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Die Höhlenkinder im Steinhaus

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Klammbach-Durchbruch

Dem schönen, gewitterreichen Sommer mit seiner reichen Getreideernte folgte ein milder Herbst, und diesem ein harter Winter mit ungewöhnlich schweren Schneestürmen und Frösten. Er schien kein Ende nehmen zu wollen. Noch zur Frühlings-Tagundnachtgleiche lagen die Lehnen unter gefrorenen Schneemassen.

Als endlich der langersehnte Föhn über die Grableiten fegte und, vom Talgrund abprallend, über die Südwand emporstürmte, da stürzten die Schneewasser als Wildbäche von den Höhen; sie rollten und schoben das vom Frost abgesprengte, beim Tauen des Eises zu Tal gegangene Gestein vor sich her in den See. Dort wurden die abgelagerten Schottermassen von der Wucht der Wasser weitergedrängt und stauten sich vor der Schlucht, wo angeschwemmtes Schilf und Holz einen Damm bildeten.

Der Klammbachsee stieg zusehends. Vor den Augen der Sonnleitnerleute glänzte wieder eine einzige Wasserfläche, bedeckte den Talgrund von den Klammwänden an über den Sonnstein bis zu den alten Wohnhöhlen. Eintönig rauschte die Ache zwischen den Wänden der Klamm. Gewiß würden die Fluten wieder sinken, wenn erst die Schmelzwasser von oben versiegten. Besorgniserregend aber war die seltsame, unnatürliche Fröhlichkeit Evas, die mit den Augen von ihrem Sonnenplatz aus dem Strömen der Flut folgte. Sie wartete auf etwas Wunderbares, Erlösendes. Nach zwei schlaflosen Nächten war sie so schwach, daß sie nicht aufstehen konnte. Hans wagte nicht, sie allein zu lassen. Peter aber machte täglich auf seiner Plätte weite Fahrten kreuz und quer über den Talsee, der schon die Mauer des Saugartens bespülte. Er wußte, daß die Kranke bei Hans gut aufgehoben war, daß dessen Gesellschaft ihr wohltat. Was hätte es auch genützt, wenn er dageblieben wäre, wenn er mit ihr gesprochen hätte, wie ihm ums Herz war, sooft er sie leiden sah — wenn er ihr gesagt hätte, wie er mit Gott und den Hausgeistern haderte, die es geschehen ließen, daß ihm sein Liebstes dahinsiechte? Er hätte ihr das Herz schwer machen müssen mit der Frage, die ihn in nüchternen Stunden peinigte, mit der Frage, was aus ihm und Hans werden sollte nach Evas Tode, die allein das Leben lebenswert machte. Solange sie noch im Haus und Garten herumgegangen war, hatte er auf ihre Genesung gehofft. Jetzt hoffte er nicht mehr, er wartete nur auf das Schreckliche, dem er nicht entrinnen konnte — auf ein Leben ohne Eva.

Das Einholen von angeschwemmtem Holz und ertrunkenem Wild war für Peter nur ein Vorwand, dem Jammer im Haus zu entgehen. Nicht der Felle wegen wagte er sich auf die schwer dahinströmenden Wasser; denn an Fellen war mehr vorhanden, als die drei Menschen brauchten; je anstrengender die Arbeit außerhalb des Hauses war, um so eher vergaß er seinen Kummer. Und nach einem tüchtigen Schluck aus dem Met-Topf wurde er sogar fröhlich.

Es kamen Tage, an denen Eva kaum ihr Bett verließ. Sie litt keine Schmerzen, sie war nur furchtbar müde. Die Sorgen um die Häuslichkeit beschäftigten sie nicht mehr. Ob die Hunde, Schweine, Katzen, Ziegen jungten, ob die Enten ihr Futter bekamen, sie fragte nicht mehr danach. Der warme Föhn brachte ihr Atemnot. Dann verfiel sie in einen von Träumen erfüllten Halbschlummer, in dem sie flüsternd mit sich selbst, mit Gott oder mit der Ahnl redete, die sie wohl in ihrer Nähe wähnte. Morgens lag sie lange in schwerem Schlaf. Ihr Atem hob kaum merklich das leichte Rehfell der Bettdecke. Hans, der sie beobachtete, mußte oft lange hinschauen, ehe er dessen gewiß war, daß seine Mutter noch atmete.

