Die lichten Reiche

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Die Frau nickte nur stumm und reichte ihm ihre Hand. Hatte eine Nachricht, die sie gerade erhalten hatte, sie so schockiert oder war sie immer so geistesabwesend?

„Wann könnt Ihr reisefertig sein, Lady Crystal?“, erkundigte sich einer der Drei.

„Ich… eigentlich sofort“, gestand sie.

„Wenn Ihr wollt, wird der Magus Lucthen Euch sicher auch nach Kornthal begleiten um Eure Sachen zu holen.“

„Das wird nicht nötig sein. Ich habe alles Nötige bei mir.“

Ihre Stimme war kaum mehr als ein Flüstern und ihr Gesicht verzog sich bei diesen Worten schmerzhaft. Interessant. Lucthen fragte sich, was geschehen war, dass sie in solche Aufregung versetzt hatte. Nun, er würde während der Reise genügend Zeit haben, es herauszufinden.

Es schien niemand in der Nähe zu sein. Vorsichtshalber wartete Dawn bis die Sonne ganz untergegangen war, dann näherte sie sich ihrer Entdeckung. Vor zwei Tagen hatte sie zufällig den Hügel entdeckt. Er hatte sie wie magisch angezogen und Dawn neigte dazu, ihren Impulsen nachzugeben. Also war sie ihrem Instinkt gefolgt und auf den Hügel geklettert. Er hatte eine eigenartige Form – wie eine Halbkugel, die im Boden steckte. Irgendwie perfekt; zu perfekt für einen Hügel. An der höchsten Stelle hatte sie eine Steinplatte gefunden, die in den Boden eingelassen war. Vorsichtig hatte sie den Stein untersucht. Jemand hatte sich die Mühe gemacht Zeichen in ihn einzuritzen, die Dawn jedoch nicht entziffern konnte und als sie mit den Fingern die Kante entlanggefahren war, hatte sie es entdeckt: der Stein war eine Tür! Wenn man sich dagegenstemmte, konnte man ihn so verschieben, dass ein Loch im Boden sichtbar wurde! Sie hatte einen Kieselstein hineingeworfen, um abschätzen zu können wie tief es nach unten ging. Obwohl sie nicht glaubte, dass das Loch besonders tief war, hatte sie seufzend den Stein wieder über die Öffnung gezogen und sich auf den Rückweg in die Taverne gemacht. Es hätte nicht viel Sinn gehabt ohne Laterne und Seil in die Tiefe hinabzusteigen. Jetzt hatte sie endlich die Zeit gefunden um zurückzukehren.

Dawn entzündete die Laterne und legte das Seil bereit, dann schob sie den Stein beiseite. Ächzend fragte sie sich, ob es wirklich eine gute Idee gewesen war, niemandem zu sagen was sie vorhatte. Sie hatte überlegt, ob sie ihr Geheimnis Corus anvertrauen sollte, sich jedoch dagegen entschieden. Diesen Fund wollte sie mit niemandem teilen. Außerdem, es konnte ja sein, dass sie nichts fand als eine Grube und in dem Fall wollte sie sich nicht von Corus auslachen lassen, dass sie so viel Aufsehen um ein einfaches Loch gemacht hatte. Endlich gab der Stein nach und glitt zur Seite. Dawn suchte eine Zeit lang herum bis sie eine Möglichkeit gefunden hatte das Seil festzumachen, dann ließ sie das eine Ende in die Tiefe fallen. Sollte sie wirklich so verrückt sein und da nach unten klettern? Vorsichtig hielt sie die Laterne so weit wie möglich hinunter und versuchte den Boden auszuleuchten, doch sie konnte nichts erkennen. Der Drang umzukehren und mit Corus wiederzukommen, oder besser noch ganz fortzubleiben, wurde immer stärker. „Du bist ein Feigling Dawn!“, schalt sie sich. Der Klang ihrer Stimme gab ihr Mut und bevor sie es sich noch einmal anders überlegen konnte, packte sie mit der einen Hand das Seil und mit der anderen die Laterne und machte sich an den Abstieg. Das Loch war tiefer als sie angenommen hatte und als ihre Füße endlich den Boden berührten, atmete sie erleichtert auf. Zitternd ließ sie das Seil los und schwenkte die Laterne so, dass sie einen Blick auf die Wände werfen konnte. Staunend stellte sie fest, dass diese mit Schriftzeichen und Reliefs verziert waren. Im selben Moment sah sie etwas, was sie kurz auflachen ließ – eine der Wände hatte einen Durchgang. Darauf hatte sie gehofft! Kurz entschlossen trat sie in die Öffnung und erkundete den dahinterliegenden Gang. Modrige, feuchte Luft schlug ihr entgegen. Dawn schluckte krampfhaft. Beim Licht! Das war ekelhaft. Doch sie dachte gar nicht daran jetzt aufzugeben! Dawn schloss kurz die Augen und zwang sich langsam einzuatmen und wieder auszuatmen. Einatmen, ausatmen. Endlich ging sie weiter. Nach ein paar Schritten teilte sich der Gang. Kurz überlegte sie welchen Weg sie nehmen sollte, dann entschied sie sich für den linken. Wenn man den rechten Weg nicht kannte, war eine Entscheidung so gut wie die andere. Als sie wieder zu einer Gabelung kam, ging sie wieder nach links und entschied sich, immer den linken Gang zu nehmen. Auf diese Weise würde sie sich nicht verirren. Je länger sie ging, desto kälter wurde ihr und bald hatte sie zu zählen aufgehört an wie vielen Abzweigungen sie vorüber gekommen war. Sie begriff, dass nicht nur der gesamte Hügel von diesen unterirdischen Gängen durchzogen sein musste, sondern auch das umliegende Land. Immer weiter in die Tiefe führten die Gänge und Dawn wurde immer banger zumute. Was, wenn sie eine Abzweigung übersah und dann den richtigen Weg zurück nicht mehr fand? Was, wenn ihre Lampe ausging und sie in völliger Finsternis zurückblieb? Sie hatte das Gefühl keine Luft mehr zu bekommen, als würde die Erde sie erdrücken und ihre Atemzüge wurden flach und schnell. Sie musste all ihre Willenskraft einsetzen um nicht panisch davonzulaufen. Was tat sie hier eigentlich? Sie musste zurück, zurück ins Licht, sie musste…

