Za darmo

Violet - Verletzt / Versprochen / Erinnert - Buch 1-3

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Kapitel 9

Wie lange steht er schon dort?

Wie lange war ich fort?

Spielt Zeit eine Rolle?

Existiert so etwas wie Zeit, Linearität überhaupt?

Ich vermute nein. Zeit ist nicht das, für was sie gehalten wird. Zukunft, Gegenwart, Vergangenheit sind reine Illusion. Die Welt geschieht nicht, sondern sie ist.

Langsam schwimme ich zurück ans Ufer, komme aus dem Wasser.

Er sieht mich an und es ist seltsam, denn ich spüre keine Verlegenheit. Nicht vor Adam.

Jede Zelle meines Körpers ist hellwach, aufgeregt. Meine Gedanken sind schwerelos, ich habe so etwas wie die Unendlichkeit meiner Seele gespürt. Ich erreiche ihn.

»Wo ist Hope?«, frage ich Adam.

»Keine Ahnung, sag du es mir.«

»Wir haben getanzt« beginne ich, aber dann weiß ich nicht, was ich noch sagen soll.

»Du bist so wunderschön.« Sein Blick streift über meinen Körper, lange genug, um den Brennstoff in meinen Adern zu entzünden. Mein Atem, mein Herz läuft nicht rund. Geht unstet.

»Du bist mir gefolgt?«

»Ja, ich habe dich gesucht.«

»Nun, es sieht so aus, als hättest du mich gefunden.«

»So ist es.«

»Und wie lange bist du schon hier? Wie lange schaust du mir schon zu?«

»Ich kann es dir nicht sagen. Wenn ich dich sehe, scheint die Welt still zustehen. Dein Tanz ist so unbeschreiblich. Deine Tattoos heller als das Sonnenlicht. Du bist eine unfassbar wunderschöne, junge Frau. Etwas verbindet uns. Spürst du es auch?«

Ein Kampf in meinem Innern wird in diesem Moment erneut entfacht. Meine Vernunft rebelliert. Mein Körper und meine Gefühle setzen sich zur Wehr. Es zerreißt mich fast, schmerzt im tiefsten Inneren, in jeder Zelle meines Körpers, und ich versuche verzweifelt, einen Ausweg zu finden.

»Ich weiß, auf was ich mich einlasse. Ich bin nicht dumm. Du bist ein Symbiont und wenn du stirbst, dann sterbe ich mit dir. Für dich mag es ein Fluch sein. Für mich ist es ein Segen. Freija, ich will nur eins. Ich will uns.«

Ich kann nicht denken.

Ich kann nicht atmen.

»Ich will Dich. Ich will der sein, in den du bis über beide Ohren verliebt bist. Der, den du in deine Arme und in die geheime Welt in deinem Kopf nimmst. Ich will jede Stelle deines Körpers, jede Sommersprosse, jedes Erzittern erkunden.«

Ich weiß nicht, was ich tun soll, wenn er weiterspricht, ich weiß nicht, was ich tun werde, und ich traue mir nicht über den Weg.

»Freija, ich verzehre mich nach dir. Ich bin so unendlich verliebt in dich«, raunt er, berührt meine Wange.

Seine Hände zittern ein klein wenig und ich spüre die Vibrationen auf meiner Haut, auf meinem Gesicht. Er hält mein Gesicht zwischen seinen Händen, berührt mich, als bestünde ich aus Federn. Er wartet wohl auf ein ja oder ein nein oder ein Zeichen, und ich will, dass er von mir kostet. Ich will, dass er mich küsst, bis ich in seinen Armen zusammenbreche und er mich hält und mich beschützt.

»Küss mich«, bitte ich. Flehe ich ihn an. Ich bin wahnsinnig geworden. Wie kann ich das nur sagen? »Bitte«, höre ich mich sagen. »Bitte küss mich, bevor ich es mir anders überlege.«

Er sagt: »Bitte reiß mir jetzt nicht den Kopf ab.«

Und dann küsst er mich.

