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Die Höhlenkinder im Heimlichen Grund

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Verwaist

Dem Gewitterregen folgte ein sonniger Morgen. Wallende Nebel stiegen von der Talsohle an den Hängen empor. Durch die klare Luft drang der vielstimmige Gesang der Ringdrosseln, Wasserschmätzer, Bergfinken, Girlitze und Grünlinge. Peter erwachte. Er rieb sich die Augen und sah die Sonnenpracht um sich her. Dann fiel sein Blick auf Eva, sie lag noch in tiefem Schlafe, eng hingeschmiegt an die Ahnl. Ein quälendes Hungergefühl trieb den Jungen zum Aufstehen. Seine Blicke prüften den reichen Pflanzenwuchs der Umgebung. Im Talgrunde blühten stachelige Männertreustauden und Wegwarten. Waren die Wurzeln auch mager, genießbar waren sie doch. Schon wollte Peter aufstehen, als er eine Rehgeiß gewahrte, die aus dem Jungholz ins freie Grasland trat. Ihr folgten zwei Kitze, deren hellrotbraunes Fell noch weiß getüpfelt war. Sorglos näherten sie sich dem Beobachter. Jetzt bemerkte auch die Ricke den Jungen; sie äugte neugierig herüber, ohne Angst.

Peter durchfuhr der Gedanke: Beschleichen, fangen, töten, essen! Ohne zu überlegen, wie das Wild zubereitet werden könnte, ließ er sich auf Hände und Knie nieder und begann sich anzuschleichen. Er hatte Hunger, wütenden Hunger.

Unter ihm knackte dürres Reisig. Die Ricke sicherte mißtrauisch. Nur ihre nach vorn gerichteten Lauscher verrieten, daß sie aufmerksam geworden war. Klopfenden Herzens und mit angehaltenem Atem kroch Peter näher. Kaum fünf Schritte vor der Ricke duckte er sich zum Ansprung. Da hörte er sie heftig aufstampfen. Plötzlich schnellte sie empor — schon flog sie in langen, bogenförmigen Sprüngen über das Steinfeld und setzte über den Bach, ihr nach die beiden Kitze und hinterher der Jäger. Die Entfernung zwischen ihm und dem Wild wurde größer. Unmöglich, diese Tiere mit den Händen zu fangen! Einen Stein, einen Stein sollte man haben ... Da lagen ja faustgroße Steine genug auf dem Boden! Im Laufen hob er einen auf und stürzte dem Wilde nach. Er rannte sich heiß, nur von einem Gedanken beseelt: töten, töten und essen. Das Wild war im Vorteil. Vertraut mit seinem Revier, schlankbeinig und gelenkig, flog es über den Boden dahin, dem Dickicht zu, das am Waldesrand die Talsohle säumte. Reiser knickten, Zweige rauschten, und fort war es, den Blicken des Verfolgers entschwunden. Peter stürzte in das Dickicht und prallte mit einem Aufschrei zurück. Eine Brombeerranke hatte ihm das Gesicht zerkratzt, und von der tiefen Schramme, die über Nase und Wangen führte, rann das Blut. Der Stein entfiel seiner Hand, Peter wandte sich zum Gehen.

Mit hängendem Kopf kehrte der Jäger auf seinen Spuren zurück. Unterwegs wusch er seine Wunde im Bach und schlenderte mißmutig zwischen den hohen Königskerzen und Weidenröschen dahin, deren Blüten sich in der warmen Vormittagssonne erschlossen hatten. Trotz der schmerzenden Wunde begann er seine Umgebung aufmerksam zu mustern. Der knurrende Magen schärfte seine Augen. Auf dem feuchten Hang über dem Fels entdeckte er reichtragende Heidelbeerstauden; mit beiden Händen stopfte er sich die herbsüßen Früchte in den Mund.

Als der ärgste Hunger gestillt war, begann Peter für Eva und die Großmutter zu sammeln. Aber worin sollte er die Beeren fortbringen? In die hohle Hand ging nicht viel. Vor ihm stand eine Klettenstaude. Rasch pflückte er eines der großen Blätter, steckte die Blattränder mit einem Zweig zu einer Tüte zusammen und füllte sie bis zum Rande.

Als er damit unter dem Felsendach anlangte, fand er Eva noch schlafend an der Seite der Großmutter, die mit blassem Gesicht und mit offenen, seltsam starren Augen dalag. Ihr Kinn war herabgesunken. »Ahnl, schau, Heidelbeeren!« Sie gab keine Antwort und sah an ihm vorbei ins Leere. »Sie wird noch müd sein«, murmelte er vor sich hin.

