Za darmo

Violet - Verletzt / Versprochen / Erinnert - Buch 1-3

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Kapitel 14

Die Helikopter ziehen tiefe Furchen in den Himmel, über dem Wald, in dem wir gehen. Sie suchen uns mit ihren Augen, mit ihren Lebensformscannern, die mehr sehen. Mehr, wozu ein menschliches Auge in der Lage ist. Vergebens. Sie werden uns nicht entdecken, so wie die Vollstrecker, die mir Auge in Auge gegenüberstanden und mich nicht gesehen haben.

Ich weiß nicht, wie es funktioniert, wie sie es macht, dass wir für unsere Verfolger unsichtbar sind. Wie sie Adams blutende Kehle nur mit ihren leuchtenden Händen geschlossen hat. Aber die Hauptsache ist sowieso nur, dass es funktioniert. Es ist genauso, wie die Luft anhalten auf Seegrund. Keine Ahnung wie das möglich war, wie ich das gemacht habe? Hauptsache ist, dass ich es konnte.

Nur jetzt bin nicht ich es, sondern die hübsche Schwarzhaarige, die schweigend in der eisigen Kälte neben mir hergeht und uns drei schützt und Adam das Leben gerettet hat.

Ich kann ihre Tattoos sehen und ich kann ihre Anwesenheit spüren. Die frostige Kälte und die unbeschreibliche Unsichtbarkeit, Geräuschlosigkeit, in der sie uns wie in einen undurchdringlichen Nebel einhüllt.

Ich folge ihr, laufe neben ihr her. Trage Adam über meiner Schulter. Spüre sein Gewicht kaum. Ich bin halb Mensch, halb Bestie, wie sonst soll das möglich sein? Die Tränen steigen aus meinem Herzen bis in meine Augen und die Schwarzhaarige sieht es und sie sagt nichts. Lässt mir Zeit, meine Gefühle und das Erlebte zu verarbeiten. Denn verstehen kann ich es noch nicht.

Eine Stunde, zwei, drei gehen wir. Stumm weine ich, bis keine Tränen mehr da sind. Bis mich die monotonen Schritte meiner Füße zurückgetragen haben zu meiner Mitte. Ein, zwei, drei weitere Stunden, bis wir keinen Helikopter mehr hören, bis wir keine Vollstrecker mehr zu fürchten brauchen.

Die Bäume um uns herum sind alt, knorrig, beobachten uns. Sie sind Zeugen der Zeit, der Vergangenheit. Was ist meine Vergangenheit? Was die der Menschen? Was von dem, das mir Adam erzählt hat, ist wahr? Hat er mir überhaupt etwas Wahres gesagt? Warum hat er sie vor mir versteckt? Verschwiegen, dass es sie gibt? Weiß er, was ich bin? Ich denke an die Zeichnungen in meinem Rucksack. Das weiße Buch, das ich an mich genommen habe.

Die Bäume können nicht sprechen. Leider. Aber die hübsche Schwarzhaarige kann es.

Die Stille und der Marsch, unser Schweigen hat ein Band der Vertrautheit zwischen ihr und mir gewoben, das tausend Worte nicht gekonnt hätten. Dafür, dass sie mir Zeit gegeben hat, bin ich ihr sehr dankbar. Und trotzdem. Jetzt geht es mir wieder besser und ich brenne darauf, zu sprechen. Mehr zu erfahren, jetzt, da wir uns in Sicherheit wiegen, will ich Worte mit ihr austauschen.

Ich will wirklich viel wissen. Wer sie ist? Warum sie bei Adam gelebt hat? Warum sie mir hilft? Wie sie das macht, dass sie uns nicht sehen können? Wie sie Adam geheilt hat? Wohin wir gehen? Wann Adam wieder aufwachen wird?

Ich breche die Stille entzwei wie einen dürren Ast.

»Wie ist dein Name?«, frage ich und meine Stimme krächzt wie die einer alten Frau. Ich räuspere mich und wiederhole meine Frage gleich noch einmal. »Wie heißt du?«

Sie schaut mich an und unsere Blicke huschen aneinander vorbei, umkreisen sich und finden doch zusammen.