Es ist so viel anders als damals am See. Es ist so süß und zärtlich und weich. Es ist wie schmelzende Schneeflocken auf der Haut, wie zerbrechliche Rosenblätter, so mühelos leicht. Sein Duft treibt mich in den Irrsinn. Ich will mich entschließen mich zu ergeben, ihn an mich zu ziehen. Adam küsst meine Unterlippe, meine Oberlippe, meine Nase, meine Schläfen, meine ganze Stirn.

Seine Hände gleiten über meinen Rücken. Sein Körper fügt sich an meinen Körper. Ich bin Adam so nah, seiner Kehle so nah.

So nah?

Oh nein.

Zu nah!

Oh Gott.

Kapitel 10

Ich spüre nasses Gras unter meinen nackten Füßen. Hope meinte, wenn wir in diesem Tempo weiter vorankommen, dann werden wir den Gipfel, das Ziel noch vor Sonnenuntergang erreichen. Es regnet ununterbrochen, aber mir ist nicht kalt. Es scheint fast so, als weine der Himmel. Aber etwas stimmt nicht.

Der Regen ist violett?!

Hope führte uns nach Norden, Richtung Berge. Unser Weg ist gesäumt von zerstörten Drohnen. Der Wald ist geblieben, aber Felsen und Hänge tun sich jetzt vor uns auf und es hört schlagartig auf violett zu regnen.

Ich betaste mein Top.

Es ist trocken.

Wie seltsam.

Wir haben ein paar hunderte Höhenmeter zurückgelassen und wir wären mindestens um das Doppelte schneller, wenn Adam uns nicht begleiten würde. Ich weiß nicht, was ich über ihn denken, was ich fühlen soll. Habe mich entschlossen, seit dem Kuss nichts zu denken und mich vor jeglichen Gefühlen abzuschotten. Ich würde ihn so gerne hassen, weil er mich in die Sektion 0 verschleppt hat, weil Asha alleine zurückgeblieben ist.

Auf der Flucht.

Weil er mit Kristen gemeinsame Sache gemacht hat. Mit ihr einmal zusammen war, vor langer Zeit. Bin ich etwa eifersüchtig? Tatsache ist, dass die Gefühle, die ich am Haus am See für ihn empfunden habe, immer wieder durch meine inneren Blockaden sickern.

Mist, mein Schutzwall bricht zusammen. Ich muss die Mauern um mich wieder hochziehen. Muss weiter klettern.

Hope spürt, dass ich Adams Nähe wieder geflissentlich versuche zu meiden. Sie hilft Adam mit ihren symbiotischen Kräften, den steilen Felsen zu erklimmen. Sie holen auf, während ich wie ein Insekt hinauf kraxle. Die Haut meiner Finger, meiner Hände ist aufgewetzt, blutet, aber es tut überhaupt nicht weh.

Wie seltsam.

Es ist wie in einem Traum.

Und da begreife ich, dass es das tatsächlich ist.

Ein Traum.

Ich träume, aber seltsam ist, dass ich trotz dieser Erkenntnis nicht aufwache.

Nur noch wenige Meter, und ich bin oben.

Geschafft.

Ich sitze auf der Kuppe, über den Kronen der Bäume, blicke in den blutunterlaufenen Horizont, während die letzten Strahlen der untergehenden Sonne mein Gesicht wärmen. Die Fernsicht, nach dem violetten Regen, ist überwältigend.

Wie weit das Land sich erstreckt, wie groß die Welt ist und wie viel es gibt, dass wir nicht wissen. Das ich nicht weiß.

In der Ferne sehe ich das Meer und an den Ufern eine Stadt mit einer Universität. Ein Ort für Privilegierte. Etwas Magnetisches zieht mich dort hin. Etwas flüstert mir zu, dass ich dort hin muss.

Ich stehe auf und beginne mich langsam mit ausgestreckten Armen, im Kreis zu drehen. Der Anfang des Energietanzes, so wie ich ihn von Hope gelernt habe. Er ist ein Teil von mir geworden.