Er berührte Eva an der Schulter. Die fuhr erschrocken auf. Dann sah sie Peters zerschundenes Gesicht. »Ja, Peterl, wie schaust denn du aus?«

»Die Brombeerstauden haben mich so hergericht't, ein Reh wollt' ich fangen.« Und er reichte ihr die Tüte mit den Beeren. Gierig aß sie davon, dann erhob sie sich.

»Ich geh' mit dir, wo gibt's denn die?«

»Schon recht«, sagte der Bub zögernd, während er mit steigendem Befremden die Großmutter beobachtete. Sie regte sich noch immer nicht.

Daß die Frau, die Peter noch nie krank gesehen hatte, erkranken oder gar sterben könnte, daran hatte er nicht gedacht. Und doch kam ihm jetzt der Gedanke: Am End' ist sie tot? Auch Eva betrachtete ängstlich das starre Gesicht der Ahnl.

Beide begannen, die Leblose zu rütteln, versuchten vergeblich, ihre krampfhaft geschlossenen Hände zu öffnen. Eva legte ihren Arm um den Hals der alten Frau. »Ahnl! — Ahnl!« rief sie bittend. Die Großmutter aber hörte sie nicht. Da kauerten sich die Kinder neben sie und weinten.

In der Klamm war der Ähnl erschlagen und begraben, und vor ihnen lag tot die liebe, gute Ahnl.

Peter faßte sich zuerst. Für Eva mußte nun er sorgen, das wußte er. Eine Wohnung mußte er finden, für sich und für sie, und auch für die Nahrung mußte er sorgen. Vor allem aber durfte er die Tote nicht den Raubtieren überlassen.

Ohne sich um Eva zu kümmern, die zusammengesunken neben der Toten kauerte, machte er sich an die Arbeit. Er kam nicht weit damit. Seine Hände waren zu schwach, der Geröllboden zu hart. Er erinnerte sich seines Messers. Aber das hatte er ja nicht mehr, das war in der Joppe, und die war in der Klamm geblieben.

Da entschloß er sich, die Ahnl dort zu bestatten, wo sie lag, wie sie lag. Er begann Steine herbeizutragen und schichtete sie um den Leichnam auf.

»Was tust du denn?« fragte Eva verstört.

»Die Ahnl begraben.«

Wieder begann Eva zu weinen, sie versuchte, ihm zu wehren. Erst als Peter sie auf die Geier, diese Leichenfresser, hinwies, war sie bereit, ihm bei der traurigen Arbeit zu helfen. Aus Heidelbeerlaub und einem halbverblühten Almrauschzweig machten die beiden ein Sträußlein und steckten es der Toten zwischen die starren Finger; die Augen, deren leerer Ausdruck sie ängstigte, deckte Eva mit Vergißmeinnicht und Weidenröschen zu. Peter nahm einen Stein und grub damit eine Siegwurz aus, er legte sie auf die Herzgegend der Toten, auf daß ihr die bösen Geister nichts anhaben könnten. Den Leib deckten die Kinder mit Moos, Heidekraut und Rasenstücken, dann legten sie noch Steine herum und darauf. Peter sprach leise: »Ahnl, ich dank' recht schön für alles Gute, das du mir getan hast. Mußt dir keine Sorg' machen um Eva. Zum Essen find' ich genug. Die Geißen werd' ich auch finden — und die Höhlen auch. Und für'n Winter werd' ich vorsorgen, wie wir's mitsammen gemacht haben. Und wir bleiben da, die Eva und ich, wir bleiben bei dir. Gelt, du ...« Seine Stimme versagte. Ganz behutsam legten er und Eva weiche Moospolster und flache Steine auf das Gesicht der Verstorbenen. Stumm kauerten sie noch eine Weile am Grab, dann nahm Peter das Mädchen bei der Hand und führte es hinweg von der heilig gewordenen Stätte.

Oberhalb des Grabhügels stiegen sie die Lehne hinauf und aßen Heidelbeeren. Doch bald mußten sie weiter und die Höhle suchen, in der einst die Ahnl gewohnt hatte. Inzwischen sank die Sonne, die Schatten der Bäume wurden länger, und Peter beschäftigte die Frage nach der Unterkunft. Er dachte zurück an den Morgen und erinnerte sich, daß die Ahnl erst bachaufwärts hatte gehen wollen. Dort irgendwo mußten die Höhlen liegen.

Bachaufwärts also stolperten sie über klobiges Geröll und drangen in dichtes Buschwerk. Nur langsam kamen sie voran zwischen Hasel-, Weiden- und Weißdornbüschen, die stellenweise von Waldreben dicht umsponnen waren.