Sie muss kichern und bevor ich eine Antwort von ihr bekomme, hat sie mich schon angesteckt und wir bleiben stehen und lachen ausgelassen und keiner weiß so recht warum.

»Also ich bin nicht so alt, wie ich mich anhöre«, grunze ich und aus meiner Nase läuft ein wenig flüssiges Nasenzeugs, das ich mit meinem Ärmel wegwische. »Ich heiße Freija«, sage ich dieses Mal gefasster und überlege, ob ich so tatsächlich heiße. »Also ich glaube zumindest, dass ich Freija heiße«, schiebe ich nach und sie muss schon wieder lachen. Sind wir betrunken? Nein, bestimmt nicht, ich sehe noch nicht doppelt.

»Ich bin Hope.«

Uff, was für eine Stimme sie hat. Ich habe so einen schönen Klang noch nie vernommen. Sie hat eine einfach unbeschreiblich schöne Stimme.

»Sag das nochmal!«, sage ich, nur um nochmal ihre Stimme zu hören.

Sieh zieht eine Augenbraue hoch. »Bist du taub?«

»Nein, natürlich nicht«, sage ich und setze Adam vorsichtig ab, sodass er im Gras liegt. Sie setzt sich im Schneidersitz neben ihn ins Gras und blickt zu mir hoch.

»Wie alt bist du?«, frage ich jetzt.

»17 und du?«

»Ich weiß es nicht wirklich. Ich schätze auch siebzehn oder so.«

Die hübsche Hope beginnt ihre schwarzen Haare nach Split zu durchsuchen. »Du bist ein ziemlich krasser Symbiont. Ich habe das noch nie gesehen. Aber du hast es nicht im Griff!«

Ich setze mich neben sie. »Ich bin was?«

Sie lässt von ihren Haaren ab und sieht mir direkt in die Augen. »Du weißt gar nichts, oder?«

»Ähm. Wahrscheinlich nicht so viel. Mir wurden die Erinnerungen genommen.«

»Weißt du, woher du die Teile hast?«

»Was meinst du?«

Hope verdreht die Augen himmelwärts. »Oh Mädchen, jetzt denk mal ein bisschen mit. Was ist an dir anders? Was beschäftigt dein Gehirn die ganze Zeit?«

»Meine Tattoos?«

Sie klatscht in die Hände. »Ja klar, was sonst!«

»Nein, ich weiß nicht, wo ich sie herhabe!«

»Ich kann es dir sagen«, flüstert sie jetzt geheimnisvoll. »Du hast sie von ihnen. Von den Bestien. Du bist eine von uns. Du bist ein Symbiont!«

»Ein Symbiont?«

»Ja genau! Halb Mensch, halb Bestie!«, sagt sie und wirft die Arme in die Luft.

»Ich habe Blut getrunken!«, sage ich plötzlich.

»Ich habe es gesehen!«, sagt sie und wischt sich über die Lippen.

»Du hast uns durch das Fenster beobachtet.«

»Ja, habe ich. Adam ist ein scharfer Typ, aber er steht nicht auf schwarze Haare. Er mag Blondinen!«

»Wie bitte?«, frage ich entsetzt und ich spüre, wie meine Wangen Feuer fangen, wie sie glühen, wie ich vor der Schwarzhaarigen knallrot werde. Ich erinnere mich an die schrecklichen Sekunden am See. Adam, der durchgedreht ist – oder war ich es, die durchgedreht ist? Und an das eindringliche Gefühl, das ich hatte. Das Gefühl beobachtet zu werden. Die Schatten hinter dem Fenster. Das war wirklich keine Einbildung. Das war sie! »Wieso hast du das gemacht? Ich meine, was fällt dir ein, uns zu beobachten?«

Hope tätschelt mein Knie. »Reg dich nicht auf, Schätzchen. Ich beobachte dich schon eine ganze Weile. Wir haben zwei Wochen im gleichen Haus gewohnt.«

»Warum warst du im Haus?«, will ich wissen.

