Die normative Kraft des Decorum

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2.2 Römische Etymologie: decorum, aptum, proprium, accommodatus und convenit

Auf dem altgriechischen Konzept des πρέπον aufbauend, ist es besonders Cicero zu verdanken, dass er griechisches Gedankengut aus Athen nach Rom importiert und in das römische decorum-Konzept integriert hat. Während die Griechen sich mit den zeitlichen und situativen Ausprägungen des πρέπον beschäftigten, spielen im römischen decorum nicht nur rhetorische und intellektuelle, sondern auch moralische Fähigkeiten im Rahmen der societas hinein. Ciceros Übertragung des Begriffs „πρέπον“ in De officiis I, 93 und im Orator, 70 ins lateinische „decorum“ bedeutet einen inhaltlichen Anfangspunkt, von welchem sich Cicero, Horaz und Quintilian lösen werden, um je eigene Überlegungen anzustellen. Die Bedeutungsentwicklung des ciceronischen decorum-Konzeptes ist wirksam bis in die Renaissance hinein (beispielsweise bei Puttenham, Ascham, Castiglione oder Shakespeare).

Analog zum altgriechischen Begriffsfeld wird auch in der lateinischen Terminologie das Angemessenheitskonzept in den einzelnen Werken von Cicero bis Quintilian anhand eines Begriffsfeldes im Rahmen des decorum eingekreist: aptum, proprium, accommodatus und convenit.

Das lateinische Wort „decorum“ ist sowohl der Genitiv Plural des Nomens „decor, -is“ maskulin für „Zierde, Anmut, Schicklichkeit“, als auch der Nominativ oder Akkusativ Singular des Adjektivs „decorus, -a, -um“ für „geziemend, anständig, schicklich“ und des Nomens „decorum, -i“ Neutrum für „Anstand, Schicklichkeit“. Obwohl Cicero als die Quelle des römischen decorum-Begriffes gilt, darf doch das älteste Handbuch der Rhetorik – das zunächst im Mittelalter und in der frühen Renaissance fälschlicherweise auch Cicero zugeschrieben worden ist – die Rhetorica ad Herrenium nicht übergangen werden. Dieses vierbändige Werk, welches in detailgetreuer Genauigkeit die Rhetorik als Technik der Rede darstellt, behandelt in Buch IV die systematische Stillehre in latei­nischer Sprache und unter der Rubrik „ornatus“ das decorum als den Teil der rhetorischen Kunst, der eine Rede schön zu machen vermag. Das decorum als Stilgröße wird in IV, 17 bestimmt als Vornehmheit im Geschmack (elegantia), als künstlerische Komposition und als ästhetische Vornehmheit (dignitas). Dieser Definition des decorum liegt immer auch eine implizite Vorstellung von Schönheit zugrunde, was Thomas Kranidas veranlasst, von einer „surface propri­ety“ zu sprechen.1

Das Verdikt über ein decorum-Konzept als bloßer ästhetischer Größe verkennt jedoch dessen komplexe Natur a priori. Es ist dabei Ciceros Verdienst, das decorum als stilistisches Rhetorikprinzip zu einem rhetorisch-ethischen Konzept erweitert und entwickelt zu haben. Indem Cicero in seinem decorum-Begriff den rhetorischen und moralischen Aspekt miteinander zu verbinden versucht, gelingt es ihm auch im Kleinen, das große Schisma von Philosophie und Rhetorik, das sich durch Sokrates aufgetan hat, zu überbrücken.

Während das decorum in der Rhetorikgeschichte vor allem als ästhetisches Stilideal bekannt ist, erfährt es bei Cicero nun eine neue Bestimmung: Es wird zu einer ubiquitär wirkenden ethischen Handlungsnorm des Menschen in der Gesellschaft erhoben. Da Cicero als praktizierender Politiker das wahre Einsatzgebiet der Rhetorik in der Politik und der societas sieht, holt er die Rhetorik aus ihrem formalen Konzept und integriert sie in das soziale Leben der Römer. Das decorum ist als rhetorisches und soziales Prinzip bestimmt, das eine enge Verbindung mit dem Moralischen (honestum) eingeht. Wie im 3. Kapitel dieser Arbeit en détail beschrieben wird, wirkt das decorum bei Cicero auch in den verschiedenen virtutes nach, die in der römischen Vorstellung von einer funktionierenden Gesellschaft gemäß der mores maiorum ihren festen Platz haben. So kann das ciceronische decorum zum einen gleichbedeutend sein mit dem sophistischen καιρός, aber auch mit honestum, iusta (off. I, 94) oder proprium (off. I, 2 und I, 113) je nach rhetorisch-sozialem Anwendungsgebiet. Trotz seiner vielfältigen Konnotationen – oder gerade deshalb – ist das ciceronische decorum der Garant für Ordnung, Maß und Harmonie im römischen Leben und wird in off. I, 31 als Teil der „fundamenta iustitiae“ bestimmt.