Als Peter mit den Armen das Rankenwerk lockerte, scheuchte er eine gelbbäuchige Bachstelze vom Nest, das samt vier braunscheckigen Eiern ins Gras fiel. Das war eine unverhoffte Mahlzeit; die Eier waren noch frisch, aber viel zu winzig.

Zwei Ringdrosseln, wunderlich anzusehen mit ihren weißen Halsbinden im braunen Gefieder, begleiteten mit scheltendem Schnalzen die Eindringlinge von Busch zu Busch und flogen schließlich auf einen hohen Felsblock, der dort, wo sich der Bach in zwei Arme teilte, baumhoch zum Himmel ragte. Sein grobkörniges, mit Glimmerplättchen durchsetztes Gestein glitzerte in der untergehenden Sonne. Eine alte, hochstämmige Wetterfichte überragte den Fels, an dessen sonnenwarmem Fuß üppige Stauden von Kornelkirschen, Brombeeren und Himbeeren wucherten.

»Den sonnigen Stein wollen wir uns merken«, meinte Peter und zeigte auf den Felsen.

Eva wies auf die Brombeerstauden, die den feuchten Bachrand säumten. In großen Trauben hingen die blau bereiften Beeren zum Wasser nieder, und eine Fülle von rotgrünen, unreifen Früchten und weißen, rosig angehauchten Blüten versprachen noch für lange Zeit reiche Ernte. Das Wasser der beiden Bacharme war um den Sonnstein so seicht, daß die Kinder auf die andere Seite waten konnten, wo der spärlich bewachsene Boden eines Steinfeldes das Weiterkommen erleichterte. Ein Rascheln im dürren Laub des Ufergebüsches erschreckte sie, entsetzt sahen sie eine fast schwarze Schlange durch das kurze Gras gleiten. Sie flohen waldwärts. So vom Bach abgedrängt, betraten die beiden einen uralten Nadelwald, der düster und weitgedehnt den Ausblick auf die dahinter aufsteigenden Felswände nahm. Zwischen starken Fichtenstämmen lagen gestürzte Baumriesen, morsch, von Moos überwuchert.

Die Füße der Vorwärtsstapfenden versanken im feuchten Moder und schwellenden Torfmoos, während ihre Wangen an die üppigen Wedel mannshoher Adlerfarne streiften.

Totenstille ringsum, kein Vogelgezwitscher tönte aus den hohen Baumkronen. Das Dämmern des nahenden Abends wurde im Walde zur schauervollen Finsternis, aus der ein atembeklemmender Modergeruch drang. An ein Übernachten in einem solchen Walde war nicht zu denken.

Erleichtert atmeten sie auf, als sie den Bach wieder erreichten, auf dessen bewegter Fläche die Abendröte einen zarten Schimmer legte. Und schon sahen sie vor sich die Felswand, von deren hellem Gestein sich zackig die Umrisse dunkler Bäume abhoben.

 

Das Bachbett wurde steiler, der Bach lauter. Noch wenige Schritte, und die Kinder standen gebannt: Vor ihnen wölbte sich im hellen Kalkfels ein dunkles, niederes Felsentor, der Ausgang einer Grotte. Und die ganze Breite des Höhlentors nahm eine spiegelglatte Wasserfläche ein, deren tiefes Grün zum Hintergrund hin in Schwarz überging. Stille war's drinnen im Berg, als dehnte sich die regungslose Wasserfläche weit ins Erdinnere. Da war nun eine Höhle, da wäre eine Wohnung gewesen, aber die gehörte dem Bach.

Peter wagte nicht, in der Dämmerung weiterzuforschen. Die Ahnl hatte von Bären erzählt, die da in Höhlen hausten. Schon war die Sonne hinter den Klammwänden verschwunden. Die Kinder sahen einander verzagt an. Sie mußten doch irgendwo übernachten, wo sie vor der Kälte geschützt waren; sie kannten die Nächte im Gebirge. Und Peter sah Evas Augen feucht glänzen vor Bangigkeit. Da wandte er sich dem Walde zu. Ohne lange zu suchen, fand er in der Nähe der Felswand eine riesige Buche, deren Stamm über dem Boden eine Höhlung zeigte, groß genug für Eva, daß sie sich darin zum Schlafe zusammenkauern konnte. Aus Laub und Gras machte er ihr ein Nest und forderte sie auf, sich in die Höhlung zu ducken. Zögernd gehorchte Eva.