Sie blickt zu dem bewusstlosen Adam. »Er hat mich vor ihnen versteckt.«

»Vor wem?«

»Den Vollstreckern.«

»Die, die die Sieben Gebote vollstrecken? Die Gebote für die Widerstandskämpfer in den Zonen?«

Hope rümpft ihre kleine Nase. »Widerstandskämpfer? Das hat er dir gesagt?«, fragt sie und zeigt auf Adam, der atmet und sonst nichts.

»Ja, Adam hat mir das gesagt.«

»Das ist nicht die ganze Wahrheit«, sagt Hope und ich spüre, dass sie mehr sagen möchte. Aber sie tut es nicht.

»Was ist dann der Rest der Wahrheit?«

»Ich werde es dir zeigen.« Sie spricht nach einer Minipause weiter. »Man muss die Wahrheit sehen, damit man weiß, dass sie wahr ist.« Ich spüre, dass es keinen Sinn hat, sie zu löchern und wechsle das Thema, weil ich nicht will, dass sie aufhört zu sprechen. »Und du hast mich also beobachtet?«

»Ja, die ganze Zeit schon. Du bist echt krass drauf. Killst den Adam fast und trinkst sein Blut!«

»Dafür schäme ich mich!«

»Brauchst du nicht, habe ich auch schon gemacht. Kriegst du mit der Zeit hin, ohne Blut auszukommen. Aber wenn du es nicht schaffst, dann wird es echt krass, dann wirst du deine menschliche Seite verlieren. Kannst du dich an etwas erinnern?«

»Du meinst an etwas von früher?«

»Ja, was sonst. Die letzten zwei Wochen schaffst du wohl noch, oder?«

»Nein. Ich bin aus dem Koma aufgewacht und kann mich an nichts, was vorher war, erinnern. Adam hat gesagt, dass meine Erinnerungen gelöscht wurden. Er meinte, es sei besser so, weil sie schrecklich sind.«

»Adam hat gelogen!«, sagt sie und gibt ihm einen Fußtritt, den er nicht spüren kann.

»Was?«

»Ja, sie müssen schlimmer sein, als nur schrecklich. Du kommst aus einer Zuchtsektion.«

Ich sollte geschockt sein, bin es aber nicht. Irgendwie habe ich es schon geahnt.

»Bin ich eine Bestie?«, frage ich. Ich weiß, wie es sich angefühlt hat, als die Tattoos zu leuchten begonnen haben, als ich über Adam hergefallen bin und von ihm getrunken habe. Irgendwie hoffe ich, dass er wieder zu sich kommt, damit ich mich dafür entschuldigen kann. Ich bin froh, dass er nicht tot ist, dass niemand wegen mir sterben musste.

Hope klopft mir auf die Schulter. »Also du bist schon ziemlich biestig, aber das bekommen wir schon hin. Merk dir gut, nur wer zu viel Blut säuft, wird zu einer Bestie. Blut ist echt lecker, aber es gibt andere Nahrung, die besser für uns ist. Aber ich geb´s zu, du bist schon anders. Viel krasser als ich. Ich habe nicht so viele Fähigkeiten. Ich habe dich beobachtet. Du bist echt brutal begabt. Atmest unter Wasser, bist stark, schnell. Du bist eine Kriegerin. Und du bist…«, sie stockt mitten im Satz.

»Ja, was bin ich?«

»Du bist das Mädchen aus der Prophezeiung!«

Kapitel 15

Tag 17: Bemerkung: Ich bin froh, dass mein Tagebuch das Seewasser überlebt hat. Ich beginne wieder zu schreiben. Ich schreibe diese Zeilen, nur um sicher zu gehen, dass ich nicht aufgrund des Schlafentzugs fantasiere. Ich will sie lesen, wenn ich ausgeschlafen bin. Will glauben können, was hier passiert ist. Ich muss mich kurz fassen, weil ich nur wenig Zeit habe, ein paar Zeilen zu Papier zu bringen. Hope ist unerbittlich.

 

Ich folge ihr jetzt seit drei Tagen. Wir laufen ununterbrochen, ohne zu schlafen, ohne zu essen, reden kaum miteinander. Machen nur Pausen, damit sie Adam mit ihren leuchtenden Händen berühren kann. Und ich schwör´s. Immer wenn sie das tut, atmet er tiefer, weicht die Blässe seiner Gesichtsfarbe einem zarten Rosa und ich habe sogar den Eindruck, dass er zugenommen hat - im Gegensatz zu mir.

