Hungerkur und Gänseblümchen

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Hungerkur und Gänseblümchen
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Sonja Reineke

Hungerkur und Gänseblümchen

Die Fortsetzung zu Johanniskraut und Schokolade

Dieses ebook wurde erstellt bei

Inhaltsverzeichnis

Titel

Rechtliche Hinweise

Das Richtige

Cecilia: Die zweite Chance

Lorena: Vorbereitungen

Maja: Der ewige Hunger

Lorena: (Un)happy Birthday

Cecilia: Hemmungen

Sabine

Lorena: Ein schwarzer Tag

Maja bekommt Prügel

Unterschlupf bei Cecilia

Abschied von Sascha

Lorena: Abgeschoben

Cecilia: Das Besäufnis

Sabine und Herr Madsen

Maja: Heimatlos

Cecilia: Gestörte Zweisamkeit

Lorena: Im Ganymed

Sabines Entscheidung

Maja: Klotz am Bein

Lorena: Der Lügner

Sabine: Einkäufe

Lorenas Abgang

Cecilia und Maja: Dreck

Sabines Versprechen

Lorena: Reisepläne

Maja: PRT tut nicht weh.

Sabine: Die Hungerkur

Mit Werner im Ganymed

Impressum neobooks

Rechtliche Hinweise

Copyright: Sonja Reineke/M. Buchheim. Alle Rechte vorbehalten. Die Weiterverbreitung ist auch in Auszügen nur mit ausdrücklicher Genehmigung der Rechteinhaber gestattet.

Keine der hier benutzten Namen oder Personen die haben einen realen Bezug. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sowie ähnlich klingende oder existierende Namen sind rein zufällig. Auch die Handlung ist nur ein Produkt meiner Phantasie.

S. Reineke

Das Richtige

„Beeil dich, Ceci, wir hätten schon vor zwanzig Minuten losfahren sollen!“, rief Lorena und sah wieder vorwurfsvoll auf die Uhr, was aber keinerlei Effekt auf die völlig abgehetzte Cecilia hatte, da die schon seit Längerem stöhnend auf der Toilette hockte.

„Ich komme ja gleich“, erklang matt ihre Stimme durch die geschlossene Tür.

„Was hat sie denn nur“, fragte Maja besorgt.

„Entsetzlichen Durchfall hat sie“, erwiderte Lorena sachlich, aber nicht sachlich genug. Maja fuhr erschrocken zurück, als ein dumpfer Knall kundtat, dass Cecilia ihre Haarbürste gegen die Tür geworfen hatte. Lorena kicherte boshaft.

„Steh dazu, das passiert bestimmt jeder Braut. Andere kriegen kalte Füße, du kriegst eben

` nen heißen Arsch. Mach dir nichts draus, außer uns weiß es ja niemand. Aber wenn du dich weiter so aufführst, setze ich es noch nachträglich in die Hochzeitszeitung.“

„Wage es nur! Dann reiße ich das Mikro an mich und rappe spontan über dich und deine Liebschaften!“ Das Rattern der Klorolle in der Halterung nahm dem Vortrag viel von seiner Wirkung.

„Mach ruhig! Niemanden wir das schockieren. Wir leben ja nicht mehr im Mittelalter. Jetzt sieh endlich zu, dass du deinen Darm unter Kontrolle bekommst, wir müssen los! Flori wird noch denken, dass du ihn doch nicht willst. Und dann nehme ich ihn mir mal so richtig vor. Danach ist er nie mehr derselbe.“

Maja, die noch einmal ihre komplizierte Hochsteckfrisur vor Cecilias Flurspiegel kontrollierte, brach in Gelächter aus. Das Telefon schrillte durch das Haus. „Ich gehe schon“, rief Maja und stöckelte die Treppe hinunter, weil das Telefon mal wieder im Wohnzimmer herumlag. Bald darauf kam sie an den Fuß der Treppe und erklärte: „Florian ist dran. Er ist in Panik und verlangt zu wissen, warum noch niemand von uns da ist. Cecilia scheint er dabei am meisten zu vermissen. Wenn wir nicht bald losfahren, wird aus der Hochzeit wohl nichts mehr.“ Lorena nickte zu ihr herunter und klopfte noch einmal an die Badezimmertür.

„Ja, ja, JA! Ich bin ja schon fertig! Fahrt schon mal den Wagen aus der Einfahrt und stellt ihn vors Haus!“, schrie Cecilia entnervt. Gleich darauf erklang die Klospülung. Dann noch einmal. Bald darauf öffnete sich die Badezimmertür, und Cecilia stürmte auf Lorena zu, die schon seit geraumer Zeit den Schleier hielt.

