Für Immer und Einen Tag

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„Es war unentschuldbar“, sagte er mit kaum mehr als einem Flüstern. „Also werde ich nicht versuchen, es zu entschuldigen.“

Emily spürte, wie wild ihr Herz in ihrer Brust raste. Sie war so wütend, dass sie nicht mehr klarsehen konnte. All diese Jahre der Emotionen überfluteten sie mit der Kraft eines Tsunami.

„Hast du überhaupt darüber nachgedacht, wie sehr es mich verletzen würde?“ Sie weinte und ihre Stimme schwoll in Tonhöhe und Lautstärke noch mehr.

Roy schien vor Angst gelähmt zu sein, sein ganzer Körper war angespannt, sein Gesicht vor Reue verzerrt. Emily war froh, ihn so zu sehen. Sie wollte, dass es ihm genauso weh tat wie ihr.

„Zuerst nicht“, gestand er. „Weil ich nicht ganz bei Sinnen war. Ich konnte an nichts und niemanden außer mich selbst denken, an meinen eigenen Schmerz. Ich dachte, du wärst ohne mich besser dran.“

Dann brach er zusammen. Schluchzer durchfuhren seinen Körper, bis er von Emotionen überwältig zitterte. Ihn so zu sehen war wie ein Stich ins Herz. Emily wollte ihren Vater nicht vor ihren Augen brechen und zerbröseln sehen, aber er musste es wissen. Es würde keine Zukunft geben, keine Wiedergutmachung, ohne dass alles ausgesprochen wurde.

„Also dachtest du, dass du mir einen Gefallen tun würdest, wenn du mich verlässt?“, schnappte Emily und verschränkte schützend die Arme vor ihrer Brust. „Weißt du wie mies das ist?“

Roy weinte bitterlich in seine Hände. „Ja. Ich war damals so durch den Wind und das Durcheinander in meinem Kopf hielt sehr lange an. Als ich realisierte, welchen Schaden ich angerichtet hatte, war zu viel Zeit vergangen. Ich wusste nicht, wie ich wieder dahin zurück gelangen konnte, wie es einmal war, wie ich den Schmerz ungeschehen machen konnte.“

„Du hast es nicht einmal versucht“, beschuldigte Emily ihn.

„Ich habe es versucht“, sagte Roy, und das Flehen in seinem Tonfall ärgerte Emily noch mehr. „So oft. Ich kam mehrmals zum Haus zurück, aber jedes Mal überwältigte mich die Schuld an dem, was ich getan hatte. Es gab zu viele Erinnerungen. Zu viele Geister.“

„Sag das nicht“, blaffte Emily, und in Gedanken stellte sie sich sofort Charlotte vor, die als Geist das Haus heimsuchte. „Wag es nicht.“

„Es tut mir leid“, wiederholte Roy keuchend vor Schmerz.

Er sah auf seinen Schoß, indem seine alten Hände zitterten.

Auf dem Tisch vor ihnen wurden der unangerührte Kaffee in den Tassen kalt.

Emily atmete tief durch. Sie wusste, dass ihr Vater Depressionen gehabt hatte - sie hatte die Medikamentenverschreibung in seinem Hab und Gut gefunden - und dass er nicht er selbst war, dass die Trauer ihn dazu brachte, sich auf unverzeihliche Weise zu benehmen. Sie sollte ihm dafür keine Vorwürfe machen, und doch konnte sie nicht anders. Er hatte sie so sehr enttäuscht. Sie mit ihrer Trauer allein gelassen. Mit ihrer Mutter. In Emilys Herzen gab es so viel Wut, selbst wenn sie wusste, dass Schuldvorwürfe hier keinen Platz hatten.

„Was kann ich tun, um es wieder gut zu machen, Emily Jane?“, fragte Roy, seine Hände wie zum Gebet gefaltet. „Wie kann ich anfangen, den Schaden zu heilen, den ich verursacht habe?“

„Warum fängst du nicht damit an, die Lücken zu füllen“, antwortete Emily. „Erzählst mir, was passiert ist? Wo du hingegangen bist. Was du all die Jahre gemacht hast?“

Roy blinzelte, als wäre er von Emilys Art der Befragung überrascht worden.