Ich spüre mit jeder Umdrehung, wie die Kraft in meinen Körper strömt. Hunger, Durst, Erschöpfung verschwinden. Ich sehne mich nicht mehr nach Blut. Eine weitere Tatsache, dass ich träumen muss und nicht wach bin.

Ich lasse die fließenden Formen, Bewegungen meines Körpers aufeinanderfolgen.

Ich bin eine Alphabestie, seit ich die Bestien in mir kontrollieren kann. Der Unterschied des Traumtanzes zu den jämmerlichen Versuchen im Wachzustand ist dramatisch. Es waren klägliche Versuche bis auf den einen Tanz am See, als Hope meine Hände genommen hat, mich geführt hat.

Meine Tattoos tanzen mit mir.

Ich bewege mich auf der Kuppe mit den Schatten um mich herum. Bin wie ein Schattenkrieger, tanze im zähflüssigen Licht der letzten Sonnenstrahlen und mit jeder Bewegung verweben sich mehr und mehr die Formen meines Körpers, mit den Formen meiner Tattoos und der meiner Umgebung.

Ich leuchte, meine Haut, meine Bestien strahlen, brennen. Erhellen die Bergkuppe. Es strömt so viel Energie durch meinen Körper, dass es mich fast von den Füßen reißt.

Ich drohe zu explodieren und lasse los, lasse alles geschehen, bewege mich fortan unbewusst, natürlich im Einklang mit der Energie, mit der Natur, der Welt und der Zeit

Plötzlich bleibe ich stehen.

Plötzlich ist ein fremdes Mädchen bei mir. Ihre Augen sind grau. Ihre Haare sind grau. Sie trägt Tattoos, ist ein Symbiont wie ich.

Stehen wir tatsächlich? Oder sind wir es, die sich drehen und die Welt steht still? Es gibt keine Grenze mehr zwischen dem Mädchen und mir und allem um uns herum.

Gegenwart, Zukunft, Vergangenheit sind nicht existent. Gut und Böse. Licht und Dunkelheit. Tag und Nacht nur eine Illusion. Alles was bleibt, sind das grauhaarige Mädchen, ich und unsere gemeinsame, unvorstellbar große Energie.

Ich werde berührt vom Finger der Unendlichkeit. Von der Wahrheit. Das Mädchen berührt mich. Küsst meine Stirn.

»Man muss die Wahrheit sehen, um zu wissen, dass sie wahr ist«, flüstert sie mit ihrer unglaublich schönen Stimme. Sie klingt wie Hope. Ich habe nicht die Wahl in diesem glückseligen Zustand zu verweilen.

Kehre zurück in die Dualität. Dorthin, wo es ein Jetzt gibt. Falle auf die Knie.

»Freija? Ist alles in Ordnung mit dir?«, fragt Adam. Das Mädchen ist verschwunden. Das Mädchen in dessen unglaublichen Augen ich die Unendlichkeit der Zeit gesehen habe. Ich schaue Adam an.

Er ist noch ein Kind, ein kleiner Junge. Er kommt auf mich zu.

»Freija! Was ist passiert?«

Adam kommt näher und mit jedem Schritt wird er älter. Bis er erwachsen ist und seine Finger meine Stirn streichen. Ich liebe es, wenn er mich berührt. Ich kann es nicht abstreiten. Ich sehe in seine Augen. Unsere Blicke treffen sich. Ich sehe die untergehende Sonne sich in seinen Augen widerspiegeln. Sehe mein Gesicht in seinen Augen. Und dann begreife ich es. Es ist nicht die untergehende Sonne, die ich in Adams Augen sehe, es ist die aufgehende Sonne.

 

Die aufgehende Sonne, der Stern, der von meiner Stirn strahlt.

Es ist das Tattoo. Das gleiche Tattoo wie in der Prophezeiung. War es das Mädchen? Es hat meine Stirn geküsst.

»Sag mir, was für eine Entscheidung es ist, die du treffen musstest. Was hat dir deine Mutter gesagt«, will ich wissen.