Er selbst kroch unter ein Gebüsch am Fuße der Buche, über dessen Zweige sich ein dichtes Gewinde von Waldreben gesponnen hatte. Hier häufte er dürres Laub als Lager und Decke für sich auf. Das war für Eva eine Beruhigung. Lange flüsterte er noch zu ihr hinüber und versprach ihr, morgen ganz gewiß eine schöne Höhle im Gefels zu finden. Als er Eva endlich in Schlaf geplaudert hatte, überfiel ihn wieder die Sorge. Obwohl er sich tief in das Laub eingewühlt hatte, hielt ihn die zunehmende Nachtkälte wach. Er horchte den unerklärlichen Geräuschen und Stimmen des Waldes nach. Ganz nahe bei ihm krabbelte allerlei im Laubwerk, und aus dem Walde drangen von Zeit zu Zeit, das Raunen der Baumkronen und das Rauschen des Baches übertönend, unheimliche Rufe, bald ein tiefes »Pu-hu!«, bald ein hohles, gedehntes »Hu-hu! Hu-hu-huu!« —, das in ein Weinen, Wiehern, Lachen und Jauchzen überging. Peter standen die Haare zu Berge. Er kannte nicht das Locklied der Waldohreule, und seine Phantasie bevölkerte den Wald mit märchenhaften Unholden. Dazu kam seine nicht unberechtigte Angst vor Bären.

Peter tastete den Boden ab und fand bald einen scharfkantigen Stein, den er als Waffe gebrauchen wollte. Mit dem wollte er den Bären mitten auf die Schnauze schlagen. Doch je mehr er sich in den ungleichen Kampf hineindachte, um so geringer wurde seine Zuversicht — ja, er begann am ganzen Leibe zu zittern, als vom Walde herüber das Knistern zerbrechenden Reisigs zu ihm herüberdrang.

Nie im Leben hatte er solche Angst ausgestanden. Sooft er auch mit der Ahnl im Wald übernachtet hatte, in ihrer Nähe war ihm immer sicher zumute gewesen. Er dachte an die Tote und wurde ruhiger, und als sich das Geräusch in der Ferne verlor, löste sich die Angst.

Wohnhöhlen und Steigbaum

Ein nagender Hunger weckte Peter beim Morgengrauen.

Er fuhr sich über die Augen und reckte die steifen Glieder, kroch dann unter dem Busch hervor und schüttelte das anhaftende Laub von sich ab. Das Rauschen des nahen Baches und die verschwommenen Umrisse der Bäume im Morgennebel erinnerten ihn an die Ereignisse des Vortags. Zusehends wurde es heller. Von den armlangen Bartflechten der Fichten tropfte der Tau, eine prickelnde Kühle lag in der Luft. Behutsam beugte sich Peter über Eva. Sie schlief noch.

Er mochte sie nicht wecken. Aber er selbst mußte fort; wenn sie erwachte, wollte sie essen.

Ein brennender Schmerz am rechten Unterarm ließ ihn zusammenzucken, er sah nach und fand eine Zecke, wie sie im dürren Laub häufig sind; sie hatte sich in seine Haut gebohrt. Er wußte recht gut, daß er den Leib dieses Blutsaugers nicht losreißen durfte, weil sonst Kopf und Füße unter der Haut stecken geblieben wären und eine böse Wunde verursacht hätten. Peter griff zum Heilmittel der Ahnl für allerlei Hautübel: Ein Tropfen gelbes, halbflüssiges Fichtenharz auf das Tier gestrichen, mußte es zum Absterben und Abfallen bringen. Er nahm sich vor, mit Salbei, Germer und gelbem Labkraut das Ungeziefer von seinem künftigen Lager fernzuhalten.

Bis zu den Knien stieg er in die kalte, klare Flut des Baches. An zwei große Felsbrocken, die aus dem Wasser ragten, reihte er einen dritten, so daß er, von einem zum anderen springend, den Bach überqueren konnte. Drüben schlenderte er die Berglehne entlang, musterte den spärlich bewachsenen Boden und fand noch wenig entwickelte Blattsterne der Eberwurzdisteln, die hier verstreut wuchsen. Wie oft hatte er sich beim Ziegenhüten die Zeit damit vertrieben, Eberwurzen auszustechen, deren milchreiche Blütenböden nicht nur ihm geschmeckt hatten, sondern auch der Ahnl und der Eva. Die Blüten waren noch geschlossen. Ihre silbrig glänzenden Schöpfe ragten wie dicke Knospen aus dem Strahlenkranz der stachligen Blätter. Mit dem Zeigefinger bohrend und schabend bemühte er sich, eine der Pflanzen aus dem Boden zu holen. Es ging nicht. Die Pfahlwurzel steckte tief zwischen dem Gestein, und die stachligen Blätter ließen sich mit bloßen Händen nicht anfassen. Er sah sich nach etwas Scharfem um.