Lorena verkniff sich noch eine Stichelei und sah Cecilia wehmütig an. Noch nie hatte sie eine hübschere Braut gesehen. Cecilia hatte das weite Tüllkleid mit beiden Händen gerafft und sah erhitzt und gestresst aus. Trotzdem glich sie einer Prinzessin aus einem Märchen, die gleich ihren Prinzen heiratete. Ihr Kleid zeugte von einem guten, aber auch romantischen Geschmack. Das Mieder war eng und presste den Busen nach oben und stauchte die Taille zusammen. Die Ärmel waren aus weißer Spitze. Schultern und Dekolletee blieben unbedeckt und gaben den Blick auf ihre perfekte, milchige Haut frei.

Das Haar hatte eine Friseuse kunstvoll auf dem Kopf festgesteckt. Es wartete nur noch auf den Schleier.

„Oh, Ceci…“, seufzte Lorena und warf sich der völlig genervten Freundin an den Hals, „du siehst so schön aus!“

Cecilia lächelte dünn. „Ja, schon gut. Danke. Lass uns jetzt losfahren, sonst müssen wir wohl in Dänemark heiraten.“

„Das tun doch viele. Was hättest du dagegen? Sabine und Anders würden dir da sicher helfen“, schnaufte Maja, die mit dem Telefon in der Hand die Treppen heraufkam.

„Ich hätte dagegen, dass ich schon ein Vermögen für die Feier ausgegeben habe. Wenn sich schon seine und meine Familie, nebst Freunden und anderen Parasiten ...“, Lorena schubste sie ein Stück auf die Treppe zu. „Aua! Ist doch wahr … also, wenn die sich schon auf meine Kosten durchfressen, dann aber nicht ohne Grund. Also müssen wir vorher noch heiraten.“ Cecilia legte eine Hand auf den Knauf des Treppengeländers, die andere presste sie plötzlich auf ihren Magen. „Oh! Mein Bauch! Ich muss schon wieder!“ Sie drehte sich auf dem Absatz um und stürzte an Lorena vorbei zurück ins Bad.

„Oh nein!“, jaulte Maja. Lorena presste die Lippen zusammen, rannte die Treppen herunter, und die irritierte Maja hörte bald darauf einen Motor anspringen und einen Wagen wegfahren.

„Cecilia? Beeil dich lieber. Ich glaube, Lorena ist losgefahren, um sich den Bräutigam zu schnappen, weil er wie bestellt und nicht abgeholt vor dem Standesamt steht.“

„Das soll sie nur wagen“, keuchte Cecilia dumpf hinter der geschlossenen Tür, „dann zwinge ich sie beim nächsten Durchfall, hier mit mir auszuharren. Das überlebt niemand.“ Maja verzog das Gesicht.

„Ich gehe mal eben runter, okay?“, rief sie angewidert und wartete die Antwort gar nicht erst ab. Unten setzte sie sich in das kleinere Wohnzimmer und wartete. Bald darauf kam Lorena zurück, hielt mit quietschenden Reifen vor dem Haus, sprang aus dem Auto und rannte auf das Haus zu. In ihrer Hand hielt sie eine kleine Plastiktüte mit dem vertrauten roten Apothekensymbol. Maja atmete erleichtert auf. Lorena fegte zur Tür herein und jagte die Treppe hoch. Oben angekommen klopfte sie ungeduldig an die Tür.

„Ceci? Ich habe eine Packung Durchfalltabletten gekauft. Du nimmst jetzt sofort zwei Stück mit reichlich Wasser ein, ist das klar?“

„Zwei Stück? Ist das nicht ein bisschen viel?“, klagte Cecilia.

„Dann kannst du eben erst in Dänemark wieder kacken, wen interessiert das? Was ist dir wichtiger, eine Verdauung wie ein Uhrwerk oder die Liebe deines Lebens?“

„Darüber müsste ich erst mal nachdenken“, kicherte Cecilia. Lorena verlor die Geduld. „Maja!“, brüllte sie, „hol mal ein Glas Wasser, bitte! Unsere Braut braucht ein bisschen Hilfe.“

Maja kam kurz darauf mit einem Glas Wasser die Treppe herauf.

„Und wer geht jetzt da rein und gibt ihr das?“, flüsterte sie ängstlich. Aber Cecilia hatte sie trotzdem gehört.