Adam sieht mich an. Senkt seinen Blick. Er hält etwas in seinen Händen. Eine Fotografie. Sie sieht aus wie ich.

Und.

Sie ist sehr schwer verletzt.

Tödlich verletzt.

»Meine Gefühle zuzulassen, die Auserwählte zu lieben.«

»Was ist, wenn die Auserwählte deine Liebe nicht erwidern kann?«

»Das würde nichts ändern. Die Entscheidung habe ich längst getroffen. Es war nur ein Kuss nötig, um das Band zu besiegeln.«

Kapitel 11

Wie lange ist es her, dass ich wirklich ruhig geschlafen habe, geträumt habe? Tage?

Vielleicht eine Woche oder mehr?

Mir kommt es vor wie Monate, Jahre. Die Bilder und Empfindungen des Traums sind noch in mir, stecken noch in jeder Faser meines Körpers, begleiten mich hinüber in den Wachzustand.

Wir haben unter freiem Himmel, unter dem grünen Dach des Waldes die Nacht verbracht. Adam benötigt seinen Schlaf.

Im Gegensatz zu Hope.

Im Gegensatz zu mir, falls ich den Energietanz endlich mal beherrschen würde, ohne dass Hope mir dabei das Händchen hält.

Mit leicht geöffneten Lidern sehe ich mich um. Hope hält Wache am Rand unseres Lagers. Adam schläft noch, liegt nicht direkt neben mir, nicht bei mir und die Sonne ist noch nicht aufgegangen. Ich betrachte Adams Körper, wie er zusammengerollt da liegt. Erinnere mich an unseren Kuss am See.

An den Kuss vor zwei Tagen. Er war vollkommen anders, als der Kuss damals im Schlamm, am Ufer vor seinem Haus.

Damals?

Es kommt mir wie eine Ewigkeit vor. Welten entfernt. Dieses Mal war der Kuss nicht gierig, sondern vertraut.

Nicht heiß, sondern innig.

Und trotzdem habe ich Adam weggestoßen. Ich liebe dich, hat er zu mir gesagt. Ich dich auch, hätte ich sagen sollen. Aber ich tat es nicht. Weil ich kein gutes Gefühl habe, weil ich glaube, nicht heil aus diesem Krieg herauszukommen, weil ich den Gedanken nicht ertragen kann, dass er sterben müsste, wenn mir etwas, das mir unausweichlich scheint, zustößt. Adam hat mein Schweigen akzeptiert.

Ich hätte wegrennen sollen, als noch Gelegenheit dazu war, aber ich war zu schwach und das, obwohl ich getanzt hatte und ich vor Energie hätte platzen müssen.

Und dann ist es passiert.

Ich werde es mir nie verzeihen können.

Wir haben uns geküsst und ich habe ihn weggestoßen und trotzdem kam er zu mir zurück und gab mir das, was ich auch so dringend benötigte. Adam reichte mir sein Handgelenk.

Trink hat er gesagt.

Und ich war nicht ich selbst, ich war ein Tier, bin vor ihm auf die Knie gefallen und habe meine Zähne in seine weiche Haut geschlagen und habe von seinem Blut getrunken.

Ich bin eine Alphabestie, definitiv, denn ich habe die Kontrolle behalten, habe nur so viel aus ihm getrunken, dass meine Energiereserven wieder aufgetankt waren. Wie lange werden sie dieses Mal anhalten?

Etwas stimmt nicht mit mir. Definitiv.

Ich bin anders als Hope. Aber sie scheint die Hoffnung in mich noch nicht aufgegeben zu haben. Sie weiß bestimmt, dass mich Adam gefüttert hat. Es war eine Raubtierfütterung. Aber Hope hat es akzeptiert.

Seither bin ich ihm aus dem Weg gegangen, aber ich bin mir nicht sicher, wie lange ich es ohne Adams Nähe, seine Worte, seine weichen Lippen, ohne sein warmes, köstliches Blut aushalte.