Erst gegen Mittag, wenn die Sonne auf die blühenden Primeln und Maßliebchen schien, die Hans in Näpfen auf das Fensterbrett gestellt hatte, und Finken, Gimpel und Zeisige im Gezweig der Hausfichte ihre Frühlingslieder schmetterten, kam in die überzarte Gestalt ein Leben, das den Sohn immer wieder mit Hoffnung erfüllte. Die Stimme, mit der sie ihren »Buben« — so nannte sie ihn noch immer — um etwas bat, war klar und hatte sogar einen scherzhaften Klang: »Komm Hansl, jetzt mußt mich bemuttern, hast mich wieder in den hellen Mittag hineinschlafen lassen, jetzt rühr dich aber: waschen, essen!«

Und schon war Hans mit der Waschschüssel bei ihr, tauchte ein Stück Leinen in das kühle Wasser, wusch der Mutter, die sich im Bett aufgesetzt hatte, Gesicht, Hals und Hände und trocknete sie mit einem vorgewärmten Tuch ab. Er kämmte ihr das lange blonde Haar und legte ihr das Stirnband an. Unter das Stirnband aber schob er kleine Sträuße, Goldprimeln und Veilchen. Dann ging er in den Stall, frischgemolkene Milch zu holen, die seit langem Evas einzige Nahrung bildete.

Sie trank die Milch nicht aus; den Rest überließ sie ihrer Lieblingskatze, einer Enkelin der unvergeßlichen Schnurri, die an Zutraulichkeit von keinem anderen Haustier des Sonnleitnerhofes übertroffen wurde.

Behutsam trug Hans die Mutter von ihrem Lager auf das seine, dessen wohldurchlüftete und wohldurchsonnte Felldecken und Matten einen Hauch der Morgenfrische ausströmten.

Er brachte ihr die Katze, die sich umständlich in die Armbeuge ihrer Herrin kuschelte und vor sich hin schnurrte.

Und während die dünn gewordenen Finger der Kranken das weiche Fell der Katze streichelten, folgten ihre Augen dem Sohn, der das Bettzeug der Mutter hinaustrug auf den Birkenzaun des Laubenganges. Dann kam eine Plauderstunde, die alle Sorgen vergessen machte. Hans holte eine dunkle Schieferplatte, nahm ein Stück Speckstein und zeichnete der Mutter die Geschichte ihres Lebens. So ging der Tag dahin. Hans brachte die Mutter in ihr frischgemachtes Bett zurück, sang ihr ein wenig vor und plauderte sie dann wie ein Kind in den Schlaf.

Als der Vater am Abend heimkam und leise fragte, wie es der Kranken gehe, konnte Hans mit gutem Gewissen sagen: »Gut, Vater, gut geht‘s ihr.«

Eines Tages mußte Hans die Schweine in die Bärenhöhlen schaffen, weil die steigende Flut das Gartenland zu überschwemmen drohte. Ihn verdroß, daß der Vater schon in aller Frühe gegangen war und er die Mutter allein lassen mußte. Freundlich schien die Sonne auf die weite Wasserfläche, aus der die Kronen des Laubwaldes ragten.

Die Tiere waren versorgt. Hans war wieder bei der Mutter. In der Stube, deren Fenster mit Matten verhängt waren, herrschte traumhaftes Zwielicht. Gleichmäßig fielen die Tropfen der Wasseruhr. Die Kranke schlief.