Angesichts der definitorischen Dominanz von decorum als ethischer Handlungsnorm in Rhetorik und Gesellschaft, ist es für die begriffliche Klärung2 von Bedeutung, dass Cicero, um über die stilistische Angemessenheit einer Rede zu sprechen, einen weiteren Begriff verwendet: das aptum. Das innere aptum bezeichnet dabei die kohärente Angemessenheit der Rede selbst, während das äußere aptum den externen Bezugsrahmen, wie die örtlichen Gegebenheiten, das anwesende Publikum und das Setting3 der Rede umfasst. Das aptum beschreibt bei Cicero eine rein rhetorische Handlungsnorm; das decorum erweitert dieses Spektrum ins ethische Wirkungsgebiet des rhetorisch handelnden Menschen in der societas allgemein.4 Im Orator, 70 betont er die ubiquitäre Bedeutung des decorum für das menschliche Reden und Leben, das wie die Redekunst auf der Weisheit (sapientia) basiert. Trotz aller Regeln muss der Redner das decorum erkennen, wozu ihn die Weisheit befähigt. Aufgabe des Redners ist es, sich auf die sechs phänomenologischen Variablen des decorum einzustellen: Umstände (tempus ac locus), Redegegenstand (res), Orator, Rezipienten (auditorum), Klienten und Redegegner. Doch nicht nur diese Bedingungen einer angemessenen Rede sind im rhetorischen Fallkalkül zu analysieren, sondern besonders das angemessene Verhältnis von Inhalt und sprachlichem Ausdruck wird im Orator, 72f. als die Hauptregel des decorum aufgeführt. Diese konstitutive Wechselseitigkeit von res und verba wird qua decorum verwirklicht. So ist es nicht verwunderlich, dass sich Cicero in großen Teilen in off. (vgl. Kapitel 3.1 der vorliegenden Arbeit) und de orat. (I, 144/III, 23-25/III, 37 und 53) dem Verhältnis von ornatus und decorum widmet. In de orat. III, 212 ist die Fähigkeit des Redners, einer Rede den angemessenen Stil zu verleihen, mit dessen Kunstfertigkeit (facere artis), Begabung (natura) und praktischen Klugheit (prudentia) untrennbar verbunden. In De oratore (III, 76 und 80/III, 91) preist Cicero die wahre Rhetorik und den wahren Redner, welcher als Krönung der Rhetorik sich wirkungsvoll und angemessen auszudrücken vermag: „[D]icere caput esse artis decere5. Im Brutus (292) veranschaulicht Cicero dieses Konzept am Beispiel von Sokrates, der sich stets bescheiden verhielt und wegen des Vorwurfs der Asebie verhaftet worden war. Dieser weigerte sich zu fliehen, weil er auch im Angesicht des Todes unverbrüchlich zu seinen Lebensprinzipien stand. Das ciceronische decorum umfasst ergo mehr als ein angemessenes Zeit- und Stilgefühl für eine Rede, es umfasst die rhetorische Performanz gemäß des Wissens- und Bildungsstandes eines Redners und wirkt als ethische Handlungsnorm in der Kunst des Redens und allgemein im Leben.