 

„Das Fenster ist doch auf! Jetzt gebt mir schon das Glas!“

„Wir könnten ja Strohhalme ziehen“, schlug Maja vor.

Lorenas Gesicht nahm den Ausdruck eines Generals kurz vor der entscheidenden Schlacht an. „Ich gehe rein“, sagte sie zu allem entschlossen und griff nach dem Glas. Sie straffte die Schultern und öffnete die Tür. Maja schlug sie schnell hinter ihr zu.

Nach nicht mal fünf Sekunden kam Lorena wieder raus, etwas grünlich um die Nasenspitze.„Was hat die bloß gegessen?“, flüstert sie Maja zu, „das gehört eigentlich auf die Sondermülldeponie. Die armen Ratten in der Kanalisation!“ Wieder krachte irgendetwas an die Tür.

„Ist doch wahr!“, rief Lorena. „Los jetzt, auf der Sparrenburg gibt es auch Toiletten. Dann findet die Zeremonie eben dort statt, und der Beamte und Florian müssen mit rein. Dann wird sich zeigen, ob ‚in guten wie in schlechten Zeiten’ auch wirklich sein Ernst ist.“

Wieder rauschte die Klospülung, und wenig später stieß Cecilia zu ihnen. Sie trank noch ein halbes Glas Wasser und stieg mit den beiden zusammen vorsichtig die Treppe herunter. Lorena atmete erleichtert auf, als sie den Motor startete und losfuhr. Hoffentlich musste sich Cecilia nicht unterwegs ins Gebüsch flüchten. Sie warf einen kurzen Seitenblick auf Cecilias Gesicht. Angespannt sah es aus. Nicht gerade wie eine glückliche, errötende Braut. Eher bleich und übernächtigt. Dabei hatte der Zickenzirkel nur bis ein Uhr nachts den Abschied vom Singledasein gefeiert. Anscheinend hatte Cecilia nur wenig Schlaf gefunden. Also war sie sich trotz allem doch nicht so sicher. Ihre nächste Frage bestätigte Lorenas Verdacht: „Ich tue doch das Richtige … oder?“ Sie warf Lorena einen ängstlichen Blick zu und drehte den Kopf kurz zu Maja herum, die hinten saß und daraufhin düster in den Rückspiegel sah, wo sich ihre und Lorenas Augen trafen. Das fing nicht gut an.

Beide hegten den Verdacht, dass Cecilia mit dieser Hochzeit einen ganz anderen Plan verfolgte, und das konnte einfach nicht gut gehen. Dabei war Florian der liebste und netteste Mann, den man sich vorstellen konnte. Selbst Lorena fand das. Und nun ... Dabei hatte alles so schön begonnen. Jedenfalls für Cecilia, der das Glück nicht mehr von der Seite wich.

Cecilia: Die zweite Chance

Ein Jahr zuvor

Eine Woche war seit dem Grillfest vergangen, und Cecilia schaufelte die erkaltete, infolge des Regens glitschige Asche aus dem Grill. Kalt war es hier draußen, aber sie hatte nicht die Absicht, den Grill bis ins Frühjahr hier hinter der Garage stehen zu lassen. Was Ordnung und Sauberkeit betraf, war sie eisern. Wenn sie in diesem riesigen Haus mit dem monströsen Garten einmal in den Schlendrian verfiel, dann war es vorbei. Dieses Haus von Grund auf zu säubern dauerte mindestens eine Woche, Zeit, die Cecilia nicht hatte. Es gab viel zu tun, viel zu schreiben, Interviews zu geben und Autogramme in Bücher zu kritzeln.

Im Flur hing eine Magnettafel mit Wochentagen. Mit Magneten pinnte Cecilia jeden Tag ein Bild, das sie aus Einrichtungskatalogen ausgeschnitten hatte, an einen Wochentag: eine Schrankwand für das Wohnzimmer, eine Toilette für die Badezimmer, wobei eine zusätzlich angebrachte Badewanne für das große Bad im Erdgeschoss stand, ein Herd für die Küche, ein Fernsehsessel für ihr Kino und ein Totenschädel für ihr Arbeitszimmer.

Jeden Tag putzte Cecilia ein Zimmer und war dabei gnadenlos. Egal, ob sie Lust dazu hatte oder nicht, ein Zimmer wurde von oben bis unten gewienert. Und nachmittags war der Garten dran, auch wenn das jetzt im Winter kein Problem darstellte. Nur der Grill und der Unterstand mussten etwas aufgeräumt werden, wegen der Einweihungsparty, die sie hier gefeiert hatten. Sie, Lorena und Maja. Danach hatte sie Zeit für sich.