Unter den Bruchstücken kristallinen Kalkes, die in Menge umherlagen, fanden sich auch kantige Stücke, die aussahen, als wären sie von Menschenhand zugerichtet. Was ihnen an Schärfe abging, mußte der Druck der Hand ersetzen. Bald lag ein Dutzend Eberwurzen vor Peter, genug zum Frühstück für sie beide. Auf einer Felsplatte nahe am Ursprung des Bachs drückte er mit seinem groben Steinwerkzeug erst die Blätter ab, dann schabte er die geschlossenen Blütenblätter von ihren fleischigen Böden.

So fand ihn Eva. Sie kam langsam heran, als fiele ihr das Gehen schwer.

»Na, guten Morgen, Eva, ausgeschlafen?« begrüßte er sie, »was schleichst du denn so?«

»Mir tun die Fuß' so weh, ich glaub', sie sind geschwollen, und Hunger hab' ich. Hast die Geiß nit g'sehen?«

»Die Geiß? Ja, glaubst, die käm' her und ließ' sich melken? Da schau, 's Frühstück wartet schon. Daß du geschwollene Füß' hast, ist kein Wunder; weißt, wie lang du schon die Schuh anhast? Nacht und Tag und Nacht. Zieh sie aus und steck die Fuß' ins Wasser, da wird's dir gleich leichter werden.«

Eva ging zum Bach, doch bald schon kam sie zurück, barfüßig und weinend. Die Schuhe, die hatte der Bach fortgetragen, ganz fort.

»Na, deswegen brauchst du nicht weinen, schau mich an«, tröstete Peter, »jetzt sind wir halt gleich, ich bin schon seit vorigem Winter bloßfüßig.«

Dabei steckte er ihr eine Scheibe Eberwurz in den Mund. Die Sonne war indessen aufgegangen, und der Nebel löste sich vom Boden.

Die Kinder beobachteten zwei Gebirgsbachstelzen, die mitten im Gischt des Wassers auf überfluteten Steinen hin und her trippelten und mit den langen Schwänzchen wippten. Gespannt sahen sie, wie ein Wasserschmätzer im Fluge in den Bach stürzte und nach dem Tauchen unmittelbar von der Wasserfläche aufflog.

Aber die Eberwurzen schmeckten nach mehr. So machte er sich wieder ans Ausgraben und gab auch Eva einen Steinsplitter in die Hand. Das Schaben und Herrichten hatte sie zu besorgen. Obwohl Peter und Eva noch lange nicht satt waren, nahmen sie die Suche nach der Wohnhöhle wieder auf.

Wie groß war ihre Überraschung, als sie vom Ufer aus jenseits des Baches zwei schwarze Löcher in der Felswand gewahrten, groß genug, daß ein erwachsener Mensch aufrecht eindringen konnte. So nah waren sie den Höhlen gewesen! Peter sah sich nach einer seichten Stelle um, nahm Eva huckepack auf und watete durch die Furt. Durch taunasses Buschwerk und hohe Farnkräuter, über Geröll und umgefallene Baumriesen ging es den Höhlen zu.

Da, hinter den Bäumen stieg die Wand schräg auf zu der unteren Höhle, die sich gut zwei Mannslängen hoch über dem Boden auftat. Unter ihr war eine glattgeschliffene Rinne im Fels. Aha — da war der Bach früher einmal aus dem Berg herausgeflossen, bevor er sich im weichen Kalkfels einen tieferliegenden Weg ausgewaschen hatte!

Aber wie zu den Höhlen hinaufgelangen? In der glatten Rinne ging es nicht, und die nächsten Bäume standen nicht nahe genug.

Da fiel dem suchenden Peter eine abgestorbene armdicke Fichte auf — die gäbe einen Steigbaum ab, die wollte er hinüberlehnen! Der erste Versuch, den toten Baum zu brechen, gelang. Die Fichte knackte eine Handspanne über dem Erdboden ab. Aus dem morschen Strunk wimmelten Ameisen hervor, die ihre Wohnkammern ins tote Holz genagt hatten.

In die Rinne gelegt, bot der Baumstamm mit seinen Astquirlen Halt genug für Hände und Füße. Nach kurzem Klimmen hatte Peter die untere Höhle erreicht.