Horaz’ Ars poetica nimmt Ciceros Prägung des decorum auf und fügt dem ethischen decorum das ästhetische decorum im Wirkungsbereich der poetischen Angemessenheit hinzu. Zwar findet sich in Horaz’ berühmten Römeroden das decorum, wie auch bei Homer, als Heroenkodex für tapfere Kämpfer, die im Kampf ihr Leben für das Vaterland geben (III, 2, 11-13), doch ist es seine poetische Lehrschrift, die das decorum für dichterische Werke und für die Person des Dichters anwendbar macht. Qua phänomenologischer Zweiteilung erfährt das decorum bei Horaz ein rhetorisches Gepräge, indem gerade diese Unterscheidung von ästhetischem und ethischem decorum diese zwar gattungstechnisch trennt, doch inhaltlich verbindet. So harmoniert die Forderung an den Dichter, ein gelehrter Nachahmer vorbildlicher Charaktere zu sein (318), mit der Forderung, seine Dichtung an die Wahrheit anzupassen (338). Wenn Einheit, Geschlossenheit des Werkes (23) und Sinnlichkeit als Mittel der Veranschaulichung von Emotionen (180-182) gefordert werden, schließt dies ein, den Stil dem Alter und Charakter der involvierten Person (178) anzupassen. Und schließlich wird das Diktum des scibendi recte (309) als poietisches Ziel des Dichters vor Augen geführt, der sich seiner Stellung innerhalb der menschlichen Gesellschaft als Herausragender unter den Menschen bewusst sein muss und dem als rheto­rische Wirkungsfunktion das docere und delectare zugeordnet wird. „Recte“ umfasst hier virtus und decorum und ist somit nicht auf den alleinigen stilistischen Aspekt einer Dichtung beschränkt, sondern bezieht die moralische Konnotation von τὸ ὀρθόν mit ein.6 Selbst angesichts der Tatsache, dass ein Dichter über ingenium für die Poetik verfügt, muss sich zu diesem Kunstverstand, der sich graduell entwickelt hat, Lernen, Üben und Arbeiten gesellen (409-410), will er „richtig schreiben“. In Horaz’ holistischer Konzeption des poietisch Angemessenen sieht Lotte Labowsky alle drei Bedeutungen des altgriechischen πρέπον-Konzeptes berücksichtigt und vertreten: „das πρέπον, das sich auf die dichterische ἠθοποιία und das rhetorische, das sich auf die Nuancierung des Sprachstils und die εὐκαιρία bezieht.“7

Nach Cicero und Horaz ist Quintilian zu nennen, der zwar in weiten Teilen Ciceros Auffassung von decorum teilt, jedoch auch einen weiteren bedeutenden Aspekt für das Verständnis des römischen decorum bereithält: decorum als sinnlich erfahrbares Wissen.

 

In der Taxonomie Quintilians ist der Begriff des decorum eng mit decor, ornatus, pulchrum und aptum verbunden. Es bezeichnet eine ästhetische Tugend, die ethisch wirkt. So definiert Quintilian das „apte dicere“ als die vierte Tugend der elocutio, die sich stark am Rezipienten – respektive den Richtern – zu orientieren hat. Sein decorum-Konzept ist rhetorisch und ethisch fundiert, „quid conciliando, docendo, movendo iudici conveniat“8. Diese Mehrdimensionalität des decorum wirkt bereits in der inventio (XI, 1, 7) und setzt den Nutzen mit dem decorum in Verbindung, wobei das decorum den Vorsitz übernimmt und analog zu Cicero dem honestum unterliegt (XI, 1, 9). Die ubiquitäre Bedingtheit des decorum zeigt sich wie bei Cicero an den beteiligten Personen, an der Zeit, dem Ort, dem Anlass (causa), allerdings auch an der Gesinnung des Redners (animus).9 Diese erkennt man nach Quintilian in der Rede, die das unsichtbar verborgene Innere (animi secreta) und die ethische Gesittung (mores) des Redners offenbar werden lässt. Rhetorisch gesehen resultiert das Angemessene gerade aus dem harmonischen Zusammenspiel von rhetorischer Technik und ethischem Auftreten des Redners in der römischen Gesellschaft. Der im Original griechische Sinnspruch „ut vivat, quemque etiam dicere“ in Buch XI, 1, 30 wird bei Quintilian zum Leitmotiv seines decorum-Begriffes. Der römische orator perfectus wird die Ziele in seiner Rede zu erreichen versuchen, die im Einklang mit dem honestum stehen. Apte vivere und apte dicere sind zwei Seiten der sozialen Medaille des römischen Redners. Deshalb stellt Quintilian außer Fallbeispielen und einzelnen Hinweisen keine rhetorischen Regeln für das decorum auf, sondern führt in XI, 1, 42 angenehme und somit angemessene Eigenschaften eines guten Redners – im rhetorischen, wie auch im moralischen Sinn – an: humanitas, facilitas, moderatio und benevolentia.