Einsam fühlte sie sich nicht in dem großen Haus, aber manchmal etwas verloren. So viele leere Räume. Die Stille machte sie ab und zu etwas melancholisch, und dann dachte sie an Hagen.

Seit ihrer Standpauke hatte er sich nicht mehr gemeldet, aber was ihr am meisten wehtat, war, dass sie ihn online bei einer Seite entdeckt hatte, über die man sich kennenlernen und verabreden konnte, bei Viareddel. Es hatte Cecilia empört zu sehen, dass er sich als Geschiedener ausgab und auf seinem Profil schrieb, dass er „nach einer großen Enttäuschung auf der Suche nach der wahren Liebe war“ und dann schrieb er noch in dem Versuch, romantisch zu sein, darunter: „Wo bist du …? Lass mich nicht länger warten!“

Jeden Tag schaute Cecilia nach, kontrollierte die Einträge in seinem Gästebuch und warf böse Blicke auf die Profile der Frauen, die sich darin verewigt hatten. Schon mehrere Male hatte sie versucht, sich in Hagens Profil hineinzuhacken, aber sein Passwort widerstand allen Versuchen.

Natürlich war es dumm von Cecilia, dumm und peinlich. Peinlich genug, weder Lorena noch Maja davon zu erzählen. Noch peinlicher war es ihr, dass sie ein eigenes Profil angelegt und mit einem Foto aus einem Versandkatalog versehen hatte, damit Hagen nicht bemerkte, dass sie es war. Sie wollte wissen, ob er sie eines Tages ansprechen würde.

Der Gedanke war ihr beinahe unerträglich, dass er dort Beute machte und regelmäßig mit diesen Frauen das tat, was er auch mit ihr gemacht hatte. Sie liebte ihn noch, und sie befürchtete, dass sich das auch nicht mehr ändern würde.

Cecilia rollte den Grill wieder an seinen Platz, wischte den Tisch und die Bänke ab, und wanderte zu ihrem Haus zurück. Verwundert bemerkte sie ein kleines, verwegen lackiertes Auto vor ihrer Einfahrt.

Sie erschrak, als sie um die Ecke bog und ein blonder Mann vor ihrer Hintertür stand. Für den Bruchteil einer Sekunde schoss wilde Freude in ihr hoch: Hagen! Aber er drehte sich um, und es war Florian.

„Flor … wie kommst du denn hierher?“ Cecilia ließ vor Schreck den Lappen fallen. Schnell kam er zu ihr.

„Cecilia … ich klingele bestimmt schon zehn Minuten an deiner Haustür.“

„Ich war im Garten …“

„Ja, sehe ich jetzt auch.“

Betretenes Schweigen.

„Cecilia …“, nervös trat Florian von einem Fuß auf den anderen, „ich weiß, es war total scheiße von mir, an dem Abend einfach nicht aufzutauchen. Dafür gibt es auch keine Entschuldigung. Keine Einzige. Ich hätte zumindest zum Restaurant kommen und dir dort meine Bedenken unterbreiten müssen. Man versetzt nicht einfach eine Frau, so eine wunderbare wie dich schon mal gar nicht.“

Cecilia schwieg. Der Wind wehte ihr das Haar aus dem nachdenklichen Gesicht.

Florian wurde noch nervöser. „Du musst dich nicht jetzt entscheiden, ob du mir Idioten noch eine Chance einräumen willst, aber ich möchte dich bitten, zumindest darüber nachzudenken. Ich kann dir versprechen, dass das nie mehr passieren wird.“

Cecilia seufzte. „Solche Versprechungen kenne ich, Florian. Aber was ein Mann einmal macht, macht er wieder. Lorena sagt das auch immer. Warum hast du nicht einfach mit mir darüber geredet? Sogar dein Handy war aus. Weißt du, was für ein beschissenes Gefühl es ist, in einem Restaurant zu sitzen und zu warten?“

„Ich war total durcheinander! Mein Onkel hat auch zu mir gesagt, wir sollen das alles ganz langsam angehen.“

„Ja, schon. Aber die eine Partei zu versetzen, ist nicht wirklich ein kluger Schachzug, und langsam wäre das sowieso abgelaufen. Ich wollte mich nicht in eine neue Beziehung stürzen, weißt du. Ich wollte dich bloß kennenlernen.“

Florian sah sehr unbehaglich drein. „Ich sagte ja schon, es gibt keine Entschuldigung für mein Verhalten. Kann ich dich heute Abend einladen?“ Er sah sie so bittend an wie ein Hundebaby, und Cecilia spürte ein Lächeln ihre Mundwinkel heben. Florian sah es und wirkte erleichtert.