„Es war die Ungewissheit, die mich umgebracht hat“, erklärte Emily traurig. „Wenn ich nur gewusst hätte, dass du irgendwo in Sicherheit bist, hätte ich damit umgehen können. Du hast keine Ahnung, wie viele Szenarien ich mir ausgemalt habe, wie viele verschiedene Leben ich mir vorgestellt habe. Ich konnte jahrelang nicht gut schlafen. Es war so, als würde mein Verstand nicht aufhören, immer weitere Optionen heraufzubeschwören, bis er die richtige gefunden hatte, obwohl das gar nicht möglich war. Es war eine unmögliche, sinnlose Aufgabe, aber ich konnte nicht aufhören. Damit könntest du mir also helfen. Fange damit an, mir die Wahrheit zu sagen, indem du mir erzählst, was ich all die Jahre nicht wusste. Wo warst du?“

Roys Tränen versiegten schließlich. Er schniefte und tupfte sich mit dem Ärmel die Augen ab. Dann räusperte er sich.

„Ich habe meine Zeit zwischen Griechenland und England aufgeteilt. Ich habe mir in Falmouth, Cornwall, an der englischen Küste ein Zuhause geschaffen. Es ist ein schöner Ort, Klippen und eine wunderschöne Landschaft. Dort gibt es eine fantastische Künstlerszene.“

Wie passend, dachte Emily und erinnerte sich an seine Obsession mit Tonis Kunstwerken, an die Art, wie er eines ihrer Leuchtturm-Gemälde in dem Zuhause in New York City, das er mit Patricia geteilt hatte, aufgehängt hatte, und wie ärgerlich sich Emily gefühlt hatte, als sie bemerkte, wie unverschämt er gewesen war, wie respektlos.

„Wie hast du dir das leisten können?“, konfrontierte ihn Emily. „Die Polizei sagte, auf deinen Bankkonten hätten keine Aktivitäten stattgefunden. Das war einer der Gründe, warum ich dachte, du wärst tot.“

Bei dem Wort zuckte Roy zusammen. Emily konnte sehen, wie schlecht er sich fühlte, als er mit dem Schmerz konfrontiert wurde, den er ihr bereitet hatte. Aber er musste das hören. Und sie musste es sagen. Nur so konnten sie vorwärtskommen.

„Ich habe keine meiner Antiquitäten verkauft, wenn du das meinst“, begann er. „Ich habe das alles für dich gelassen.“

„Dafür soll ich dir vermutlich dankbar sein?“, fragte Emily bitter. „Es ist nicht so, als könnte ein Diamant die jahrelange Vernachlässigung wettmachen.“

Roy nickte traurig und ertrug die volle Wucht ihrer wütenden Worte. Emily begann zu akzeptieren, dass er seine Schuld anerkannte, dass er nicht länger versuchte, seine Handlungen zu rechtfertigen, sondern stattdessen auf den Schmerz zu hören, den er ihr verursacht hatte.

„Du hast Recht“, sagte er leise. „Ich wollte damit nicht unterstellen, dass es möglich ist.“

Emily spannte ihren Kiefer an. „Nun, dann mach weiter“, sagte sie. „Sag mir, was passiert ist, nachdem du gegangen bist. Wie du dich über Wasser gehalten hast.“

„Zuerst habe ich von einem Tag zum anderen gelebt“, erklärte Roy. „Ich habe mit allem Möglichen Geld verdient. Mit sonderbare Jobs. Auto- und Fahrradreparaturen. Basteln. Ich habe mich darauf spezialisiert, Uhren herzustellen und zu reparieren. Das mache ich auch jetzt noch. Ich bin ein Uhrmacher. Ich mache kunstvoll verzierte Uhren mit versteckten Schlüsseln und Geheimfächern.“

„Natürlich tust du das“, sagte Emily bitter.

Der Ausdruck der Scham kehrte in Roys Gesicht zurück.