Neben decorum verwendet Quintilian auch noch weitere Synonyme für Angemessenheit, die jeweils ihre eigenen Konnotationen einbringen. So verwendet er „convenit“ („es gebührt/schickt sich“) neben der Bedeutung eines gezie­menden Redestils (XI, 1, 93) auch, um sittliches Verhalten am Beispiel von So­krates (XI, 1, 11) oder anhand der Schilderung eines tränenumflorten Zeugen vor Gericht (als Konjunktiv Präsens aktiv „conveniat“ in XI, 1, 84) zu bezeichnen, welches angemessen auf den Redner abgestimmt ist beziehungsweise sein muss und so dessen Rede verstärkt und glaubwürdig macht. Mit „accommodamus“ („wir passen an“), das derselben Wortfamilie entstammt wie „accommodatus“ (Partizip Perfekt zu oben genannten Verb für „schicklich/angepasst“) bezeichnet Quintilian in XI, 1, 39 die sprachliche Abstimmung des Redners auf die Wesensart (mores) seines von ihm vertretenen Klienten.

Wie für Cicero ist Quintilians Definition des decorum zu verstehen als ein Wissen um das rechte Maß, das nach seiner Auffassung aber nicht mit dem Verstand, sondern nur durch die Sinne erfahr- und erfassbar ist. Diese Betonung der Sinneswahrnehmung (αἴσθησις) ist genuin „quintilianisch“.

Die etymologische Untersuchung von Termini innerhalb des Angemessenheitskonzeptes bei Griechen und Römern hatte zum Ziel, die unterschiedlichen kulturellen und begrifflichen Prägungen des decorum aufzuzeigen. Während sich die Ethik bei den Griechen mit Platon und Aristoteles in der Ästhetik des Schönen verortet, ist sie bei den Römern eine Ethik innerhalb der societas, die durch den gesellschaftlichen Rang und das Verhalten einer Person, d.h. durch das Ethos, welches sich aus der auctoritas und der dignitas speist, maßgeblich konstituiert wird.

3 Das römische Decorum in Ciceros De Officiis
3.0 Forschungsüberblick

Die bisherige wissenschaftliche Forschung bezüglich der gleichnamigen Offizien-Bücher von Cicero und Ambrosius ist seit über einem Jahrhundert bestimmt vom Primat der vergleichenden Betrachtung. Den Auftakt bilden die Studie Bittners (1849) und vor allem die beiden Preisschriften der Theologischen Fakultät der Universität München von Hasler und Leitmeir aus dem Jahr 1864. F. Hasler und D. Leitmeir untersuchen sowohl die perhorreszierte, heidnische Ethik Ciceros, als auch die christliche Ethik Ambrosius’. Wie schon der Titel Leitmeiers angibt, sind diese Studien nach Hiltbrunner lediglich „apologetische Theologie“ ohne philologisch fundierte Untersuchung der Texte.1 Hasler sieht bei Ambrosius im Vergleich zu Cicero einen anderen geistigen Ansatzpunkt und räumt auf Grund dessen Ambrosius als Kirchenvater und Vertreter der christlichen Moral eine Vorzugsstellung ein, wohingegen Cicero abgesprochen wird, die menschliche Seele überhaupt zu kennen und Gott als Schöpfer zu erkennen.2 „Autoritative Erhabenheit“ wird lediglich dem Werk Ambrosius’ zugesprochen, denn „[n]ur die christliche Sittenlehre erfasst den ganzen Menschen“.3 Resümierend beurteilt Hasler den größten Vorzug von Ambrosius’ Schrift in der „Motivirung des Tugendstrebens durch den christlichen Glauben“ und kommt zu dem Ergebnis, dass Ciceros Werk zwar „eine Fülle von Wissen“ enthalte, aber „arm an Gedanken“ sei.4