Nachmittags erwachte sie zu ungewohnter Stunde an einem machtvollen Dröhnen, das aus der Klamm zu kommen schien. Als wären plötzlich alle ihre Lebenskräfte zurückgekehrt, setzte sie sich mit einem Ruck auf und rief nach Hans. Kaum hatte er sich auf dem Bettrand niedergelassen, umfaßte sie seinen Kopf mit beiden Händen und küßte ihn.

Hans, den das Dröhnen so beunruhigte, daß er am liebsten hinausgeeilt wäre, um nachzusehen, was vorging, mußte eindringlich fragen: »Mutter, was ist? Mutter, was ist, was hast du?« ehe sie zu sprechen begann.

Mit zitternden Händen strich sie ihm die Haare aus der Stirn und sagte langsam, jedes Wort wägend: »Hans, hör zu! Gott der Starke hilft — ich hab ihn gebeten. — Hörst du den Klammbach brausen? — So hat er gelärmt, damals, als das große Wasser durch die Klamm gelaufen ist — das große Wasser, vor dem wir in die Bäume auf dem Fuchsenbühel gestiegen sind. — Damals hat‘s die Klamm verlegt und dann nur halb freigegeben. — Aber jetzt, jetzt wird der Weg ganz frei werden, der Weg durch die Klamm. — Hörst du? Der Weg in die große Welt wird frei! Er wird frei, ich weiß es!«

Sie schob seinen Kopf auf Armeslänge zurück und sah ihm gespannt in die Augen. Er aber brachte kein Wort hervor.

Da begann sie wieder: »Oh, sag nur, was ich schon lang weiß — du magst nimmer dableiben im Heimlichen Grund du kannst nicht — und es wär auch schad um dich!«

Da schüttelte Hans abwehrend den Kopf, jetzt schämte er sich seiner geheimen Sehnsucht, die sie erraten hatte.

»Ich weiß wohl, du gehst nicht, solange ich lebe — nur solange ich lebe, bist du gefangen im Heimlichen Grund; dann aber bist du frei — ich hab keine Angst, wie‘s dir gehen wird, Hans — verlaß nur den Vater nicht!«

Ihre Stimme klang weich, und wieder zog sie seinen Kopf zu sich herunter. Und während sie ihm zusprach, er solle nicht weinen, begann sie selbst zu schluchzen. Und wieder fing sie an: »Wenn ihr mich begraben habt — dann suchst du den Weg durch die Klamm — hinaus in die große Welt, wo andere Menschen wohnen.« Die Lebhaftigkeit, mit der sie sprach, stand nicht im Einklang mit ihrem langen Siechtum. Flackerte ihre Lebensflamme zum letztenmal auf vor dem Erlöschen?

Den Mund an das Ohr des Lauschenden gepreßt, fuhr sie eindringlicher fort: »Aber sucht euch einen sonnigen Tag aus — einen sonnigen Tag nach vielen sonnigen Tagen, daß euch kein Steinschlag trifft in der Klamm.«

Da fuhr Hans zurück: »Mutter, ich bitte dich, hör auf! — Red nicht so, du darfst nicht sterben, du darfst nicht!«

»Sei still, Hans, sei still. Das Sterben ist nicht so, wie du meinst. Ich hab die Ahnl lebend gesehen, ich hab sie einschlafen sehen, und dann war sie tot; kalt ist sie geworden, und wir haben sie begraben. Ihr Atem hat ihren Leib verlassen und hat sich mit dem Atem des Allmächtigen vereinigt, und der Allmächtige ist überall. Darum ist sie auch immer bei uns gewesen, hat uns bewacht und beraten. Ich habe sie oft im Traum gesehen, habe mit ihr reden können. Und sie ist mir beigestanden in meinen schwersten Zeiten. Auch heut nacht war sie bei mir. Ihr Geist war immer da, bei mir, in mir. So wird auch mein Geist bei dir sein, Hans, — er wird dich hinausgeleiten aus dem Heimlichen Grund in die große Welt und wird dir den Weg weisen.«

Da bedeckte Hans sein Gesicht mit den Händen und weinte still vor sich hin.