Ich fühle mich auf geheimnisvolle Weise mit Hope verbunden. Wie eine Freundin, eine Seelenverwandte aus einem vergangenen Leben. Der Wald ist immer noch bei uns, umgibt uns.

Wir trinken aus Quellen, die aus dem Berg fließen. Das Herz des Berges scheint aus Wasser, anstatt aus Stein zu bestehen. Seine Abgründe und der Wald, der seine Hänge besiedelt, schützen uns. Solange wir im Wald bleiben, sind wir nicht allein. Ich folge Hope, weil ich tief in mir spüre, dass es richtig ist. An welches Ziel mich dieser Weg führt, weiß ich nicht. Aber ich bin mir ganz sicher, dass der Weg ein Teil des Ziels ist und die Richtung stimmt. Wenn Hope spricht, dann von der Gegend und der Symbiose. Und ich liebe es, ihr zu lauschen, auch wenn sie kein Wort mehr über die Prophezeiung verloren hat.

Mit ihrer Hilfe habe ich eine Technik (so eine Art Tanz mit der Natur) erlernt, die mir hilft, wach zu bleiben und mich einigermaßen satt zu fühlen. Es ist so ähnlich wie das, was sie mit Adam anstellt. Aber der Tanz macht mich nicht nur satt, er schärft auch meine Wahrnehmung (oder fantasiere ich doch schon?). Im Vergleich zu noch vor zwei Tagen sind meine Sinne jetzt scharf wie Rasierklingen.

»Was schreibst du da?«, fragt Hope.

»Ein Tagebuch. Mein zweites Gedächtnis! Hope, wie schaffst du es, deine Fähigkeiten zu beherrschen? Ich will das auch können!«, sage ich.

»Ich kann´s halt. Sagen, wie es geht, kann ich dir nicht. Aber ich könnte dir sagen, wie ich es gelernt habe.« Hope sitzt auf einem Baumstumpf (morsche Überreste).

»Und?«

Hope kratzt sich am Knie. »Was?«

»Ja, fängst du jetzt endlich an zu erzählen! Lass dir doch nicht alles aus der Nase ziehen.«

»Hast du schon einmal Wölfe beobachtet?«, sagt sie jetzt irgendwie belanglos und legt sich eine schwarze Strähne hinters Ohr.

»Was?«

»Wölfe? Schnauze, Haare und Schwanz. Heulen den Vollmond an!«

»Hope, jetzt mal im Ernst. Wie hast du es gelernt, die Kräfte in dir zu beschwören?«

»Bestien sind wie die Wölfe. Sie kommen in Rudeln und ein Rudel hat immer einen Anführer. Du musst den Wölfen zeigen, wer der Anführer ist.«

»Aha!?«

Hope kommt mir näher und tätschelt meinen Bauch. »Also wir setzen dich jetzt auf Diät. Ist zwar nicht so viel an dir dran, aber du wirst es schon überleben. Die Bestien sind Astralwesen, deshalb können die Nunbones sie nicht sehen. Aber wir können es. Frag jetzt nicht warum. Ich habe nämlich keine Antwort. Wir sind eben anders. Naja, auf jeden Fall besteht in der Astralwelt alles aus Energie und die Energie der Bestien, die du besiegt hast, ist auch in dir und du kannst ihre Energie anzapfen. Aber nur wenn du der Rudelführer bist, der Alpha-Wolf. Hast du das verstanden?«

»Ja, ich bin ja nicht taub. Und wenn nicht?«

Hope grinst mich an. »Dann machen die Bestien in dir, was sie wollen. Zum Beispiel Adam die Kehle aufschlitzen und Blut saufen.«

»Und wenn ich zu viel davon abbekomme, dann verwandle ich mich in etwas Böses?«

»Stimmt genau. Also, wir setzen dich auf Diät. Dann bekommen die Biester in dir so richtigen Hunger und wenn sie fressen wollen, dann musst du einfach der Alpha-Wolf sein. Kapiert?«