Ähnlich klingt auch Leitmeirs Verdikt über Ciceros Leistung, wenn er ihm jegliche Selbstständigkeit auf dem Gebiet der Philosophie abspricht: „[Er mußte] sich vielmehr in allen spekulativen Erörterungen an griechische Muster anlehnen“.5 Trotz der Tatsache, dass sich Ambrosius zweifelsohne an Ciceros Schriftmuster anlehnte, wird jenem jedoch das Verdienst zugesprochen, „als der Erste die christliche Ethik in ihren Vorzügen und Gegensätzen gegenüber der sittlichen Anschauung des Heidenthums in helleres Licht gebracht und eine systematische Darstellung der christlichen Sittenlehre wenigstens versucht zu haben.“6 Auf diesem Hintergrund sei es Cicero unmöglich gewesen, ein wirklich ethisches Prinzip zu entwickeln, das nicht auf den Schöpfer Gottes als vollkommenes Gesetz zurückzuführen sei.

In der Ambrosiusforschung geht es nicht nur um seine Philosophie und Ethik, sondern auch um die schriftstellerische Leistung von Ambrosius, und Paul Ewald untersucht in seiner Dissertation 1881, inwiefern sich Ambrosius vom stoischen Muster Ciceros lösen konnte. Sein Urteil über Ambrosius’ schriftstellerische Leistung ist niederschmetternd. Ewald attestiert Ambrosius eine „no­torische Unselbstständigkeit seines wissenschaftlichen Denkens“7. Zwar versuche dieser als Erster, eine konzise Darstellung der Ethik zu erarbeiten, doch sei diese nicht von innovativen Impulsen geprägt, sondern Ambrosius mache sich aufgrund der „aus seinem christlichen Bewusstsein geborenen Aeusserungen von seiner antiken Vorlage [...] abhängig.“8 Sogar die spezifisch christliche Bestimmtheit wird seinem Werk als Konsequenz seiner Abhängigkeit vom römisch-heidnischen Vorbild abgesprochen.9

Nur 14 Jahre später unterstreicht dagegen Raymond Thamin10 in einer umfangreichen Untersuchung gerade den christlichen Charakter des ambrosianischen Werkes. Auch Pierre de Labriolle11 bescheinigt Ambrosius zum einen die Übernahme heidnisch-ciceronischen Vokabulars, zum anderen jedoch auch eine Loslösung von Cicero und eine Verchristlichung der philosophischen Morallehre.

Die Forschung des 20. Jahrhunderts führt die Diskussionen um Ambrosius’ Selbstständigkeit und Ciceros philosophische Leistung fort. Jedoch interessieren sich nun, neben der theologischen, zunehmend auch die altphilologische und linguistische Disziplin für die Offizien von Cicero und Ambrosius. M.B. Emeneaus aufgrund seiner Kürze stark verdichteter Aufsatz12 behält den Ton der Kritik bezüglich Ambrosius’ Werk und Stil bei. Stilistisch schöne Wendungen suche man vergebens: „beauties of style, ornate rhetoric, figures of language have little place in Christian writings.“13 Jedoch ersetze die „inward form which was imposed upon language by the moral and spiritual enthusiasm of Christianity“ die äußere Form des Stils und der Rhetorik der klassischen Literatur.14 Nicht nur der rhetorische Wert der beiden Schriften, sondern auch das decorum wird erstmals unter philologischen und literarischen Aspekten genannt. Auch Ambrosius’ Auseinandersetzung mit Ciceros decorum-Begriff wird kurz gestreift. Dennoch ist Emeneaus Verdikt eindeutig: „Ambrose’s ethical work is in no way original. It suffers from too close adherence to its model.“15

Lotte Labowskys Dissertation16 über die Ethik des Panaitios aus dem Jahre 1934 zeigt zum ersten Mal, dass dem decorum-Begriff nicht nur eine ästhetische, sondern auch eine ethische Komponente inhärent ist. Labowsky unterzieht die Paragraphen 93 bis 149 des ersten Buches von Ciceros Offizien-Bücher einer genauen linguistisch-philologischen Untersuchung. Mit Bezug auf andere De officiis Übersetzungen von beispielsweise C. Atzert (1923) deckt sie Kürzungen und logische Brüche in Ciceros Argumentation, Unvollständigkeiten linguistischer Art und Übersetzungsfehler auf. Am Ende dieser Untersuchung entwickelt Labowsky ein Schema der ciceronischen Komposition des decorum, das drei Aspekte hervorhebt: die begriffliche Grundlegung des decorum, die aus dem decorum entspringenden Pflichten und die Rücksicht auf das Urteil der Mitmenschen17. Im Vergleich mit Horaz’ decorum-Begriff wird außer dem ethischen auch der poetische Aspekt des decorum als Ordnungsprinzip analysiert. Die Tatsache, dass Lotte Labowsky den Schwerpunkt ihrer Untersuchung auf das decorum legt und ihre stringente Genauigkeit der Vorgehensweise machen dieses Werk auch 85 Jahre nach seiner Veröffentlichung zum Standardwerk für jede Untersuchung des decorum bei Cicero.