Das ferne Dröhnen in der Klamm dauerte an, die Luft bebte, und Hans war es, als erzitterten die Balken des Stubenbodens unter seinen Füßen. Die Mutter atmete leise.

 

Nach einer Weile erst hob sie wieder an, als wollte sie ein Bedenken, das Hans noch haben mochte, zerstreuen. »Vor den Menschen da draußen müßt ihr keine Angst haben. — Die der Ahnl ans Leben gewollt haben, die sind alt oder tot. Und die anderen wissen nichts von ihr, nichts vom Vater und nichts von dir. — Ob sie gut oder bös sind? Ach Gott, sie sind, wie sie sind — gut und bös. Und ehe du eine Frau nimmst — Hansl, hörst du mich? — ehe du eine Frau nimmst, schau gut, ob sie von den Guten eine ist. Sie soll fröhlich sein und euch beide froh machen. — Daß die Menschen dich gut aufnehmen, dafür weiß ich dir einen Rat. Paß auf: Wo du jemand schwer arbeiten siehst, dort hilf — dort hilf ...«

Eva lehnte sich erschöpft und wie erlöst zurück und schloß die Augen.

Hans aber war entschlossen, die Nacht über bei der Mutter zu wachen. Er setzte sich in den Lehnstuhl am Kopfende ihres Bettes. Ihre beiden Ratschläge, vielleicht die letzten Worte einer Sterbenden, wollte er in seiner Bilderschrift niederschreiben, damit keines ihm jemals entfiele. Plötzlich erinnerte er sich des Vaters. Wo der nur so lange blieb? Ob ihm etwas geschehen war? Wie sehr er ihn liebte, empfand er jetzt, wo er ihn vielleicht verlor. Und er begann zu beten. Das Gesicht der Mutter vor den Augen, flehte er, daß sie erwachen möge, damit er den Vater suchen, ihn retten könne, den Vater, den Vater ...!

Und als ob sein starker Wille der Mutter neue Kraft gegeben hätte, röteten sich ihre Wangen, ihre Lider zuckten, sie öffnete die Augen weit: »Wo ist der Vater?« — Hans beugte sich über sie.

Noch ehe er antworten konnte, hatte sie ihn an den Schultern gepackt und schrie ihn an: »Wo ist er? Sag‘s, sag‘s!«

»Noch draußen«, kleinlaut brachte er es hervor.

Da schüttelte sie ihn mit einer Kraft, die er ihr nicht zugetraut hätte; ihre Finger gruben sich in das Fleisch seiner Oberarme, und befehlend stieß sie hervor: »Hol ihn, sonst nimmt ihn die Klamm!«

Auf kalter Höhe

Von zwei Hunden gefolgt, machte sich Hans auf die Suche. Der Waldweg zum Moor war mit angeschwemmtem Astwerk verlegt. Zwischen der Gartenmauer und dem Waldrand niedersteigend, vermißte Hans den Widerschein des Mondlichts auf dem Wasser, das noch bei Sonnenuntergang zwischen den Bäumen gestanden hatte. Tiefer steigend fand er den Waldboden mit Schwemmholz und angetragenem Laub bedeckt. Angeschwemmte Schneckenhäuser knackten unter seinen Füßen. Die Hunde blieben weit hinter ihm zurück, er ließ sie gewähren. Das Dröhnen des Klammbachdurchbruches war verstummt. Kaum hörbar drang aus der Tiefe des Grundes ein Plätschern und Murmeln herauf, wie er es sonst nur am oberen Moorbach zu hören gewohnt war.