»Und wenn ich das nicht schaffe?«

Hope steht auf und senkt ihren Kopf, bis sich ihre Lippen direkt neben meinem Ohr befinden. »Dann töte ich dich!«

»Was!?«

Sie lacht. »Kleiner Scherz. Nur wenn du mir an die Kehle willst, dann töte ich dich.«

»Hört sich fair an!«, sage ich. »Warum hat dich Adam vor den Vollstreckern beschützt?«

Hope stiefelt schon davon, ein eindeutiges Zeichen, dass die Pause vorbei ist. »Kann ich dir nicht sagen. Frag ihn selbst, wenn er aufwacht.«

»Wird er wieder aufwachen?«

»Wenn er Glück hat.«

Kapitel 16

Tag 18: Wir befinden uns dicht an der Sektionsgrenze, folgen ihr immer weiter nordwärts. Hope hat mir gestanden, dass sie die Grenze nur überschreitet, wenn es unbedingt erforderlich ist. Es ist zu gefährlich, die Bestien, die dort herumstreifen, sind wild und gefährlich.

Ich bin müde. Habe heute eine Stunde geruht. Schlafen kann man es nicht nennen. Hope hat mich wieder unterwiesen, wie ich mich bewegen, mit der Natur tanzen muss, damit ich Kontakt zu der Energie meiner Tattoos aufnehmen kann. Sie ist wie eine Maschine. Sie sieht aus, als wäre sie ausgeschlafen und frisch geduscht. Ich bin das Gegenteil. Völlig am Ende. Hope meint, das liegt daran, dass ich noch kein Alpha-Wolf bin. Sie meint, ich werde das schon noch schaffen. Adam ist immer noch nicht aufgewacht.

Kapitel 17

Tag 19: Ich weiß nicht, wo Hope die Kraft hernimmt? Haben wieder nicht geschlafen. Sind nur gelaufen. Richtung Norden. Immer Richtung Norden. Der Wald wird lichter. Wir steigen immer höher hinauf. Hope sieht so frisch aus, wie am ersten Tag. Adam lebt, aber er ist nicht bei Bewusstsein. Hope meint, dass das noch lange so bleiben könnte. Ich habe ihn böse zugerichtet. Ich fühle mich schrecklich, nicht nur wegen der Sache mit Adam. Auch, weil ich seit Tagen nicht geschlafen habe. Nicht gegessen habe. Ich will mich nicht im Spiegel sehen. Ich kann Adam nicht mehr tragen. Hope hat das jetzt übernommen. Wo nimmt sie nur die Kraft her? Woher nehme ich die Kraft her? Ich bin kein Mensch mehr. Definitiv nicht.

Kapitel 18

Tag 20: Kann keinen Schritt mehr machen. Brauche immer mehr Pausen. Bin am Ende. Habe Hunger und so weiter.

»Hör auf, in das Buch zu schreiben! Wir müssen weiter«, sagt Hope. Ich schaue sie an. Sehe sie verschwommen. Doppelt.

»Kann nicht mehr«, quälen sich die Worte über meine aufgesprungenen Lippen.

»Du musst!«

»Geht nicht.«

»Du musst aber!«

»Ich will schlafen.«

»Reiß dich gefälligst zusammen.«

»Was?«, röchle ich. »Was habe ich zu verlieren?«

Hope macht einen Schritt auf mich zu. »Das Band zwischen dir und den Bestien. Einer wird es kontrollieren. Entweder du oder sie. Du bist der Alpha-Wolf. Denk daran, wenn es soweit ist. So funktioniert das!«

Ich muss durchhalten, hat sie gesagt. Das versuche ich, aber ich weiß nicht, wie lange ich es noch schaffe, nicht einzuschlafen. Ich hatte am See solche Angst. Adam hat mich belogen, hat Hope vor mir versteckt. Aber ich denke nicht, dass er mir am See etwas antun wollte. Ich war die, die ausgerastet ist.

Ich folge Hope mit hängendem Kopf, den Blick auf den Boden vor mir gerichtet, sehe ich ihre Fußabdrücke und folge ihnen wie in Trance. Ich sehe, mit welcher Leichtigkeit sie sich bewegt. Wie sie sich voller Zuversicht immer wieder zu mir umdreht, mir aufmunternd zunickt.