„Was ist mit Liebe?“, fragte Emily. „Hast du dich jemals ganz auf jemanden eingelassen?“

„Ich lebe alleine“, antwortete Roy traurig. „Das habe ich, seit ich gegangen bin. Ich wollte niemandem mehr Schmerzen zufügen. Ich konnte es nicht ertragen, in der Nähe von Menschen zu sein.“

Zum ersten Mal begann Emily, Mitgefühl für ihren Vater zu empfinden, stellte ihn sich einsam vor, wie ein Einsiedler lebend. Sie fühlte sich, als hätte sie so viel Schmerz freigesetzt, wie sie gebraucht hatte, dass sie ihm genug vorgeworfen hatte, um endlich seine Geschichte hören zu können. Eine befreiende Welle durchfuhr sie.

„Deshalb verwende ich keine moderne Technologie“, fuhr Roy fort. „In der Stadt gibt es eine Telefonzelle, mit der ich meine seltenen Anrufe tätigen kann. Das lokale Postamt lässt mich wissen, ob jemand auf meine Uhrmacheranzeige geantwortet hat. Wenn ich mich stark genug fühle, gehe ich in die örtliche Bibliothek und überprüfe meine E-Mails, um zu sehen, ob du mir geschrieben hast.“

Emily hielt inne und runzelte die Stirn. Das war überraschend für sie. „Das machst du?“

Roy nickte. „Ich habe Hinweise für dich hinterlassen, Emily Jane. Jedes Mal, wenn ich zum Haus zurückkehrte, habe ich eine andere Krume für dich zurückgelassen. Die E-Mail-Adresse war der größte Schritt, den ich gemacht habe. Ich wusste, sobald du sie gefunden hast, würde sie eine direkte Verbindung von dir zu mir ermöglichen. Aber die Erwartung, das Warten, es war unerträglich. Also habe ich mich auf ein paar Mal pro Jahr beschränkt. Als ich deine E-Mail bekommen habe, bin ich direkt hierher geflogen.“

Emily begriff, dass dies der Grund für die zusätzlichen Monate der Qual war, durch die sie gegangen war nachdem sie erfahren hatte, dass er noch am Leben war und nachdem sie ihn kontaktiert hatte. Er hatte sie nicht ignoriert oder war ihr aus dem Weg gegangen, er hatte ihre E-Mail einfach nicht gesehen.

„Ist das wahr?“, fragte sie mit angespannter Stimme, während Tränen ihre Augen füllten. „Bist du wirklich sofort hierhergekommen, als du gesehen hast, dass ich dir geschrieben hatte?“

„Ja“, antwortete Roy. Seine Stimme war kaum ein Flüstern und wieder liefen ihm Tränen übers Gesicht. „Ich habe gehofft und gewünscht und geträumt, dass du in Kontakt trittst. Ich dachte mir, dass du eines Tages zu diesem Ort zurückkehren würdest, wenn du bereit bist. Aber ich wusste auch, dass du wütend auf mich sein würdest. Ich wollte, dass du die Entscheidung triffst. Ich wollte, dass du diejenige bist, die mit mir Kontakt aufnimmt, weil ich nicht in dein Leben eindringen wollte. Wenn du dich nicht gemeldet hättest, wäre ich davon ausgegangen, dass es das Beste wäre, es zu akzeptieren.“

 

„Oh, Papa“, keuchte Emily.

Endlich löste sich etwas in Emily. Da war etwas an diesem letzten, finalen, herzzerreißenden Eingeständnis ihres Vaters, was sie die ganze Zeit über hatte wissen wollen. Dass er darauf gewartet hatte, dass sie den ersten Schritt machte. Er hatte sie nicht gemieden oder sich vor ihr versteckt, er hatte Krümel für sie fallen lassen und darauf vertraut, dass sie, sobald sie alle Teile zusammengefügt hatte, ihre eigene Entscheidung darüber treffen würde, ob sie ihm vergeben konnte und er wieder Teil ihres Lebens sein durfte.

Sie stand auf, eilte zur gegenüberliegenden Couch und schlang die Arme um seinen Hals. Sie weinte an seiner Schulter und tiefe Schluchzer entrangen sich ihrem Körper. Roy klammerte sich an sie und zitterte ebenfalls, während der Kummer aus ihm strömte.

„Es tut mir so leid“, sagte er mit erstickter Stimme, die von ihren Haaren gedämpft wurde. „Es tut mir so leid.“

So blieben sie lange Zeit, hielten einander, vergossen jede Träne, die es brauchte, und quälten auch noch den letzten Tropfen Schmerz heraus. Endlich hörte das Weinen auf. Alles wurde still.