Als er aus dem Walde trat, fand er statt der mondbeglänzten Seefläche mattschimmernde Bodenwellen, die sich beim Näherkommen als Sandbänke erwiesen. Keiner der Hunde folgte ihm mehr. Erst kam lockerer, lehmiger Sand, der unter jedem Tritt nachgab, dann Schotter und grobes Geröll, abgerundete, kopfgroße Trümmer von Tropfsteinen, die aus den Quellgrotten stammten. Das Murmeln des Baches wurde deutlicher. Als Hans ihn unterhalb des Sonnsteins erreichte, stand er vor einem tief eingerissenen Bachbett, in dem das Wasser gurgelnd und schäumend über Felsbrocken dahintobte. Es warf das Mondlicht grell zurück. Der See hatte sich durch die Klamm entleert und vieles mit sich fortgetragen. Der Bach hatte durch das alte Schwemmland des Steinfeldes ein tiefes Bett gerissen. Da wurden in den Uferlehnen Schichten von braun verkohlten Baumstämmen sichtbar. Die konnten nur von Wäldern herrühren, die vor undenklichen Zeiten gewachsen und durch wiederholte Überschwemmungen mit Schlamm, Sand und Geröll übermurt worden waren.

Hans, der sich nun vom Hause weit genug entfernt wußte, begann zu rufen: »Vater! Vater!« Die Felswände warfen den Ruf undeutlich zurück. Das Rauschen des Baches war nahe. Mühsam kämpfte sich Hans im Geröll des rechten Ufers weiter und rief immer wieder. Keine Antwort. Angst und Hast trieben ihm den Schweiß aus den Poren. Als er vom entblößten Seeboden zum Moor anstieg, wurde der Bach seichter und breiter. Bis zu den Klammwänden hin lag der Talgrund unter einem Wust von Schilf, entwurzelten Bäumen, Rasenflözen, Torf und aufgeweichtem Lehm, der mit Schotter durchsetzt war. In viele Arme geteilt, sickerte der still gewordene Bach durch die Murung. Es war unmöglich, hier weiterzukommen.

Zur Rechten gewahrte Hans, daß der Lehmwall, der den Moorsee gehalten hatte, durchgebrochen war. Da rieselte über die entblößte Felsstufe glitzerndes Wasser: Auch der Moorsee floß ab! Verwaschen zog sich, nach zwei Seiten flach abgedacht, ein Landrücken hin — die Triftleiten. Hans watete durch den knietiefen Schlamm des Triftbodens, wo er kreuz und quer über versunkene, von schlüpfrigen Algen überzogene Baumstämme klettern mußte, die noch von der ersten Überschwemmung dalagen. Er suchte nach dem Wohnboot des Vaters. Am Landungssteg war es nicht. Nur der Fischhalter hing am Steg, im angetriebenen Holz halb verborgen. Es stank nach verwesenden Fischen. Mühsam kämpfte sich Hans auf den festen Damm der Triftleiten.

Keuchend sah er sich um. In der Tiefe des Moorbachsees floß zwischen niedergegangenen Torfböden eine glänzende Wasserader; zerschobene, rissige Torfbänke säumten sie, vielfach bedeckt von gestürzten Erlen, Birken und Weiden, und mitten darin die Reste der alten Pfahlbauten. Wieder ließ Hans den langgezogenen Ruf ertönen: »Va-ter! — Va-ter!« Keine Antwort. Nur von unten das leise, gleichmäßige Rieseln des Moorbaches ...

Am Ufer aufwärts setzte er seine Suche fort. Den Töpferofen fand er von den Schneewässern unterwaschen und auf einer Seite eingestürzt. Als er an den Schmelzofen herantrat, flüchtete aus der gähnenden Höhlung eine Wildkatze. Auf der Moorleiten konnte der Vater nicht sein, sonst hätte er Antwort gegeben.

Die Hoffnung, ihn lebend wiederzufinden, schwand dahin. So aussichtslos es war, ihn der Klamm zu entreißen, wenn er mit den stürzenden Wassern hineingeraten war, Hans wollte es wissen. Er arbeitete sich im zähen Lehm hinunter zum Durchbruch.