Auf jeden Fall bin ich zu Erstaunlichem fähig, wenn ich erst einmal über genügend Blut - Adams Blut - über genügend Energie verfüge. Es war nur eine Berührung nötig, um die Brennstoffzelle des Computers zu erneuern. Eine zufällige Berührung, weil der Computer auf meinem Tagebuch lag und ich ihn lediglich zur Seite schieben wollte. Er hat gepiepst und der Monitor ist aufgeflackert. Adam war begeistert und hat sich gleich an die Arbeit gemacht.

Für Hope war es ein Zeichen – das Zeichen, auf das sie gewartet hat. Es steckt doch mehr in dir, als nur so körperlicher Kram, hat sie gesagt.

Sie fordert mich auf, immer wieder zu tanzen, weil sie nicht weiß, dass mir der Tanz zwar hilft, nichts essen zu müssen, aber nur Adams Blut mir diese Mengen an Energie geben kann, die mich zu solchen unglaublichen Dingen befähigt. Ich muss üben, um es bewusst, zu steuern und nicht nur in Notsituationen oder rein zufällig.

Wobei ich nicht wirklich an Zufälle glaube.

Adam hat auf dem Computer Informationen gefunden. Informationen über Sektion 13. Irgendetwas muss dort passiert sein. Ich hoffe, er kann das dechiffrieren.

Ich überlege mir gerade, ob ich mein Tagebuch aufschlagen soll, um alle meine Gedanken und die Eindrücke meines Traums niederzuschreiben. Aber heute Morgen genügt es, einfach nur nachzudenken, um die letzten beiden Tage zu verarbeiten.

Ich rapple mich auf und setze mich neben Hope. Ich habe nicht vor, ihr ein Geheimnis zu verraten. Sie hat Adams Handgelenk geheilt, aber sie weiß nichts von dem Kuss. Dem Geschmack seiner Lippen, nach denen ich mich noch mehr sehne, als nach Adams Blut.

»Na, Schlafmütze. Alles klar?«, erkundigt sich Hope.

»Hast du nicht geschlafen?«

»Seit wir unterwegs sind nicht. Aber Zuhause schon. Nicht, weil es notwendig wäre. Nur deshalb, weil ich es cool finde zu träumen.«

»Hope, ich habe den Verdacht, dass du mich nirgendwo hinbringst. Dass wir einfach laufen, laufen, laufen und du darauf wartest, dass etwas passiert. Mit mir etwas passiert. Etwas, das mit der Wahrheit, von der du immer sprichst, zu tun hat. Ich weiß jetzt viel mehr, als noch vor ein paar Tagen.«

»Du weißt nicht, wo die Bestien herkommen. Du weißt nicht, wer die Gesandten wirklich sind.«

»Ich weiß, dass sie gegen die Bestien kämpfen. Und ich weiß, dass sie uns missbrauchen und manipulieren und dass das ein Ende haben muss. Im Grunde gibt es zwei Seiten und keine ist gut, ist besser als die andere. Die Bestien besitzen die Welt außer ein paar Sektionen, die sich vor ihnen schützen können.« Ich denke an die Drohnen, die Vollstrecker. »Und die Gesandten sind egoistisch und statt den Menschen wirklich zu helfen, schlagen sie aus der Situation nur das Beste für sich heraus«, sage ich.

»Siehst du, das meine ich. Du weißt nichts. Aber heute Abend werden wir ankommen, dann wirst du klarer sehen.«

»Wir werden ankommen? Heute Abend?«

»Wir haben die Sektionsgrenze vor zwei Tagen überschritten. Ein Tagesmarsch und wir sind dort, wo ich mit dir die ganze Zeit schon hin will.«

Kapitel 12

Überraschend, fast überfallartig schnell wird es Nacht. Ich sehe in der Ferne Lichter leuchten. Wir haben das Ziel bald erreicht. Hat Hope Recht? Die Wahrheit muss man sehen, um sie zu verstehen. Hopes Worte schwirren um meinen Verstand, wie Motten um das Licht einer Straßenlampe.