„Hast du noch mehr Fragen?“, sagte Roy schließlich leise. „Ich werde dir keine Geheimnisse mehr vorenthalten. Ich werde nichts verbergen.“

Ihre Emotionen hatten Emily völlig erschöpft. Die Brust ihres Vaters hob und senkte sich mit jedem tiefen Atemzug, den er nahm. Sie war so müde, dass sie sich fühlte, als könnte sie hier und jetzt in seinen Armen einschlafen. Aber zur gleichen Zeit hatte sie immer noch eine Million Fragen in ihrem Kopf, aber eine war dringender als alle anderen.

„Die Nacht, als Charlotte starb ...“, begann sie. „Mama hat ein paar Sachen erwähnt, aber sie hat mir nur eine Seite der Geschichte erzählt. Was ist passiert?“

Roys Arme strafften sich um sie. Emily wusste, dass es schwer für ihn war, sich an diese Nacht zu erinnern, aber sie wollte verzweifelt die Wahrheit wissen oder zumindest seine Version davon. Vielleicht wäre sie in der Lage, die drei Versionen - Patricias, Roys und ihre eigene - zusammen zu puzzeln und etwas zu schaffen, das Sinn ergab.

„Ich habe euch für Thanksgiving und Weihnachten mitgenommen“, begann Roy. „Es lief nicht gut mit deiner Mutter, also blieb sie zu Hause. Aber dann habt ihr beide die Grippe bekommen.“

„Ich glaube, ich erinnere mich“, sagte Emily. Sie erinnerte sich an dieses Fieber in ihrer Kindheit. „Tonis Hund, Persephone, war da. Ich bin in der Halle zusammengebrochen.“

Roy nickte, aber er sah verlegen aus. Emily wusste warum. Das war ein Wendepunkt in seiner Affäre mit Toni gewesen, der Punkt, an dem er so unverschämt gewesen war, dass sich das Leben seiner Geliebten und seiner Kinder kreuzte.

„Erinnerst du dich, dass deine Mutter unangemeldet auftauchte?“, fragte Roy.

Emily schüttelte den Kopf.

„Sie wollte da sein und sich um euch beide kümmern, weil ihr so ​​krank wart.“

„Das hört sich nicht nach Mama an“, sagte Emily.

Roy lachte. „Nein, tut es nicht. Vielleicht war es eine Entschuldigung. Sie vermutete die Affäre und es war ihre Art, unangekündigt aufzutauchen und mich auf frischer Tat zu ertappen.“

Emily gab ein unterdrücktes Nicken von sich. Das war mehr der Stil ihrer Mutter.

„Ihr müsst die Auseinandersetzung irgendwie mitbekommen haben. Ich war mir sicher, dass wir laut genug geschrien haben, dass wir noch am Hafen zu hören waren.“ Er zuckte mit den Schultern. „Ich weiß nicht, ob das Charlotte aufgeweckt hat. Sie war von der Medizin, die sie genommen hatte, ziemlich groggy. Ihr beide wart es. Aber sie ist aufgewacht und ich nehme an, sie war verwirrt, als sie nach uns suchte, oder sie fühlte sich nur unwohl wegen der Wirkung der Medikamente. Sie gelangte in das Nebengebäude mit dem Pool. Ich nehme an, du kennst den Rest.“

Das tat Emily. Aber was sie nicht gewusst hatte, war, wie klein ihre Rolle bei dem Drama war. Es war nicht ihre Schuld, nicht wach geworden zu sein, als Charlotte aufwachte, und ihre Schwester nicht davon abgehalten zu haben, umherzuwandern. Es war auch nicht ihre Schuld, so enthusiastisch über den neuen Pool gesprochen zu haben und so in ihrer Schwester die Begeisterung angefeuert zu haben, den Pool zu sehen. Sie war krank, verwirrt, vielleicht sogar erschrocken über die lautstarke Auseinandersetzung ihrer Eltern. Nichts davon war ihre Schuld gewesen. Kein kleines bisschen.