Zunächst gelangte er an die alte Eibe, die ihm so oft als Steigbaum gedient hatte, wenn er auf seinem gesicherten Felspfad die Klammhöhe erreichen wollte, wo das Edelweiß wuchs. Jetzt lag der Baumriese mit unterwaschenen Wurzeln quer über dem neuen Schwemmland. Dort, im Schatten der Klammwände, ragte aus dem Gewirr von Wurzeln und Ästen ein dunkles Etwas, plump und flach wie eine Felsplatte, die sich mit einer Seite im Grund festgerammt hatte. Oder war es das Wohnboot des Vaters? Watend, kriechend, kletternd und schliefend drang Hans vor. Da berührten seine Hände die schlüpfrigen Bohlen des Bootes; festgeklemmt und halb umgekippt hatte es seinen Inhalt ins Gewirr des Schwemmholzes entleert. Hansens Puls hämmerte. In seinen Ohren war ein dumpfes Sausen und Schlagen. Mit dem Aufgebot aller Kräfte schrie er in die dunkle Masse der gestauten Wirrnis sein angstvolles: »Vater — Vater!« Keine Antwort kam, kein Stöhnen, nicht einmal der Widerhall seines Rufens von den nahen Wänden. Nur das Gurgeln sickernder Wasseradern im Anschwemmsel und das Rauschen der Ache im Klammtor waren zu hören. Dort unten mochte zerdrückt und erstickt der starke Mann liegen, um den daheim die kranke Frau bangte. Da war es Hans, als käme von der Klammhöhe herab ein klagender Ruf, wie der Aufschrei eines verwundeten Tieres. — Er lauschte angestrengt, er rief, er schrie und lauschte wieder — und vernahm nichts als das Rieseln und Rauschen der Wasser.

Gebrochen an Mut und Kraft schleppte sich der Hoffnungslose heimwärts. Der Mond war hinter den Klammwänden versunken, und vom feuchten Seeboden stieg träge der Nebel auf.

Als Hans in grauer Morgenfrühe daheim nach der Mutter sah, fand er sie schlafend. Wie er ging und stand, warf er sich auf sein Lager und versank in einen traumlosen Erschöpfungsschlaf. Als er erwachte, lag die Stube im grellen Sonnenlicht. Das Bett der Mutter war leer, die Tür offen. Er fand die Mutter, die seit Wochen keinen Schritt getan hatte, auf dem Laubengang kauernd. Wirr hingen ihr die Haare um das blasse Gesicht, ihre Augen suchten die Klammwände ab. Sie schien zu lauschen. Als Hans ihre Schulter berührte, fuhr sie erschrocken herum. Dann fragte sie unvermittelt: »Hast du‘s gehört? Er hat gerufen. Da, jetzt wieder!« Sie übersah die unsagbare Trauer in Hansens Zügen. »Ich hör nichts, Mutter!« Wie im Wahn fuhr sie fort: »Doch, von hoch oben her, wie aus den Wolken.«

Hans sah sie mitleidig an, alle Schlaftrunkenheit war von ihm gewichen. Dann straffte er sich, hob die widerstrebende Kranke empor, trug sie auf ihr Lager, hüllte sie in Felle und eilte hinunter, um die kläglich meckernden Ziegen zu melken und zu füttern; die übervollen Euter mochten sie wohl schmerzen. Als er mit der Milch zur Mutter zurückkehrte, fand er sie im Bett sitzend. Sie machte Miene, es wieder zu verlassen. Unrast hatte sie ergriffen. Ihre Augen glänzten, ihre Wangen waren gerötet. Sie faßte Hans am Handgelenk und rief, ja schrie ihn an: »Was bist du noch da? Geh, geh, und such ihn — oben!« Sie stieß ihn von sich.