Mit klopfendem Herzen trat er ein. Sein erster Gedanke waren die Bären. Aber der Lehmboden zeigte keine Tatzenabdrücke, die Höhle war unbewohnt. Und Peter konnte darin aufrecht umhergehen. Seine Füße wateten in trockenem, lehmigem Sand, der mit Steinen, Vogelmist und vermodertem Laub untermischt war. Das mochte wohl der Wind hereingeweht haben. Peter forschte weiter. Seine Augen gewöhnten sich an das Dämmerlicht. Bald konnte er Einzelheiten unterscheiden. Auf der dünnen Sinterschicht der Wände lag ein Hauch von Ruß; nur wo der blättrige Sinter abgebröckelt war, schimmerte der helle Kalkfels hervor. Hier also hatte die Ahnl gehaust! Nach links hin hob sich der Boden. Dort führte ein schmaler Spalt aufwärts zur zweiten Höhle, die sie von außen bemerkt hatten. Ein anderer Gang senkte sich rechts zum Quellsee, aus dem der Bach kam. Dieser Teil der Höhle war dunkel und kalt. Der linke aufsteigende Gang verengte sich zu einem schmalen Schlot.

Knie und Ellbogen gegen die Wände gestemmt, arbeitete sich Peter hinauf.

Sein Eintritt in die zweite Höhle verscheuchte eine Schar Felsentauben, die in überstürzter Flucht durch die hohe Öffnung abflogen. Der Raum war ganz trocken und in seinem vorderen Teil hell. Nach hinten verengte er sich zu einem schmalen, stockfinsteren Loch, das schräg aufwärts führte und sich im Innern des Bergs verlor. Dorthin konnte Peter nicht vordringen. Fledermäuse flatterten auf und suchten erschrocken das Freie. Die obere Höhle war viel schmäler als die untere. Da sie aber heller war, machte sie einen wohnlicheren Eindruck. Durch das Lichtloch schimmerte das Grün der nahen Baumwipfel. Peter war geblendet von der Fernsicht. Zwischen den Wipfelzweigen der Bäume sah er bis zu den rosig überhauchten Klammwänden und noch weiter auf ferne Gipfel, deren Firnfelder im Alpenglühen flammten. Weit beugte er sich über die steile Wand hinab zu Eva, die unverwandt zur unteren Höhle schaute.

»Everl!« jauchzte er, »das Kammerl ist gut!«

Eine rasche Kopfwendung — sie hatte ihn entdeckt. Ein Lächeln flog über ihr Gesicht. Eilig kletterte sie den Steigbaum empor und stand, von Peter durch den Spalt gezogen, im Nu neben ihm. Ihr erster Blick galt dem Grün vor der Luke. Ohne den schmutzbedeckten Boden zu betreten, meinte sie: »Sauber auskehren muß ich wohl!«

Und als wäre es ein Spiel, sagte sie: »Das ist mein Kammerl, gelt?«

»Ja, freilich.« Peter war gleich einverstanden. »Das wirst aufräumen, gelt? Du wirst heroben hausen und ich drunten. Wenn ein Bär kommt, kriegt er's zuerst mit mir zu tun.« Er sagte dies recht zuversichtlich, aber innerlich war ihm nicht recht wohl dabei.

Mit geschicktem Daumendruck öffnete Eva ein Taubenei und wollte es an die Lippen führen. Aber es war schon bebrütet. Ein zusammengekauertes Vögelchen mit übergroßem Kopf und plumpen Füßen lag schlummernd darin. Enttäuscht legte sie es weg. Mehr als die Hälfte der Eier war in diesem Zustande, vom Rest waren die meisten ungenießbar.

»Weißt Peter, was dazu gut wär'?« meinte Eva, als sie ihr letztes geschlürft hatte.

»Freilich weiß ich's — und ich wollt', ich hätt' die Ahnl danach gefragt — Salz fehlt. Das wird uns noch stark abgehen. Ob's überhaupt da herin Salz gibt? Wenn der Ähnl noch da wär', der wüßt's vielleicht zu finden. Der hat uns ja immer die Salzsteine gebracht.«

Ach, die Ahnl und der Ähnl! Die beiden Kinder waren sich wieder ihrer Verlassenheit bewußt geworden. Aber die Gegenwart nahm ihre Aufmerksamkeit bald ganz in Anspruch. Die Höhlen mußten erst wohnlich werden. Mit einem Fichtenzweig versuchte Eva, sie auszukehren, aber das ging nicht so recht mit dem einfachen Zweigbesen. Peter schnürte mit einer Waldrebenranke drei Zweige zu einem buschigen Besen, das erste Gerät für die neue Hausfrau.