Emily fühlte sich plötzlich befreit. Ein Gewicht, das sie nicht einmal bemerkt hatte, fiel von ihren Schultern. Sie hatte sich an Charlottes Tod festgeklammert, selbst nachdem ihre Mutter ihr erklärt hatte, dass es nicht ihre Schuld gewesen war. Jetzt hatte sie das Gefühl, als hätte ihr Vater ihr erlaubt, diese Schuld loszulassen.

Sie kuschelte sich an ihn und spürte, wie sich Frieden auf ihre Seele legte.

In diesem Moment wurde die Stille durch das leise Klopfen an der Tür unterbrochen. Daniel spähte herum.

„Daniel, komm rein“, sagte Emily und winkte ihm zu. Sie wollte ihn jetzt hier haben, nachdem ihr Vater und sie alles auf den Tisch gebracht hatten. Sie brauchte seine Unterstützung.

Er kam und setzte sich auf die Kante der Couch ihnen gegenüber. Emily wischte sich die Tränen von den Wimpern, aber sie klammerte sich weiter an ihren Vater, zusammengerollt wie ein Kind neben ihm auf der Couch.

„Braucht irgendjemand etwas?“, fragte Daniel sanft. „Ein Taschentuch? Einen starken Drink?“

Es war genau das, was der Moment brauchte, um all die Schwere aufzulösen. Emily gluckste ein Lachen. Sie fühlte Roys grollendes Lachen in seinem Bauch.

„Ich könnte einen Drink gebrauchen“, sagte sie.

„Könnte ich auch“, antwortete Roy. „Ist die Bar bestückt?“

Daniel ging voraus. „Ist sie, also kommt schon. Es ist so fantastisch da drin. Ich werde uns Drinks machen.“

Emily zögerte. „Papa, ist das eine gute Idee?“, fragte sie.

„Warum sollte es das nicht sein?“, antwortete Roy verwirrt.

Emily senkte die Stimme. „Wegen deines Alkoholproblems.“

Roy sah erstaunt aus. „Was für ein Alkoholproblem?“ Dann wurde sein Gesicht bleich. „Hat Patricia dir gesagt, dass ich Alkoholiker bin?“

„Du warst ein Alkoholiker“, erwiderte Emily. „Ich erinnere mich, dass du getrunken hast. Ständig.“

„Ich habe viel getrunken“, gab Roy zu. „Wir beide, deine Mutter und ich. Das ist einer der Gründe, warum unsere Beziehung so unberechenbar war. Aber ich war kein Alkoholiker.“

„Was ist mit den Eierlikören zum Frühstück an Weihnachten?“ fragte sie, sich daran erinnernd, wie gereizt ihr Vater gewesen war, als sie sein Getränk umgestoßen hatte.

„Es war einfach nur Weihnachten!“, rief Roy aus.

Ein weiteres Stück von Emilys Vergangenheit richtete sich neu aus. Sie war auf Patricias bittere, verzerrte Version der Ereignisse hereingefallen, hatte ihnen erlaubt, ihre eigenen Erinnerungen an ihren Vater zu ersetzen. Sie spürte eine Welle der Wut auf ihre Mutter in sich aufsteigen, weil sie Roy zum Bösewicht ihrer traumatischsten Erfahrung gemacht hatte.

Sie gingen in die Flüsterkneipe und setzten sich an die Bar. Daniel fing an, die Cocktails zuzubereiten.

„Wir haben abends einen Barkeeper, um das zu machen“, erklärte er Roy. „Alec. Er ist fantastisch. Besser als ich jedenfalls.“

Er schenkte ihnen eine Margarita ein. Roy nahm einen Schluck.

„Das schmeckt fantastisch“, sagte er. Dann, ein wenig schüchtern, fügte er hinzu: „Ich muss schon sagen, aus dir ist ein feiner junger Gentleman geworden.“

Emily spürte, wie ihr Herz hüpfte. Sie lächelte, war stolz darauf und fühlte sich, als wäre alles so wie es sein sollte.

„Dafür habe ich dir zu danken“, antwortete Daniel schüchtern und sah Roy nicht wirklich in die Augen. „Dafür, mich an die Sachen herangeführt zu haben, die mir wichtig waren. Angeln. Segeln.“

„Segelst du noch?“, fragte Roy.