Und Hans ging. Er verstaute für alle Fälle im Rucksack ein flaches Milchgefäß zwischen Brot und geräucherten Fischen, wickelte sein starkes Nesselseil, das er beim Klettern im Felsgeklüft zu verwenden pflegte, um die Brust, steckte Beil und Handsäge hinter den Gürtel und trat, den metallbeschlagenen Bergstock in der Linken, vor seine Mutter. Einen Augenblick nur hielt sie seine Rechte mit beiden Händen umklammert, dann strich sie ihm über den Scheitel und schob ihn von sich: »Geh schon, geh mit den Hunden! Ich warte.«

Hans war es, als hätte sie gesagt: »Ich will und kann nicht sterben, ehe ich ihn gesehen habe.« Unten pfiff er den Hunden. Sie waren nicht da. Diesmal nahm er den Weg über die Brunnleiten hart an den Geröllhalden entlang und stieg im Moorbachtal nieder. Auf der Triftleiten angekommen, ließ er wieder seinen schrillen Pfiff ertönen, um die Hunde zu locken. Da, von drüben her, wo die gestürzte Eibe lag, hörte er ein heiseres Bellen, und dann sah er den Lieblingshund Evas, der in langen Sätzen die niedergegangenen Torfflöze des Moores überquerte und kläffend heranstürmte, an ihm hochsprang und ihm die Hände leckte. Dann aber machte der Hund kehrt und strebte, sich immer wieder umschauend, der alten Eibe zu. Hans lief im kiesigen Moorbachbett abwärts, er sprang, daß das seichte Wasser hoch aufspritzte. Er konnte ja nicht wie sein vierbeiniger Führer den kurzen Weg über das Moor nehmen, ihn hätte es nicht getragen. Erst auf dem Umweg über den Glimmerschieferriegel erreichte er die Eibe.

Und hier fand er auch den alten Jagdhund seines Vaters. Er lag als Wächter vor einem Fellstreifen, der als Fußwickel dem Vater gedient haben mochte.

Enttäuscht und gleichzeitig von zager Hoffnung erfüllt, stand Hans vor der gefundenen Spur, die hier Anfang und Ende hatte. Er spornte die Hunde an, ihm in der Umgebung des gekippten Bootes suchen zu helfen, aber sie wollten nicht. Hartnäckig kehrten sie zurück und beschnupperten den Stamm bis zum Gipfel. Das war auffallend, das war deutlich. Hans fiel die Weisung der Mutter ein: »Such ihn oben.« Und plötzlich kam ihm die Erleuchtung. Als die Strömung das Boot bis zur Eibe gerissen hatte, mußte der Steigbaum noch an der Felswand gestanden haben. Da hinauf hatte sich also der Vater gerettet. An den Geländerseilen des Felsensteiges, die Hans einst für sich dort angebracht hatte, mochte er sich emporgehangelt und die Nacht oben im Gewand zugebracht haben. Von ihm also war der Hilferuf gekommen, den er mißdeutet hatte. Ein Frösteln überlief Hans bei dem Gedanken, im Freien auf der kalten Klammhöhe übernachten zu müssen, wo es keinerlei Schutz gab gegen die nächtliche Kälte.