 

Das nächste war die Herstellung der Lager. Dazu war viel Reisig, Laub und Moos nötig, Dinge, die nur der Wald liefern konnte. Über ein ausgetrocknetes Bachbett und einen schmalen Wiesenstreifen gehend, gelangten die beiden an den Waldrand. Während Eva mit den Händen Laub zusammenrechte und Moos vom Boden löste, stöberte Peter im Jungholz, brach dichtbelaubte Buchen- und Eschenzweige ab und versäumte nicht, Schößlinge von Bergholunder, Salbei, Lavendelstauden, Germer und Labkraut zu sammeln und im Sonnenschein auszubreiten. Diese Kräuter sollten, ins Lager eingelegt, das Ungeziefer fernhalten. Dann holte er von der Berglehne einige Arme voll verblühter Alpenrosenstauden, deren federndes Gezweig das Lager locker machen sollte.

Mit Vorbedacht ging Peter nun ans Werk, Evas Bett zu richten. Erst legte er eine Schicht Reisig auf den Boden, darüber kamen Alpenrosenstauden und Schutzkräuter, dann Laub und Moos. Als er fragend zu Eva aufschaute, nahm sie seinen Kopf zwischen beide Hände und gab ihm einen herzhaften Kuß.

Er wandte sich zur unteren Höhle. »Everl, jetzt hilf mir, mein Bett richten.«

Die Sonne stand hoch am Himmel, ihr Licht fiel in die Höhle; von außen drang der warme, würzige Duft der Fichtenwipfel herein und das Zwitschern der Meisen und Girlitze in den Baumkronen. Tröstlich war das.

Als die beiden sich nach getaner Arbeit in die Lichtluke lehnten, erblickten sie auf dem untersten Ast eines Ahorns ein graues Eichhörnchen, das von einem nahen Zweige die geflügelten, noch unreifen Früchte erntete und mit seinen Nagezähnen flink öffnete. Die ausgekörnten Samenflügel ließ es hinunterwirbeln.

Peter lag die Sorge für das nächste Essen näher als das Treiben des zierlichen Tierchens, das, knapp zwei Armlängen vor ihm, leicht erreichbar schien. Mit einem faustgroßen Stein traf er es so wuchtig im Genick, daß es tot zu Boden stürzte.

Das Abhäuten der Beute aber machte Schwierigkeiten. Nach einigen Versuchen gab es Peter vorläufig auf und verwahrte seine Beute unter einer Steinplatte im Hintergrund seiner Höhle. Er mußte einen Hartstein finden, der wie ein Fuchszahn die Haut zerschnitt.

Je länger er nachdachte, um so stärker drängte sich die Frage auf: Wenn in dem Talkessel überhaupt keine Hartsteine wären, wie sollte er schneiden, womit sich und Eva gegen die Bären verteidigen?

Er hoffte, im Geröll auf einen scharfen Hartstein zu stoßen. Eva blieb an seiner Seite. Aber scharfkantige Steine gab es hier nicht; alles war vom Rollen im Wasser rundgeschliffen und mußte von weither aus dem Berg stammen. Diese runden Steine drängten sich förmlich als Wurfgeschosse auf.

Spielend nahmen die beiden einzelne Steine in die Hand, zielten auf herumliegende Felstrümmer und freuten sich, wenn die geworfenen Steine beim Aufschlag in Splitter zersprangen. Mit solchen Splittern beschäftigte sich Eva eine Weile und warf sie dann weg. An einem spannenlangen, blattdünnen Stück, das schaligen Bruch zeigte, fiel ihr die schöne grünliche Färbung, die Glätte und Schärfe der Ränder auf. Die Form dieses zufällig scharfgewordenen Splitters verlockte geradezu, seine Schneidefähigkeit zu prüfen. Noch immer spielend, köpfte Eva damit Disteln und Kletten.

Da sprang Peter auf sie zu, nahm ihr den Steinsplitter aus der Hand und versuchte ihn zunächst an seinem Daumen und dann an einem Stück Schwemmholz. Der Stein schnitt besser, als Peter gehofft hatte.

Erregt forderte er die erstaunte Eva auf, fleißig nach solchen Steinen zu suchen, er brauche sie. Und Eva ging, um ein anderes Gebiet zu durchstöbern. Jetzt fielen auch Peter genug Hartsteinknollen auf, schöne glatte Steine, die einen braun, andere rot, wieder andere grünlich, schwärzlich, gelblich und hornfarben. Stücke waren darunter so groß wie Männerfäuste, manche sogar von der Größe eines Kinderkopfes. Was er davon in den Armen tragen konnte, schleppte er mit sich. Neben einem Felsblock legte er seine Ausbeute an Hartsteinen nieder und machte sich daran, sie zu bearbeiten.