„Weißt du, Florian … jetzt bist du schon hier, wir machen uns den Stress gar nicht erst, sondern bestellen ` ne Pizza und gucken einen Film zusammen. Wir wollten doch erst mal Freunde sein? Genau das pflege ich mit Freunden zu tun.“

„Gern. Danke, Cecilia, für die zweite Chance.“

„Komm mit rein.“

Lorena: Vorbereitungen

Lorena wusste nicht, wo ihr der Kopf stand. Heute wurde Jacqueline siebzehn und hatte ihre Großeltern eingeladen.

Für gewöhnlich musste Lorena mit Jacqueline, oder noch besser Jacqueline alleine, bei den Draschoffs antanzen. Denn die setzten fast nie einen Fuß in das Haus ihrer Tochter, die sie ja so sehr enttäuscht hatte.

Jacqueline machte das nichts aus, sie ging Omi und Opi gerne alleine besuchen, denn dann konnte sie unbekümmert die Hand aufhalten. An diesem Geburtstag jedoch war irgendwie alles anders. Lorena wunderte sich sehr darüber. Schön, wenn Jacky achtzehn wurde, dann konnte sie ja eine gigantische Party schmeißen, aber warum für den siebzehnten Geburtstag? Darauf bestanden hatte sie. Und ihre Mutter wie immer vor vollendete Tatsachen gestellt, indem sie die Einladungen am Computer erstellt, ausgedruckt und per Post verschickt hatte. Und Lorena hatte die ganze Arbeit.

Jetzt stopfte sie die guten Tischtücher in die Waschmaschine, fügte noch so ein Oxyzeug aus der Werbung hinzu, und stellte die Maschine an. Davor stand noch ein Korb mit Jackys Schmutzwäsche und Lorena presste wütend die Lippen zusammen. Das Gör war alt genug, aber dieser Korb stand schon seit über einer Woche hier und staubte langsam ein. Warum wusch Jacqueline ihre Klamotten nicht selbst?

Es machte Lorena zudem unruhig, dass ihre Tochter inzwischen Strings trug, Spitzenunterwäsche und dergleichen. Gut, mit siebzehn taten die heutzutage schon all das, was die Erwachsenen machten, aber es bereitete Lorena trotzdem Kopfschmerzen. Jeden Tag kontrollierte sie Jackys Packung mit den Antibabypillen und lief hysterisch hinter ihrem Kind her, wenn es wieder einmal eine Einnahme verschwitzt hatte. So auch heute.

„Jacky“, hatte sie geknurrt, „diese Pillen sind niedrig dosiert, und man soll sie unbedingt immer zur gleichen Tageszeit einnehmen! Du nimmst deine, wann es dir passt, so geht das nicht!“

Wie immer hatte Jacqueline nur mit den Achseln gezuckt. Sie war Lorena ferner denn je. Die befürchtete, doch bald Großmutter zu werden, denn selbst die Erinnerungen an ihre Schwangerschaft und die geplante Reise nach Holland und all den erlittenen Schrecken schienen Jacqueline kein Jota an Verantwortungsgefühl vermittelt zu haben.

Jetzt drehte sie sich zu ihrer vor Wut schäumenden Mutter um und sagte etwas, das Lorenas Mark zu Eis erstarren ließ:

„Das ist so was von scheißegal, Mama. Wenn ich schwanger werde, kriege ich `ne eigene Wohnung und lebe von Hartz-Vier, ist doch egal! Eine Lehrstelle kriege ich sowieso nie.“

„Sag mal… du… du spinnst wohl!“ Lorena wich einen Schritt zurück und trat auf eine von Jacquelines CDs, die natürlich genauso wie die schmutzige Wäsche auf dem Boden liegen musste und unter ihrem hohen Absatz knirschend zerbrach.

„Mama! Ey! Oh nein! Meine Bushido CD! Scheiße!“ Was Lorena so noch nie geschafft hatte, tat der Verlust einer CD: Jacqueline sprang aus ihrem Bürostuhl und fiel auf die Knie, wo sie das geschundene Plastik an ihren Busen drückte.

