswerte Vorbereitung für die angestrebte Erfahrung (wenn auch nicht unerlässlich, denn es gibt eine Art Erfahrung, der kein Glaube vorangeht). Wenn ich so viel Wert auf den Glauben lege – nicht so sehr auf einen bejahenden Glauben als auf ein Ablegen des a priori Zweifelns und Verneinens –, dann deshalb, da ich finde, dass diese Zweifel und dieses Verneinen zu einem Instrument in den Händen der hemmenden Kräfte geworden sind...

Die Ablehnung des Materialisten nenne ich a priori, weil er sich weigert, auch nur zu erwägen oder zu prüfen, was er ablehnt; er beginnt vielmehr mit der Ablehnung und vertritt den Standpunkt, dass etwas seinen eigenen Theorien Widersprechendes nicht wahr sein kann. Auf der anderen Seite ist der Glaube an das Göttliche, an die Gnade, den Yoga, den Guru usw. kein a priori-Glaube, da er sowohl auf einer großen menschheitlichen Erfahrung, angesammelt in Jahrhunderten und Jahrtausenden, beruht als auch auf der persönlichen intuitiven Wahrnehmung. Glaube ist eine intuitive Wahrnehmung, die durch die Erfahrung von Hunderten und Tausenden, die sie vor mir hatten, bestätigt wurde.

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Während ich über Zweifel zu schreiben beginne, fechten mich „Zweifel“ an, ob jedwede Menge von Schriften oder irgend etwas anderes den ewigen Zweifel im Menschen, die Strafe seiner angeborenen Unwissenheit zu zerstreuen vermag. Zunächst einmal, wollte man angemessen darüber schreiben, so würde dies in etwa sechzig bis sechshundert Seiten ausmachen, doch nicht einmal sechstausend überzeugende Seiten könnten den Zweifel überzeugen. Denn der Zweifel besteht um seiner selbst willen; sein eigentlicher Zweck ist, immer zu zweifeln, und selbst wenn er beschwichtigt ist, weiterhin zu zweifeln; und nur um von demjenigen, der ihn nährt, Unterkunft und Verpflegung zu erhalten, gibt er vor, ein ehrlicher Wahrheitssucher zu sein. Dies ist es, was ich sowohl aus der Erfahrung mit meinem eigenen Mental als auch mit dem Mental anderer gelernt habe; der einzige Weg, sich vom Zweifel zu befreien, besteht darin, Wahrheit und Falschheit mit Hilfe des Unterscheidungsvermögens ausfindig zu machen und unter seinem Schutz die Tür frei und mutig der Erfahrung zu öffnen.

Gleichviel, ich habe zu schreiben begonnen, doch werde ich nicht mit dem Zweifel beginnen, sondern mit der Forderung nach dem Göttlichen als einer konkreten inneren Gewissheit, genauso konkret wie irgendein physisches Phänomen, das von den Sinnen aufgegriffen wird. Nun, natürlich muss das Göttliche eine derartige innere Gewissheit sein, nicht nur so konkret, sondern noch konkreter als irgend etwas, das von Ohr oder Auge oder beim Kontakt mit der Welt der Materie wahrgenommen wird; es ist jedoch nicht eine Gewissheit des mentalen Denkens, sondern die einer essentiellen Erfahrung. Wenn sich der Friede Gottes auf dich senkt, wenn die Göttliche Gegenwart in dir ist, wenn der Ananda dich überströmt wie ein Meer, wenn du vom Atem der Göttlichen Kraft getrieben wirst wie ein Blatt vor dem Wind, wenn die Liebe sich aus dir über der gesamten Schöpfung entfaltet, wenn das Göttliche Wissen dich mit einem Licht überflutet, in einem Augenblick alles erleuchtend und umwandelnd, was zuvor trüb und sorgenvoll und finster war, wenn alles Bestehende Teil der Einen Wirklichkeit wird, wenn diese Wirklichkeit ganz um dich ist, dann fühlst du, siehst du, berührst du allein das Göttliche, augenblicklich und überall, sei es durch spirituellen Kontakt, die innere Vision, durch das erleuchtete und erkennende Denken, sei es durch die vitale Empfindung und sogar durch die physischen Sinne selbst. Dann kannst du es kaum weniger bezweifeln oder leugnen als du das Tageslicht oder die Luft oder die Sonne am Himmel bezweifeln oder leugnen kannst; denn dieser physischen Dinge bist du nicht sicher, weil sie etwas sind, was deine Sinne dir widerspiegeln; doch in der konkreten Erfahrung des Göttlichen ist Zweifel nicht möglich.