Er schleuderte einfach jeden Knollen mit aller Kraft gegen den Fels und las dann die weitverstreuten Bruchstücke auf. So entstanden durch Zufall allerlei Brocken und Splitter, die erst geprüft werden mußten, wozu sie taugen mochten; einzelne waren sofort gebrauchsfertig. Da gab's längliche Stücke mit schneidenden Rändern, andere mit langen, scharfkantigen Spitzen, und flache, die sich leicht zwischen Daumen und Finger halten ließen, wenn es etwas zu schaben gab; aber auch grobe, keilförmige Fauststücke zum Hauen und Hacken waren dabei. In der Notlage eines Menschen ohne Metallwerkzeuge war Peter auf die Hartsteine angewiesen. Kein Wunder, daß ihn die Formen der Stücke überlegen ließen: Wozu taugen sie am besten? Manche brauchte er nur in die Hand zu nehmen, und schon fühlte er sich versucht, damit zu hauen, zu stechen, zu bohren oder zu schneiden. Peters Freude über die reiche Ausbeute an Hartsteinbrocken war so groß, daß er, ein faustgroßes Stück aus schieferigem Quarz in der Rechten schwingend, wie ein Wilder herumsprang, drohende Schreie ausstieß und nach allen Seiten in die Luft stach, als hätte er es mit einer Schar Feinde zu tun.

Eva meinte, er habe eine Tollkirsche gegessen und schrie ihn an: »Peter! Peter! Was hast denn? — Hast 'leicht Schwindelbeer gegessen?«

Mit rollenden Augen trat er an sie heran, hielt ihr den Fauststein unter die Nase und prahlte: »Jetzt können die Bären kommen!«

Eva atmete erleichtert auf und zeigte ihm, was sie gefunden hatte: einen spindelförmigen, hornfarbenen Hartstein, so groß wie eine ausgewachsene Mohrrübe; ein zweizinkiges Rehgehörn, das wohl seit dem vorigen Herbst im Gras gelegen hatte; es war auf einer Seite gebleicht. Peter tat einen langen Pfiff.

»Eva, du hast heut die Augen offen! Das hat ein Gabler abg'worf en!«

Entzückt betrachtete er das Rehkrickel, drehte es hin und her und fand endlich, daß es, unter der Rose gefaßt, ein prächtiges Werkzeug zum Stechen und Graben abgab.

Aber wie sollten die vielen Dinge heimgebracht werden ?

»Ein Korb tat not! Eva, du hast ja schon früher allerhand g'flochten, versuch's wieder.«

»Ja, du mußt mir halt Ruten schneiden, junge Weidenschößlinge, recht biegsame«, sagte Eva.

Nun mußten aber die gefundenen Sachen verpackt werden, so gut es ging.

Große Pestwurzblätter, mit Reisern unterlegt, ließen sich zum Einwickeln gebrauchen und Weidenrutenrinde zum Binden. Eva suchte angestrengt nach einem zweiten abgeworfenen Rehkrickel; aber nur die kleine Stange eines Spießers fand sie noch; die behielt sie zum Wurzelgraben. Peter handhabte mit wahrer Lust bald sein bestes Steinmesser zum Abschneiden von Weidenschößlingen und Waldrebenranken, bald die Gehörnstange zum Ausgraben von Wurzeln; davon sammelte er soviel, daß sie nicht zu hungern brauchten, wenn es regnete.

Dann wanderten sie auf dem Pfad, den sie sich vor kurzem gebahnt hatten, langsam der Höhle zu. Sie gingen in ihrer alten Spur zurück und traten sich so den ersten Pfad aus, den Erntepfad.

In ihrer Freude war es ihnen entgangen, daß sich der Himmel bewölkt hatte, und sie waren überrascht, als sie die ersten Regentropfen spürten. Gehörig durchnäßt erreichten sie ihr neues Heim.

Fröstelnd wühlten sie sich in ihre Liegestätten ein und ließen in Gedanken die Ereignisse der letzten Tage an sich vorüberziehen. Da fiel es Peter ein, daß Ahnl und Ähnl am Freitag gestorben waren. Er schlug vor, den nächsten Tag als ersten Sonntag, den sie im Heimlichen Grund verbracht hatten, und jeden wiederkommenden siebenten Tag mit einem langen Ritz an der Höhlenwand über seinem Lager zu bezeichnen. Kleinere Ritzmarken dazwischen sollten die Werktage angeben. Und jeder Sonntag sollte ein Ruhetag sein, wie in Ahnls und Ähnls Zeiten.