„Ich habe ein Boot im Hafen. Dank Emily ist es restauriert. Wir nehmen es für Ausflüge mit der Familie. Chantelle liebt es auch. Sie ist großartig im Angeln.“

„Ich segle auch noch viel“, sagte Roy. „Wenn ich nicht an einer Uhr arbeite, verbringe ich meine Zeit auf dem Boot. Oder im Garten.“

„Erinnerst du dich an diesen Tag, an dem du mir beigebracht hast, wie man Gemüse anbaut?“, fragte Daniel.

„Natürlich“, antwortete Roy. Er lächelte und schwelgte in Erinnerungen. „Ich habe noch nie gesehen, dass ein so schmuddeliger Punk von einem Kind so hart mit einer Schaufel arbeitet.“

Daniel lachte. „Ich war wissbegierig“, sagte er. „Und wollte die Gelegenheit zu nutzen. Auch wenn es äußerlich so aussah, als hasste ich die Welt.“

Emily fand es seltsam, sie Witzeln und Lachen zu sehen. Zwischen ihnen gab es wesentlich weniger Verletzungen. Es war mehr wie eine Kameradschaft. Daniel war diesem Mann, der ihm eine Chance gegeben hatte als er sie brauchte, für immer dankbar. Auch, wenn genau dieser Mann ebenfalls aus seinem Leben verschwunden war. Vielleicht war es nur die Überraschung für Emily, zu erkennen, wie nahe sie sich einmal gewesen waren. Denn sie wusste auch, dass der Sommer, den sie zusammen verbracht hatten, ein Sommer gewesen war, den sie und ihr Vater getrennt voneinander verbracht hatten.

Ihr Handy summte und sie sah einen Text von Amy über ihre geplante Ankunft am Nachmittag. Amy und Jayne hatten dringende Geschäftssachen zu erledigen und machten deshalb einen Zwischenstopp, wodurch sie später als geplant ankommen würden. Emily realisierte schuldbewusst, dass sie völlig vergessen hatte, dass sie unterwegs waren. Sie war so mit ihrem Vater beschäftigt gewesen, dass ihr alles andere entfallen war.

Sie schrieb schnell zurück und wandte sich dann wieder ihrem Vater und Daniel zu. Sie lachten wieder fröhlich.

„Ich bin so froh, dass das Boot gehalten hat“, rief Daniel aus. „Wer hätte gedacht, dass sich das Wetter so verändern würde? Ein Sturm mitten im Sommer.“

„Es war ein unglücklicher Zeitpunkt“, antwortete Roy. „Wenn man bedenkt, dass es deine erste Bootsfahrt war.“

„Nun, ich hatte den besten Lehrer, also hatte ich keine schlimme Angst.“ Er lächelte, seine Augen weit in Erinnerung. „Danke, dass du mich mit Booten, Wasser und Segeln bekannt gemacht hast. Ich kann mir mein Leben ohne das alles nicht mehr vorstellen.“

Emily beobachtete, wie Roy Daniel anlächelte. Jetzt, da ihr Zorn verflogen war, fühlte sie ein überwältigendes Gefühl von Frieden, von Aufrichtigkeit. So hätte es immer gewesen sein sollen. Ihr Vater hängt mit ihrem Verlobten zusammen, jeder genießt die Gesellschaft des anderen und freut sich darauf, bald Teil derselben Familie zu werden.

Es mag ein bisschen spät gekommen sein, aber sie würde alles tun, was sie könnte, um es zu genießen.

*

Im Laufe des Abends machte Daniel noch eine Ladung Cocktails. Er stellte ein Glas vor Emily ab, gerade als ihr Telefon bei einem eingehenden Anruf summte.

„Es ist Amy“, erklärte sie. „Ich geh besser ran.“

„Amy? Die von der High-School?“, fragte Roy und hob eine Augenbraue.

Emily nickte. „Wir sind immer noch Freunde“, informierte sie ihn. „Sie ist eine meiner Brautjungfer. Sie hilft eine Menge bei den vielen Hochzeitsvorbereitungen.“

Emily eilte aus der Flüsterkneipe und nahm den Anruf entgegen.

„Em, es tut uns so leid“, begann Amy. „Der Anruf hat ewig gedauert und jetzt sind wir beide zu erschöpft, um Auto zu fahren. Wir müssen über Nacht hierbleiben. Bitte hass uns nicht.“

„Das werde ich nicht“, versicherte Emily ihr, insgeheim erleichtert, dass ihre Freundinnen die Wiedervereinigung mit ihrem Vater nicht unterbrechen würden.