„Was lässt du die auch auf dem Boden liegen? Dein Zimmer ist ein Schweinestall! Und du willst hier Geburtstag feiern! Meinst du, Omi und Opa gucken hier nicht rein? Räum gefälligst auf und sauge mal Staub! Bevor die Kakerlaken noch eine Mietminderung verlangen!“

Lorena machte auf dem Hacken kehrt und schlug die Tür hinter sich zu, bevor Jacqueline zu einer ihrer unlogischen aber hoch emotionalen Schimpftiraden ansetzen konnte, und floh in ihr makellos aufgeräumtes Wohnzimmer. Heiter blinkte die Glaskugel mit der Elfe darauf im Sonnenlicht.

Angst schnürte ihr mit einem Mal die Kehle zu. Jacqueline, das kleine, niedliche Kind, wurde bald siebzehn. Und ein Jahr später achtzehn. Es dauerte nicht mehr lange, und Lorena war ganz allein. Denn dass es Jacky noch lange hier hielt, war äußerst unwahrscheinlich.

Christoph hieß ihr neuer Freund, wieder so ein Typ in viel zu großen Klamotten, mit miesen Manieren und sehr mangelhafter Bildung. Er schien sogar stolz darauf zu sein, auf einer Landkarte nicht einmal die Hauptstadt finden zu können. Lorena fragte sich, ob er denn wohl wenigstens Deutschland auf einer Europakarte fände, wollte die Antwort aber im Grunde lieber nicht wissen.

Bei ihm war Jacqueline so ganz anders. Ihn himmelte sie an, zickte nie herum und tat, was er sagte. Leider trug sie auch die Kleidung, die er an ihr sehen wollte. Es trieb Lorena schier zur Verzweiflung, und manchmal wünschte sie sich eine Zeitmaschine, mit deren Hilfe sie in die Achtziger zurückreisen und ihrer Mutter, die sich damals über ihren „Amadeus-Fummel“ aufgeregt hatte, die Mode im Jahr 2008 zeigen zu können.

 

„Das ist deine Enkelin, und so wird sie mal herumlaufen.“ Ja, das war eine schöne Vorstellung. Und sie, Lorena, hatte nur ein einziges Mal den Vorstellungen ihrer Eltern nicht entsprochen. Nachdem Falco „Rock me, Amadeus“ gesungen und der Film „Amadeus“ in den Kinos gelaufen war, hatte sie Spitzenhandschuhe und dergleichen getragen, die Haare toupiert und sich dem Trend angepasst. Wie harmlos das alles doch gewesen war. Doch Herr Draschoff hatte seine Tochter schon mit einem Irokesenschnitt und einer Sicherheitsnadel in der Wange durch die Gegend laufen sehen und sie zusammengestaucht, dass Lorena noch heute die Ohren klingelten.

Und jetzt, dachte sie amüsiert und betroffen zugleich, kann man von Glück reden, wenn sie sich nicht das ganze Gesicht piercen lassen.

Jacqueline war ihre Zukunft total egal. „No Future“ hatte damals die Parole der Punker gelautet, die Lorenas Eltern ebenfalls in Angst und Schrecken versetzte. Jacqueline schien diesen Satz nun zu leben. Ihre Noten waren grauenhaft schlecht, einen Ausbildungsplatz bekam sie einfach nicht, obwohl Lorena die Bewerbungen inzwischen selbst tippte, da sie Jackys Rechtschreibung nicht traute. Weiter zur Schule gehen wollte sie auch nicht, und Lorena fragte sich bänglich, ob Jacqueline nicht tatsächlich diesen wahnsinnigen Plan verfolgte: Babys kriegen und Hartz-Vier kassieren. Wie ihre Kinder dann aufwachsen sollten, schien ihr egal zu sein.

Wie bekomme ich nur Vernunft in dieses Kind?, fragte sie sich in den vielen schlaflosen Nächten. Und dann keimte in ihr die Überzeugung, dass ihre Eltern doch recht hatten und Jacqueline nur deswegen so oberflächlich und verantwortungslos war, weil sie ohne Vater aufwachsen musste.

Natürlich war das Unsinn. Es gab in Jacquelines Klasse noch andere Kinder, die von den Müttern aufgezogen wurden und den Vater nur entfernt oder gar nicht kannten. Trotzdem machte Lorena sich schreckliche Vorwürfe.

Gespräche brachten natürlich auch nichts. Jacqueline blockte alles ab.

„Was tun, sprach Zeus“, murmelte Lorena nun traurig und stellte das Bügelbrett bereit, um die Tischtücher nachher zur Perfektion zu plätten.