Rund 30 Jahre später veröffentlicht Otto Hiltbrunner seinen Aufsatz ‚Die Schrift de officiis ministrorum des hl. Ambrosius und ihr ciceronisches Vorbild‘, der das Ziel hat, den Zweck und die Absicht der ambrosischen Umwandlung der ciceronischen Schrift zu untersuchen. Zwar fokussiert auch Hiltbrunner auf die ambrosianische Umwandlung des Vorbilds Ciceros, wie es bislang Tradition in der Forschung war, doch beleuchtet er in altphilologischer Manier besonders die ambrosische Begriffsprägung von cardo/cardinales für die Kardinalstugenden, sowie die christliche Etymologie des Wortes officium und kommt auch kurz auf die Übernahme des ciceronischen Begriffes decorum zu sprechen, wobei er Ambrosius kritisiert, weil er „[d]en Sinn des stoischen πρέπον [...] mit seinem buchstäblich an den Haaren herbeigezogenen Beispiel völlig verfehlt“18 habe. Doch andererseits hieße es, Ambrosius bei aller respektvollen Treue dem Vorbild gegenüber zu verkennen, „wenn man ihm vorwirft, er habe keine selbstständige christliche Ethik verfaßt.“19

Doch erst Martin Thurmair widmet 1973 wieder einen Aufsatz ganz dem Thema des ciceronischen decorum-Begriffes. Darin hält er die bisherigen diachronistischen Untersuchungen zu Cicero und dessen Rekonstruktion der Panaitios-Vorlage für „metaphysische Mißverständnisse“ und Fehlinterpretationen aufgrund einer falschen Einordnung Ciceros in die Metaphysik.20 Dadurch werde Ciceros Theorie und sein decorum-Begriff nicht im ciceronischen, d.h. funktional im politisch-rhetorischen Kontext begriffen, sondern lediglich im philosophisch-historischen Rahmen. Im Gegensatz dazu unterscheidet sich Thurmairs Arbeit in Methode und Ergebnis, wenn er den decorum-Begriff Ciceros untersucht. Anhand von Begriffspaaren wie ratio oratio, decorum verum/verisimile, decorum – honestum wird versucht, das Konzept des decorum aus dem Gebiet der anthropologisch-politischen Theorie heraus zu bestimmen. So wird decorum als Letztimplikation des Handelns in der societas und als Bedingung für die Verwirklichung des Menschen begriffen.21 Thurmair definiert decorum damit als eine „Fähigkeit, die mannigfaltigen Merkmale einer Situation aufzunehmen und sie adäquat zu verarbeiten.“22 Da situatives Handeln immer in einem sozialen System seinen Platz hat, beschreibt das decorum auch „die Relation einer Verhaltensweise zum Gesamt anderer Verhaltensweisen“23. Dies bedeutet, dass durch die Zustimmung und Akzeptanz der Mitmenschen eine Handlung als schicklich beurteilt werden kann und keine feste Größe ist. Als sozialer Faktor ist das decorum jedoch nach Thurmair „nicht inhaltlich als ethische Leitlinie fest[zu]legen, sondern besteht wesentlich in der Art, wie Variablen einer Situation zueinander in Beziehung gesetzt werden.“24 Durch die gebotene Kürze ist es Thurmair leider nicht möglich, weiter in die Tiefe zu gehen, doch stellt seine Arbeit einen wichtigen Impuls dar, sich den anthropologischen, politischen und rhetorischen Implikationen des ciceronischen decorum-Begriffes zu widmen.