 

„Wir werden Morgen ganz früh losfahren“, fügte Amy hinzu.

„Ehrlich, Amy, es ist in Ordnung“, sagte Emily. „Hier ist sowieso gerade ziemlich viel los.“

„Was ist los? Etwas wegen der Hochzeit? Daniel? Sheila?“ Sie klang besorgt.

„Das ist es nicht“, erklärte Emily. Dann atmete sie tief durch. „Amy, mein Vater ist hier.“

Es folgte eine lange Stille. „Was? Wie? Bist du okay?“

Emily wusste nicht, wie sie das beantworten sollte, und sie wollte jetzt wirklich nicht allzu sehr darauf eingehen. Sie hatte es noch nicht ganz verarbeitet. Sie brauchte Zeit, um ihre Gefühle zu entwirren und alles zu verstehen.

„Mir geht's gut. Lasst uns darüber reden, wenn ihr hier seid.“

Amy klang nicht sehr überzeugt. „Okay. Aber wenn du jemanden brauchst, mit dem du reden möchtest, rufst du mich sofort an. Wir sehen uns morgen.“

Emily beendete den Anruf und ging zurück zur Flüsterkneipe, zu dem fröhlichen Gelächter von Roy und Daniel. Alte Busenfreunde wieder vereint.

„Okay“, sagte Roy und leerte den letzten Schluck aus seinem Glas. „Ich denke, es ist wahrscheinlich an der Zeit, dass ich mich verabschiede. Sieht so aus, als hättest du Gäste zu versorgen.“

Emily geriet bei dem Gedanken, dass Roy gehen würde, in Panik. „Ich habe Mitarbeiter, die sich um alles kümmern. Es ist in Ordnung für uns, Zeit miteinander zu verbringen. Du musst nicht gehen.“

Roy bemerkte ihren von Panik ergriffene Ausdruck. „Ich meinte nur, dass es Zeit ist, ins Bett zu gehen. Schlafen?“

„Du meinst du bleibst?“, sagte Emily überrascht. „Hier?“

„Wenn du Platz hast?“, sagte Roy kleinlaut. „Ich wollte nicht anmaßend sein.“

„Natürlich kannst du bleiben!“, rief Emily aus. „Wie lange planst du hier zu sein?“

„Bis zur Hochzeit, wenn das kein Problem ist. Ich könnte, wenn nötig, ein bisschen mit den Vorbereitungen helfen.“

Emily war verblüfft. Nicht nur war ihr Vater hier, sondern er hatte vor, über eine Woche hier zu bleiben! Es war wirklich ein Traum, der wahr wurde.

„Das wäre wundervoll“, sagte sie.

Sie gingen nach oben und gaben Roy das Zimmer neben seinem Arbeitszimmer. Emily wusste, dass er irgendwann dort hinein gehen würde, wahrscheinlich alleine.

„Ist dieses Zimmer in Ordnung für dich?“, fragte sie.

„Oh, ja. Es ist sehr schön“, antwortete Roy. „Und direkt neben meiner geheimen Treppe.“

Emily runzelte die Stirn. „Deine was?“

„Sag mir nicht, dass du sie nie gefunden hast“, sagte Roy. In seinem Auge blitzte ein Funken Unheil auf, eines, das den Streifen Wahnsinn offenbarte, dem er einmal verfallen gewesen war. Die Abwärtsspirale, die seine verspielte Natur für Schatzkarten in Geheimhaltung und verschlossenen Gewölbe mit versteckten Kombinationen verwandelt hatte.

„Meinst du die Treppe zum Dachausguck?“, fragte Emily. „Die habe ich gefunden. Aber sie ist im dritten Stock.“

Roy klatschte laut, als wäre er plötzlich entzückt. „Du hast sie also nie gefunden! Die Personaltreppe.“

Emily schüttelte den Kopf. „Aber ich habe die Pläne des ganzen Hauses gesehen. Deine Flüsterkneipe war der letzte versteckte Ort hier.“

„Wenn es auf einem Plan drauf ist, ist es ja nicht verborgen!“, rief Roy aus.