Hans suchte sich im Schwemmholz eine schlanke Lärche aus, hieb sie frei und lehnte sie an die Felswand. Dann stieg er auf. Den Hunden, die ihm ungebärdig nachbellten, warf er von oben zwei geräucherte Fische zu und hangelte sich dann an den Nesselseilen zur Höhe hinauf. Auf der kahlen Hochfläche angelangt, suchte er vergeblich das Gestein nach Spuren ab. Jetzt bedauerte er, keinen der Hunde mit heraufgetragen zu haben. Rufend und suchend drang er vor. Heiß brannte die Sonne auf den kahlen Felsboden, kein Lüftchen regte sich. Der Schweiß drang Hans aus allen Poren, und noch kam auf sein Rufen keine Antwort. Seine Zuversicht schwand, lähmender Zweifel verlangsamte seine Schritte. Was die Mutter gehört hatte, war vielleicht der Schrei eines Geiers gewesen, was sie gesprochen hatte, nur ein Irrereden der Kranken. Und führte die Spur, an der die Hunde hingen, weiter als bis zur gestürzten Eibe? Schwer wie Felsgestein wurden die Füße des Zweifelnden. Sich hinlegen, ruhen, schlafen hätte er mögen und dann erst die Hochfläche nach allen Seiten abgehen, ehe er zur Mutter zurückkehrte, um ihr das Schreckliche zu sagen, das sie nicht glauben wollte. Da sah er unweit eines überhängenden Felsens auf sonniger, kurz bewachsener Halde etwas Dunkles liegen: ein kauerndes Tier? — ein Felsblock? — oder —? Ein freudiger Schreck kam über Hans. Die Müdigkeit fiel von ihm ab, er eilte hin, er lief, er sprang und sank nieder an der Seite seines Vaters.

 

Aber wie sah der aus! Das Gesicht fahl, die Wangen schlaff, und das noch vor zwei Tagen schwarze Haupt- und Barthaar ergraut. Er rührte sich nicht. Sein Atem ging kurz und rasch, und seine Hände waren vor dem Mund geballt, als habe er versucht, sie durch den Hauch zu erwärmen. Die Knie waren an den Leib gezogen, der trotz der Sonne von Kälteschauern geschüttelt wurde. Hans fuhr über die Wange des Gefundenen. Leise, um ihn ja nicht zu erschrecken, flüsterte er ihm ins Ohr: »Vater, Vater! Ich bin‘s, der Hans.« Ein unverständliches Lallen war die Antwort, und enger krümmte sich der Leib des Schlafenden zusammen. Da rief der Sohn in seiner Verzweiflung: »Vater, wach auf, die Mutter wartet auf dich, Eva!« Der Schläfer riß die Augen weit auf. Nun redete Hans laut auf ihn ein, er rüttelte ihn und rieb seine Hände, um ihn wach zu erhalten. Er flößte ihm Milch ein und schob ihm bissenweise Brot und Fisch in den Mund. Der Erschöpfte aß wenig und sank wieder zurück. Seine Knie schlotterten.

In steigender Angst, der Tag könnte vergehen und die schrecklich kalte Höhennacht herreinbrechen, ehe er den Vater heimgebracht hatte, zog der Sohn den Widerstrebenden hoch, legte sich dessen linken Arm um den Nacken, faßte ihn um die Mitte und zwang ihn zum Gehen, den schweren Körper halb tragend, halb schiebend. Schwankend kamen sie voran. Aber die warme Sonne und der zurückkehrende Wille des Verunglückten lösten die Starrheit seiner Glieder. Nach zwei Pausen auf sonndurchglühten Felsblöcken langten die beiden beim Abstieg an. Hans, der seinem Vater nicht die Kraft zutraute, allein hinunterzukommen, band ihm ein Ende seines Kletterseils unter den Schultern um die Brust, schlang das Seil oberhalb der Felskante um einen Föhrenstamm und verlangte von Peter nur, daß er sich mit den Händen am Seil festhalten und mit den Füßen den Abstieg suchen sollte.

Als Peter den Steigbaum berührte, empfingen ihn die heulenden und kläffenden Hunde. An der Eibe sank er nieder und wehrte den Hunden nicht, die ihm wie sinnlos vor Freude Gesicht und Hände leckten.

Hans glitt am hängenden Seil herab.

Auf halbem Wege zum Sonnleitnerhof mußte noch einmal Rast gemacht werden. Noch stand die Sonne über den Klammwänden, aber die Schatten der Bäume lagen lang auf dem Grunde.

Da nestelte Peter die Kette aus Bärenzähnen, Zeugen seiner Siege über die Ungetüme, von seinem Halse, band sie dem Haushund um und jagte ihn mit einer Handvoll Sand heimzu, voraus zu Eva, als Boten seiner Rettung.