 

Willibald Heilmanns literatursoziologische Untersuchung (1982) von Ciceros Schrift De officiis verlässt den Bereich des decorum und analysiert, inwiefern literarische Tradition (Panaitios Vorlage etc.) von einer bestimmten Gesellschaftsschicht rezipiert wird. Seine Methode orientiert sich am Vorgehen des Literatursoziologen Lucien Goldmann. So interpretiert Heilmann beispielhafte Textstellen aus De officiis unter Heranziehung weiterer Textstellen aus den Tusculanae disputationes und aus De legibus. Auch Ciceros politisches Urteil und Verhalten nach dem Mord an Caesar wird in Beziehung gesetzt zu der in De officiis vertretenen Position und mit derjenigen der Caesarmörder kontrastiert. Als Ergebnis dieser literatursoziologischen Untersuchung lassen sich „strukturelle Übereinstimmungen zwischen Werk und gesellschaftlichem Bewußtsein als eine wesentliche Komponente von De off. [anzusehen] und damit gesellschaftliches Bewußtsein als eine entscheidende Bedingung dieser Schrift [zu] erkennen.“25

26 Jahre später widmet sich der Politikwissenschaftler Daniel Kapust in seinem Vortrag ‚Cicero on decorum and the morality of rhetoric‘ auf der Konferenz der Midwest Political Science Association im April 2008 der rhetorischen und moralischen Theorie Ciceros in De officiis. Darin stellt er die These auf, das decorum sei ein Verbindungsglied zwischen dem Wissen von Experten und den gängigen Meinungen und Werten. Ähnlich wie auch Thurmair sei keine Regel für das decorum festzulegen, da es als Urteilsvermögen kontext- und persönlichkeitsabhängig sei. Kapust unterscheidet zwischen einem rhetorischen und einem ethischen decorum. Das rhetorische decorum wird auf Flexibilität und Anpassungsfähigkeit einer Rede reduziert, während das ethische decorum als eine Art Konstante bezüglich des Geistes und der Handlungen gesehen wird.26 Die Art und Weise, wie die Gesellschaft das Handeln eines Individuums bewerte, spiele eine wichtige, da einschränkende Rolle in Ciceros Begriff des decorum. Leider gelingt es Kapust nicht, Innovatives zum ciceronischen decorum-Konzept beizutragen, vielmehr ist sein Aufsatz eine Art Zusammenstellung verschiedener Standpunkte von Aristoteles über Cicero27 bis zur modernen Forschung.

Stephen J. McKennas Werk Adam Smith. The Rhetoric of Propriety (2006) ist hier insofern zu erwähnen, als es die Bedeutung von decorum als propriety in der rhetorischen Theorie und Praxis betont und erklärt, inwiefern die rhetorische Angemessenheit eine zentrale Stellung in Smiths ethischer Theorie einnimmt.

Mit Aristoteles betont Smith die Notwendigkeit, die Rede dem Auditorium anzupassen28 und nach McKenna hat er sich so um die rhetorische Theorie verdient gemacht.29

Im Jahr 2011 erscheint schließlich die Dissertation Decorum. Konzepte von Angemessenheit in der Theorie der Rhetorik von den Sophisten bis zur Renaissance des Rhetorikers Jan Dietrich Müller, der sich wie Kapust einer chronologischen Betrachtung von Konzepten der Angemessenheit der letzten 2000 Jahre widmet. Telos dieser Arbeit ist es, das Verhältnis der rhetorischen Theorie zur Angemessenheit der Rede anhand verschiedener Konzepte wie des καιρός bei den Sophisten, des πρέπον bei Aristoteles, des decorum und aptum bei Cicero und Quintilian und der convenienza und grazia bei Castiglione zu analysieren. Als Tribut an diese historische Spannbreite lässt sich eine gewisse Kürze der einzelnen Kapitel feststellen, die es dem Autor kaum erlaubt, detaillierte Textarbeit zu realisieren, obwohl dies eingangs zum Desiderat einer solchen rhetorisch-historischen Untersuchung erklärt worden ist.30 Diese Kürze ist insofern ein gewichtiges Problem, als sie terminologische Unschärfen, chronologische Sprünge und Auslassungen von Theoretikern zur Folge hat. So fehlt bei Müller eine Analyse aller mit dem Thema der Angemessenheit verbundenen römischen und griechischen Begriffe wie beispielsweise τό εἰκός (vgl. Kapitel 2.1 und 2.2), wodurch das Bedeutungsspektrum von Angemessenheit unscharf und unvollständig dargestellt bleibt. Auch die Begriffe decorum vitae/persona, grazia und das griechische Ethos erfahren keine genaue Abgrenzung und Schärfung, sodass beispielsweise der Dynamik-Aspekt in Aristoteles’ Konzept des Ethos31 unerwähnt bleibt. Chronologisch nennt er zwar Quintilian, doch streift er diesen nur kurz als Ergänzung zu Cicero und lässt somit außer Acht, dass das elfte Buch von Institutionis oratoriae sich in Gänze dem Thema der passenden Form der Rede widmet. Ein wahres Manko ist die Tatsache, dass wichtige Theoretiker wie Dionysius von Helicarnassus, die Schrift Ad Herennium oder Ambrosius’ De officiis ministrorum keinerlei Beachtung finden.