Als wir weiter laufen, erkenne ich, dass die Lichter elektrischen Ursprungs sind. Ich wage es nicht, Hope zu fragen, ob wir trotzdem weiter darauf zugehen sollen. Es ist ein Naturgesetz, dass Hope voraus marschiert und wir ihr folgen.

Adam geht direkt hinter mir. Ich spüre seine Blicke auf meinem Rücken und denke an den zweiten Kuss am See. Schon wieder. Wieder und immer wieder.

Ich spüre erneut Hitze in mir hochsteigen, bei dem Gedanken an seine federleichten Lippen und an seine Hände an meinen Hüften. Und wie er mir über den nackten Rücken strich, bevor ich ihn weggeschoben habe, abgewiesen habe. Ihm gesagt habe, dass wir das nicht tun sollten. Weil ich ihn mit in den Tod reißen würde. Weil ich verflucht bin. Er hat gesagt, dass er lieber sofort sterben würde, anstatt auf mich zu verzichten. Und dann denke ich wieder an das Blut, sein Blut, das er mir gegeben hat.

Das ist jetzt fast drei Tage her und ich spüre noch immer die Energie, sein Blut in mir.

Je länger ich jetzt schon eine Alphabestie bin, wie Hope es nennt, desto mehr spüre ich die Dinge, wie sie wirklich sind. Ich habe Vorahnungen, würde es nicht Hellsichtigkeit nennen, eher Intuition. Und meine Intuition flüstert mir zu, dass wir nicht alle lebendig aus dieser Sache, aus diesem Krieg, herauskommen werden. Ich habe böse Vorahnungen, was uns dort, wo Hope uns hinführt, erwartet.

Und ich kann die Liebe, nach der ich mich mehr als alles andere sehne, zwischen Adam und mir nicht zulassen. Schon wieder nicht.

Adam zieht meinen Körper an, wie ein Magnet ein hilfloses Eisenplättchen. Entweder, um ihm im nächsten Moment um den Hals zu fallen, Blut aus seiner Kehle zu schlürfen oder ihn leidenschaftlich zu küssen. Hilfe!

Ich muss ihn vergessen. Meine Augen beginnen zu brennen. Tränen fließen leise, unbeobachtet über meine Wangenknochen. Ich schlucke sie hinunter, wische sie weg, muss jetzt stark sein für die Wahrheit, die dort bei den Lichtern auf mich wartet.

Kapitel 13

Wir befinden uns einen guten Kilometer außerhalb des Waldes, halten uns auf einer Kuppe versteckt, von der aus wir das Geschehen weiter unten auf der Ebene überblicken können.

Sterne stehen hoch oben am Firmament. Eine mondlose Nacht, die Luft ist feucht und frisch. Das Gras und die Erde unter meinen Händen und Knien fühlen sich klamm an, und ich blicke auf das Land hinunter. Die Ebene reicht bis zum Horizont, wird eins mit dem pechschwarzen Himmel in weiter Ferne.

Das künstliche Licht, die Flutlichter an den riesigen Masten, die einen winzigen Teil des Landes hell wie den Tag erstrahlen lassen, befinden sich in fünfhundert Meter Entfernung. Es fällt mir noch schwer Einzelheiten oder das, was da unten vor sich geht, auszumachen. Adam reicht mir das Fernglas, das er aus der Drohne mitgenommen hat. Es entpuppt sich als Nachsichtgerät.

Die Ebene unter mir flammt in grünem Licht auf. Das Gebiet, wo die Flutlichter stehen, ist so hell, dass es mir in den Augen weh tut und ich benötige ein paar Sekunden, um mich daran zu gewöhnen. Dann sehe ich sie.