„Zeig sie uns“, sagte Daniel. Er schien aufgeregt zu sein, genauso wie er es gewesen war, als die Bar entdeckt worden war.

Roy führte sie in sein Arbeitszimmer. „Hast du dich nicht gewundert, warum es einen Schornstein an dieser Wand gibt?“ Er klopfte daran und es klang hohl. „Alle anderen Schornsteine sind an Außenwänden. Dieser hier ist innen liegend.“

„Es ist mir nicht einmal in den Sinn gekommen“, sagte Emily.

„Nun, es ist hier dahinter“, sagte Roy. „Würde es dir etwas ausmachen, mir behilflich zu sein, Daniel?“

Daniel war bereitwillig. Sie entfernten, wie Emily jetzt sah, eine falsche Wand, die so tapeziert war wie der Rest des Zimmers. Und da war sie. Eine Treppe. Klar, nicht besonders schön anzusehen, aber es war ihre bloße Existenz, die sie erregte.

„Ich kann es nicht glauben“, sagte Emily und trat ein. „Hast du deshalb dieses Zimmer als dein Arbeitszimmer gewählt?“

„Natürlich“, antwortete Roy. „Die Treppe war eine Abkürzung für die Diener, um zu den Schlafräumen zu gelangen, ohne von den Leuten im Haus gesehen zu werden. Es geht einfach von hier in den Keller, wo die Diener damals geschlafen haben.“

„Und das ist der einzige Weg dahin“, sagte Emily und erkannte jetzt, warum sie die Treppe nicht gefunden hatte. Im Keller befanden sich noch Räume, die für sie noch unentdeckt waren, und das Arbeitszimmer ihres Vaters war das Zimmer, das sie unverändert gelassen hatte.

Roy nickte. „Überraschung!“

Emily lachte und schüttelte den Kopf. „So viele Geheimnisse.“

Sie gingen aus dem Arbeitszimmer und Roy ging in sein Schlafzimmer. Emily ging, um die Tür hinter sich zu schließen, aber er streckte die Hand nach ihr aus und gab ihr einen Gute-Nacht-Kuss.

Emily blieb wie betäubt stehen. Ihr Vater hatte sie seit so viele Jahren nicht mehr geküsst, nicht einmal bevor er aus ihrem Leben gegangen war.

„Gute Nacht, Papa“, sagte sie hastig.

Sie schloss die Tür und eilte in ihr Zimmer. Sobald sie sicher drinnen waren, nahm Daniel sie sofort fest in die Arme. Das war auch dringend nötig.

„Wie fühlst du dich?“, fragte er leise und schaukelte sie sanft in seinen Armen.

„Ich kann nicht glauben, dass er wirklich hier ist“, stammelte sie. „Ich denke immer noch, das ist ein Traum.“

„Worüber habt ihr geredet?“

„Über alles. Ich meine, ich weiß, dass ich immer noch alles verarbeite, aber es war befreiend. Ich habe das Gefühl, wir können jetzt all den Schmerz hinter uns lassen und von vorne beginnen.“

„Also sind das Freudentränen, die meine Schulter nass machen?“, scherzte Daniel.

Emily wich zurück und lachte über den dunklen Fleck auf Daniels Shirt. „Ups, Entschuldigung“, sagte sie. Sie hatte nicht einmal bemerkt, dass sie geweint hatte.

Daniel küsste sie sanft. „Es gibt nichts zu entschuldigen. Ich verstehe, dass das hart wird. Wenn du weinen oder lachen oder schreien musst, bin ich hier. Okay?“

Emily nickte, so dankbar, einen so wunderbaren Menschen in ihrem Leben zu haben. Und jetzt, da ihr Vater hier war, hatte sie das Gefühl, dass sich wirklich alles zusammenfügte. Endlich, nach so vielen Jahren, in denen sie ein unerfülltes Leben führte, hatte sie das Gefühl, dass sie nun endlich das verdiente Leben führen konnte.

Ihre Hochzeit war nur noch eine Woche entfernt. Und jetzt, zum ersten Mal, fühlte sie sich mit allen um sie herum, die sie liebte, wirklich bereit dafür.

Jetzt war es Zeit zu heiraten.