Ich vertraue Hope. Sie gibt mir Hoffnung.

Kapitel 19

Tag 21: Ich werde verrückt. Bin wie ein Tier nur auf meine Wahrnehmung programmiert. Meine Sinne drehen durch, spielen mir Streiche. Ich sehe Dinge, die es nicht gibt. Farben, Lichter. Höre Töne aus anderen Sphären, Geisterwesen, die mit mir sprechen. Ich sehne mich nach Schlaf. Brauche dringend Schlaf. Würde töten, einen Pakt mit dem Teufel eingehen, nur für ein paar Stunden seligen Schlaf.

Ich lasse das Tagebuch fallen. Hope kniet vor mir, trinkt aus einem Bach und ich kann ihr Blut riechen. Ihre Tattoos, ihre Arme, sind von einem zarten weißen Licht umgeben. Wieder eine Sinnestäuschung. Ich nehme die Moleküle, die ihren Duft zu mir tragen, in mich auf und verspüre den Drang nach mehr… Blut?

Ich will mehr von ihr aufnehmen, will sie spüren. Will aus ihrer Kehle trinken? Ich brauche Energie!

Blitzartig, schnell wie ein Fisch im Wasser dreht sie sich um. Ihre Augen sind groß, voller Entsetzen geweitet. »Freija?!«, stößt sie fast atemlos hervor. »Nicht bewegen!«

»Was?«

»Bleib ruhig!« Zum ersten Mal sehe ich so etwas wie Angst in ihren Augen. Ihr ganzer Körper ist angespannt. Auf ihren braun gebrannten Unterarmen beginnen die filigranen Linien weiß zu leuchten. Es wird eiskalt. Ich denke, es ist soweit, aber ich spüre die Bestie in mir nicht. Hope wird mich nicht angreifen? Ich habe mich getäuscht. Sie tut es doch. Plötzlich legt sie los. Überirdisch schnell rast sie auf mich zu. Ich reiße meine Arme zu einem lächerlichen Schutz nach oben. Erwarte den Aufprall, aber dazu kommt es nicht.

Hope hechtet an mir vorbei, ich reiße meinen Kopf herum und begreife, warum sie mich verfehlt hat. Ich bin nicht das Ziel.

Zwischen den Bäumen hat uns etwas aufgelauert. Ich weiß sofort, dass es eine Bestie ist. Kein Symbiont! Eine wirkliche Bestie. Kaum zu glauben, dass es ein Wesen aus der Astralwelt ist. Die Muskeln, Sehnen und ihr aufgerissenes Maul sehen so echt aus.

Sie springt mit einem gewaltigen Satz aus dem Unterholz hervor und prallt mit Hope zusammen. Die Bestie ist zehn Mal größer als Hope, hat Klauen, Reißzähne und ich sehe die gewaltige Kraft in jeder Bewegung.

Ich schaue Hope zu, wie sie in unglaublicher Geschwindigkeit den Attacken der Bestie ausweicht und mit grausamer Präzision zurückschlägt. Ich sehe nicht eine, sondern zwei Bestien miteinander ringen. Eine riesig, mit grüner, lederner Haut. Die andere in der Gestalt einer jungen, schwarzhaarigen Frau.

Sie kämpfen um Leben und Tod! Hope bekommt die Bestie am Schwanz zu packen und schleudert sie gegen einen Baum. Holz splittert beim Aufprall und der Stamm knickt ein. Aber die Bestie rappelt sich unbeeindruckt auf und schießt wieder auf Hope zu. Ich sitze völlig unbeteiligt da und sehe den gebrochenen Stamm auf mich und Adam niederrasen. In letzter Sekunde befreie ich mich aus meiner Starre, bewege mich und zerre Adam hinter mir her.

Der Stamm kracht nur einen halben Meter neben uns in die Erde. Ein Adrenalinstoß jagt durch meinen Körper. Eine kalte Hitze folgt! Alle meine Tattoos leuchten plötzlich auf, als habe jemand in mir das Licht angeknipst. Schlagartig bin ich voller Kraft. Bin hungrig! Die Bestien? Meine Bestien sind wieder erwacht. Ich bin der Alpha-Wolf, denke ich, fahre herum und sehe Hope kämpfen. Ich eile zu ihr, habe keine Zeit mich zu wundern, wie schnell und geschickt ich mich jetzt wieder bewegen kann.