Gewaltige Zäune, davor stehen gelandete Drohnen, im Hintergrund erheben sich flache, endlos weite Gebäudekomplexe. Aber das Eigentliche spielt sich dazwischen ab. Bestien stehen zusammengedrängt, zusammengepfercht in Gehegen. Die sind von noch größeren, riesigen, in den Himmel ragenden Zäunen umgeben. Überall sehe ich Vollstrecker. Bei den Gehegen, den Gebäuden und auch bei den Drohnen. Schwer bewaffnet. Ich erlebe hautnah durch die Vergrößerungsgläser, wie sie eine Gruppe Bestien erbarmungslos über den Haufen schießen. Das Gehege, in dem sich eben noch Dutzende Bestien befanden, ist jetzt leer. Alle Bestien tot, zurückgekehrt. Selbst für die Augen der Sehenden nicht mehr sichtbar. Mir krampft der Magen zusammen und ein ekelhafter Geschmack meiner eigenen Magensäure macht sich in meinem Mund breit. Ich unterdrücke den Brechreiz.

»Was bedeutet das?«, frage ich. Adam nimmt mir das Nachtsichtgerät aus der Hand.

»Wir sind außerhalb der Sektionen. Das hier ist Zone 5, Deadland. Nie ist ein Mensch lebend aus dieser Zone zurückgekehrt«, erklärt Hope.

»Du schon«, stelle ich fest. Hope nickt. Und während Adam jetzt das sieht, was ich eben gesehen habe, verbinden sich die vielen Puzzleteile in meinem Kopf zu einem Gesamtbild.

»Auf der Südseite sind die Zäune völlig zerstört«, sagt Adam. Dort sind die Bestien ausgebrochen. Geflohen? Überlege ich. Es ist erstaunlich, dass mich die Wahrheit nicht erschüttert, mir aber die Ermordung der Bestien an die Nieren geht. Als hätte ich zu den Bestien eine Beziehung aufgebaut und es mir leid tut, was ich all die Jahre in Sektion 13 an ihrer Rasse verbrochen habe. Im Auftrag der Gesandten verbrochen habe.

Adam gibt mir das Glas zurück. Zögernd halte ich es vor meine Augen. Fürchte mich davor, was ich noch zu sehen bekomme. Aber ich kann es auch nicht sein lassen. Ich vergrößere den Bereich vor dem Gebäudekomplex.

Ich schwenke das Blickfeld von rechts nach links und wieder zurück. Beobachte die Vollstrecker, und dann plötzlich trifft es mich eiskalt. Ich schaffe es, meinen Fingern zu befehlen, das Glas festzuhalten, verändere noch einmal den Zoom.

 

Näher, näher ran.

Ich sehe sein Gesicht, ganz nah vor mir.

Er ist es.

Ich weiß nicht, wer er ist, aber ich erkenne ihn an seinen Augen. Ich erinnere mich an seine faszinierenden Augen.

»Ich muss dort rein. Will wissen, was sie machen«, stoße ich gepresst über meine zitternden Lippen.

»Nichts anderes hatte ich vor«, sagt Hope.

Also brechen wir auf, zu den Gebäuden, Bestien und Vollstreckern. Als ziehe uns alle drei eine unsichtbare, magische Kraft an. Wir benötigen nicht lange, dann sind wir vor dem Areal angelangt.

Dort, wo die Zäune zerstört sind, auf der Südseite, schlüpfen wir hinein. Schleichen auf die Anlage, auf der Menschen Bestien gefangen halten. Wir bewegen uns in den Schatten, und dort, wo uns die Schatten kein Versteck bieten, verbergen uns Hopes Kräfte vor den Blicken der Vollstrecker.

Über eine Leiter kommen wir auf das flache Dach des Gebäudes. Hope scheint sich hier gut auszukennen. Wir folgen ihr, schleichend, geduckt, bis zu einem Lüftungsschacht.

Das Gitter vor der Öffnung ist bereits aus seiner Verankerung gerissen. Ich kann mir denken, wer es war, als Hope es zur Seite hebt und in den Schacht hineinklettert. Das Rohr führt schräg nach unten und ich halte Adam an seinem Hosenbund fest, damit er mir nicht davon rutscht. Ich bin aufgeregt, aber es ist mir unergründlich, weshalb ich keine Angst habe.

Ich spüre, dass mich hier etwas erwartet. Meine Vergangenheit. Etwas oder jemand, der mir eine Frage beantworten wird. Wer ich bin.