Müller untersucht Ciceros Rhetorik- und Lebenskonzeption anhand des decorum orationis und des ihm korrespondierenden decorum vitae, und zeigt so die persuasive Macht und moralische Ubiquität von decorum und die Verschmelzung von Rhetorik und Moral im decorum-Begriff auf. Müller versteht Ciceros Moral fälschlicherweise als „eine Moral der Sichtbarkeit, der Perzeption, eine öffentliche Moral.“32 Er lässt das tiefer gehende Moralverständnis Ciceros außer Acht, der moralisches Handeln auch im privaten Raum propagiert, wenn also dieses Handeln von der Öffentlichkeit nicht wahrgenommenen werden kann (vgl. Kapitel 2.4). Ciceros Konzept von decorum wird hauptsächlich anhand des Werkes De oratore analysiert, die Schrift De officiis – die sich doch ausführlich mit seinem decorum-Konzept beschäftigt und in einer tiefgehenden Analyse dieses Themenkomplexes nicht übergangen werden kann – wird von Müller unverständlicherweise nur peripher beachtet. Auch das gleichnamige Werk des Ambrosius spielt in dieser Untersuchung keine Rolle, obwohl dieser Kirchenvater in Rhetorik unterrichtet war33, eine christliche Tugendlehre verfasste und in seiner Auslegekunst und Dichtung von kirchlichen Hymnen die christliche Rezeption von Rhetorik in persona lebte und sich somit eine rhetorische Untersuchung seines nach Ciceros Muster verfassten Werks De officiis ministrorum angeboten hätte.

Zwar ist Müllers Monographie die erste, die ein Rhetoriker über das Konzept von Angemessenheit34 verfasst hat, aber aufgrund der oben dargestellten Mängel kann diese die Lücke in der Rhetorikforschung nicht schließen. Und auch Müller findet keine Antwort auf das Desiderat, was rhetorische Angemessenheit in der komplexen Theorie ist und welche Definition von rhetorischer Angemessenheit heute gefunden werden kann.

Insgesamt tendiert die bisherige Forschung in theologischem, altphilologischem, literatursoziologischem und politikwissenschaftlichem Ansatz zu vergleichenden Betrachtungen der Offizien-Bücher von Cicero und Ambrosius. In den letzten anderthalb Jahrhunderten wurden weder Ciceros, noch Ambrosius’ Werke als selbstständige Werke gewürdigt, sondern meist in Beziehung und Vergleich zu ihren Vorbildern gesetzt. Diese beschränkte Perspektive arbeitete zwar den christlichen Charakter der philosophischen Morallehre heraus und führte auch zu einer Rekonstruktion der Panaitios-Vorlage, doch ein tiefergehendes Interesse an den rhetorischen Konzepten Ciceros und Ambrosius’ in De officiis ist bislang kaum feststellbar. Nur vereinzelt klingt in Aufsätzen von Emeneau (1930), Thurmair (1973) und Kapust (2008) an, dass der Begriff des „decorum“ in umfassenderem Sinne einer Untersuchung wert wäre. Einzig das Buch von Lotte Labowsky (1934) geht dem Prinzip des decorum auf den Grund, das als ästhetisches Prinzip bei Cicero und Horaz untersucht wird. Auffallend ist jedoch, dass die Rhetoriker sich bislang kaum – außer Müller (erst 2011) – in die Diskussion um das decorum in Ciceros Schrift De officiis eingebracht haben.