Springe auf einen Baum, dann auf den nächsten und stoße gnadenlos herab, pralle auf die Bestie und katapultiere sie weg. Weg von Hope, hinein in den Wald. Sie hat sich real angefühlt. Wie echtes Fleisch und Blut?

Sie braucht eine Weile zum Aufstehen und mir bleibt Zeit, einen Blick mit Hope zu wechseln. Ich sehe den Schweiß auf ihrer Stirn. Rieche ihr Blut!?

»Gut, dass du aufgewacht bist!«, grinst sie.

Die Bestie greift wieder an. Blitzschnell schießt sie auf uns zu. Ich habe kaum Zeit mich vorzubereiten, weiche ihr nur aus, aber Hope schafft es nicht. Sie erwischt es voll. Hope fliegt durch die Luft und landet hart zwischen den Bäumen. Sie steht nicht wieder auf.

»Nein!«, kreische ich und nehme davon Notiz, wie ich dabei meine Zähne fletsche. Sie greift wieder an.

Einmal, zweimal weiche ich aus. Treffe sie hart, aber die Bestie steckt es weg.

Ohne Waffen ist der Kampf ungerecht, schießt es mir durch den Kopf, als ich ihr wieder zusetze und dann ihrem Angriff ausweiche, hinter einen Baum hechte, der von der Bestie umgewalzt wird. Ich springe zur Seite, verpasse ihr wieder einen Hieb. Nutzlos.

Hope rappelt sich schon wieder auf, aber ich weiß, wir können sie unbewaffnet nicht besiegen. Auch nicht zu zweit.

Plötzlich wird die Bestie getroffen. Lichtblitze schießen von oben durch die Bäume.

 

Plötzlich ist Hope neben mir und reißt mich weg, zurück zu Adam, weg von der Bestie, die von den Lichtblitzen böse verwundet wird und wegrennt. Zurück in den Wald, wo sie hergekommen ist. Wir schauen ihr nach und sehen die Blitze, die sie verfolgen.

»Eine Drohne!«, sagt Hope. Ich höre ihr zu, aber ich bin nicht so ruhig wie sie. Mein Durst wurde noch nicht gestillt.

»Wir müssen weg! Schnell, bevor sie zurückkommt.«

»Die Bestie?«

»Nein, die Kampfdrohne! Sie erledigt erst die eine Bestie und dann die anderen beiden. Uns!«

»Hope?«

»Was ist?«

»Es ist soweit. Ich habe Hunger!«, sage ich und es hört sich wie das Knurren einer ausgehungerten, gefährlichen, wilden Bestie an.

Hope reist die Augen auf. »Was?«

Ich fletsche meine Zähne, knurre sie an.

Geistesgegenwärtig springt Hope mit einem gewaltigen Satz auf die andere Seite. Breitbeinig steht sie dort, ihre Arme erhoben, die Hände zu Fäusten geballt. Ihre Augen sind noch immer groß, aber sie wirken gefasst, irgendwie bereit. Das Licht um ihre Arme pulsiert aufgeregt. Ich habe Hunger. Hunger auf Hope.

»Freija, kämpfe dagegen an! Sei der Alpha-Wolf«, kreischt Hope.

Ich schüttle den Kopf und grinse wie eine Irre. Ich bin wie ein Beobachter. Beobachte mich dabei, wie sich mein Körper auf sie stürzt, wie ich auf die andere Seite springe, mit ausgestreckten Armen Hope zu packen versuche. Ich will an ihre Kehle. Will aus ihr trinken. Will ihre Lebensenergie.

Hope bekommt meine Schulter zu fassen und schleudert mich zur Seite. Ich fliege durch die Luft, krache gegen einen Baum und spüre den Schmerz, bin aber schon wieder auf den Beinen, spurte auf sie zu. Schneller als ein normaler Mensch. Ich spüre den Durst der Bestie in mir und ich will, dass sie ihn an der schwarzhaarigen Hope stillt.