Wir kriechen immer weiter. Lassen Abzweigungen links und rechts von uns liegen. Lassen uns in andere Schächte aus kaltem, glatten Metall hineingleiten, die uns weiter, tiefer in die Anlage hinein führen. Der Lüftungsschacht öffnet sich nach einer gefühlten Ewigkeit in einen Hohlraum. Wir befinden uns tief unter der Erde, falls ich meinem Raumgefühl noch trauen kann.

»Das ist ein Heizungsraum. Gebäudeinstallation. Es gibt keine Ausgänge und warm ist es auch immer«, sagt Hope. Jetzt erst sehe ich, dass eine schmale Matratze auf dem Boden liegt und ein paar Decken und Klamotten daneben und eine Taschenlampe. Ich erkunde den Raum, der einmal Hopes Zufluchtsort war. Rohre kommen aus der Wand, treffen sich mit anderen dutzenden ihrer Artgenossen und verschwinden wieder im Boden, der Decke oder der gegenüberliegenden Wand. Hunderte Lämpchen leuchten hier und da auf dem Ofen auf.

»Wann warst du zuletzt hier?«, frage ich Hope.

»Vor ein paar Monaten.«

»Und was hast du hier gemacht?«

»Beobachtet, versteckt und geweint«, sagt Hope.

»Darf ich mich hier hinsetzen?«

»Nur zu. Fühle dich wie daheim.«

Daheim? Wie fühlt man sich, wenn man daheim ist?

Ich setze mich auf die Matratze und bemerke etwas Hartes unter meinem Hintern, unter der Decke. Ich sehe nach, um was es sich handelt und ersticke.

Es ist ein Flex-Screen.

Ich starre es an und innere Bilder steigen in mir auf. Das kann unmöglich sein. Es gibt bestimmt hunderte, tausende dieser Geräte auf der Welt, sage ich mir. Und dennoch denke ich nur an eins. An Jesse. Er ist Besitzer eines solchen Geräts, mit dem er immer in Kontakt zu Flavius stand, wenn wir in den Zonen auf Streife waren.

»Jemand war hier. Erst kürzlich«, höre ich eine Stimme, die zu Hope gehört, während ich wie in Trance das Flex-Screen in meiner Hand halte.

»Was war das?«, fragt Adam und kramt den mobilen Computer heraus. Ich habe das Piepsen auch gehört. »Hey, er hat sich mit dem drahtlosen Netzwerk verbunden.« Adam klingt begeistert. Ich schiebe mich weiter nach hinten auf die Matratze, sinke auf die Knie. Sie ist weich. Sie ist warm. Warm?

Hope ist damit beschäftigt sich umzusehen. Immer wieder sagt sie, dass jemand hier war. Hier in ihrem geheimen Schlupfloch. In ihrem Versteck. Sollte ich ihr sagen, dass die Matratze noch warm ist?

Adam hat den Computer auf eine Konsole gestellt und tippt auf der Tastatur herum. Sein Gesicht reflektiert die Spektralfarben, die von dem Monitor ausstrahlen. Seine Augen leuchten, strahlen Neugierde aus, während ich den Flex-Screen betrachte und von links nach rechts über den Bildschirm streiche.

»Wir warten hier bis zur Nachtschicht, dann sehen wir uns um«, sagt Hope.

Der Screen flammt auf.

Passworteingabe erforderlich. Steht da.

Ich gebe das einzige Passwort ein, das ich kenne. Obwohl sich alle Vernunft in mir sträubt und mir immer wieder sagt, das kann nicht sein. Das kann nicht sein.

Das ist unmöglich, dass er hier war, bestätige ich die Eingabe.

Engel.

Das einzige Passwort, das ich kenne, ist Engel. So hat mich Jesse immer genannt. Seinen Engel. Dann öffnet sich das Kommunikationsmenü, ich bin drin und mein Herz hört auf zu schlagen. Jesse war hier. Das ist sein Flex-Screen.