Hope flüchtet. Sie ist schnell. Ich bin schneller, erwische ihre Haare und reiße sie zu Boden. Hope umklammert mich mit überirdischer Kraft und umschlungen kugeln wir kreischend auf dem Waldboden den steilen Hang hinab.

Hope schreit und ich schreie, aber es hört sich nicht an wie Hope und nicht wie ich. Es hört sich an, wie Greifvögel kreischen, wie Tiger brüllen, wie Schlangen fauchen. Es hört sich an wie Bestien, nicht wie Menschen.

Ich krache gegen einen Felsen und Hope kracht auf mich drauf und bevor ich etwas machen kann, ist sie über mir, packt mich und wirft mich wie eine Puppe über den Fels. Ich beobachte, wie ich aufschlage und kurz benommen daliege.

»Freija, kämpfe dagegen an! Das bist nicht du! Das sind sie!«, höre ich Hope von der anderen Seite keuchen und es ist ihre Stimme, die mich erreicht. Unverfälscht, wunderschön.

Ich renne in weniger als einer Sekunde um den Fels herum. Hope steht dort und mit ihren leuchtenden Armen malt sie Figuren in die Luft. In vollem Lauf rase ich wie ein Güterzug in sie hinein.

Zuerst denke ich, dass ich von einer unsichtbaren Barriere weggerissen werde, aber dann durchbreche ich sie doch und bekomme Hope an ihrer Kehle zu packen.

»Freija, nicht!«, aber ihre Stimme ist nur ein Würgen. Ich weiß nicht, warum ich das tue. Es ist nicht mein Wille, der meinem Körper befiehlt, der ihr die Luft wegnimmt. Es sind meine Ohren, die sie flehen hören, aber ich kann nichts dagegen tun. Ich halte sie fest, bin wie ein Tier.

Sie zappelt hilflos, tritt mich, kratzt mir fast die Augen aus, aber ich lasse sie nicht los. Ich drücke unerbittlich zu und quetsche das Leben aus ihr raus, solange bis sie aufhört zu flehen, in meinen Armen erschlafft und ich sie reglos zu Boden gleiten lasse.

Ist sie tot?

Noch nicht!

Ihre Brust und ihr Bauch heben und senken sich. Nur wenig, aber sie tun es. Sie lebt noch. Ich beuge mich über mein Opfer, spüre die Kälte auf meiner Haut, sehe meine Tattoos aufgeregt leuchten. Ich senke mich hinab zu Hopes Kehle und ich beiße in sie hinein. Ich kann spüren, wie meine Zähne in ihr weiches Fleisch eintauchen, wie warmes Blut aus ihr fließt, wie ihre Lebensenergie salzig und süß in mich hineinströmt.

Ich fühle mich stärker. Mit jedem Schluck noch stärker, bis ich satt bin.

Ich sehe Hope. Sehe, wie das Licht ihrer Tattoos langsam erlischt. Oh Gott, was habe ich getan? Schon wieder?

Abrupt stoße ich mich von ihr weg. Höre auf, mehr von Hope zu trinken. Sofort rebellieren die Bestien in mir. Wollen noch mehr, aber ich lasse es nicht zu. Hopes Kraft schwindet. Sie wird sterben.

Mein Durst ist gestillt, aber Hope wird sterben. Ich kann das nicht zulassen. Ich trenne mit meinen Reißzähnen meinen Unterarm auf. Sofort läuft mir der rote Lebenssaft aus den Adern.

Ich weiß nicht, was ich hier eigentlich tue, handle intuitiv. Lege meine blutende Wunde an ihre Lippen, öffne ihren Mund und lasse mein Blut hineintropfen. Ich stöhne auf, ich spüre, wie die Energie durch meinen Körper strömt und ihn verlässt. Spüre meine Bestien rebellieren, aber jetzt bin ich es, der ihnen befiehlt. Ich bin der Alpha-Wolf!

Ich spüre, wie Hope jetzt an mir saugt, bis ihr Atem tiefer wird, bis ihre Tattoos kräftiger werden, bis sie ihre Augen öffnet.