Doch ihre Füße trugen sie weiter hinab und Dawn stellte fest, dass sie gar keine Wahl hatte als immer tiefer und tiefer hinabzusteigen. Ein Teil von ihr hatte Angst; der andere Teil von ihr wollte jedoch verzweifelt herausfinden, warum man diese Gänge angelegt hatte. Also ging sie, langsamer als zuvor, weiter. Je tiefer sie stieg, desto schwerer fiel ihr das Atmen, als würde die Luft immer dicker. Auch die Flamme der Laterne wurde immer unruhiger und Dawns Schatten wurde zitternd an die Wände geworfen, so dass sie herumfuhr, weil sie glaubte aus den Augenwinkeln eine Bewegung gesehen zu haben, nur um dann festzustellen, dass sie sich vor ihrem eigenen Schatten gefürchtet hatte. Wie von unsichtbaren Fäden gezogen ging sie weiter, bis der Gang schließlich breiter wurde und in einem großen Raum endete. Der Schein der Laterne reichte nicht aus um ihn ganz zu erleuchten. Vorsichtig ging sie weiter in den Raum hinein. Er war leer bis auf einen Altar am hinteren Ende, die Wände waren aus Erde, so dass der Raum wie eine Höhle aussah. Als der Schein der Lampe auf den Altar fiel, reflektierte irgendetwas, das sich dort befand, das Licht, so dass Dawn einen Moment lang geblendet wurde. Sie hob ihre freie Hand schützend vor die Augen und trat näher heran.

Ihr stockte der Atem, als sie schließlich sah, was auf dem Altar lag – ein Schwert! Das Heft war wunderbar verziert und die Klinge blitzte im Lampenlicht, als wäre sie erst gestern poliert worden.

„Lauf… lauf so schnell du kannst und komm nie, niemals wieder hierher!“ Erschrocken fuhr Dawn herum. Wer hatte das gesagt? Zitternd sah sie sich im Raum um. Es war niemand hier. Warum also hatte sie das Gefühl als würde sie in tödlicher Gefahr schweben? Sie wollte umkehren, diesen Raum, die Gänge, den Hügel verlassen... trotzdem machte sie einen Schritt nach vorne. Dawn konnte nicht anders, sie musste, MUSSTE dieses Schwert berühren, auch wenn sie das Gefühl hatte, dass es ihr Ende wäre. Einmal nur... Schon streckte sie die Hand aus und legte sie zitternd um das Heft. Dawn hatte nicht vorgehabt die Waffe zu nehmen, doch plötzlich lag sie in ihrer Hand. Wie in Trance vollführte sie ein paar Schläge. Perfekt! Obwohl die Waffe groß und wuchtig war, konnte Dawn sie so mühelos führen wie eines der Messer, die sie zum Jonglieren benutzte. Sie lachte. Wer hätte gedacht, dass sich tief unter der Erde solch’ ein Schatz verbarg!

Als die Bilder kamen, ging sie unwillkürlich in die Knie. Sie sah ein Gesicht, das so schön wie kalt, so makellos wie grausam war. Augen wie flüssiges Gold starrten sie an, schienen ihr bis auf den Grund ihrer Seele zu blicken. Beim Licht, wer war er? Sein Haar glänzte in der Farbe von frisch gebrautem Bier, sein perfekt geschwungener Mund war zu einem grausamen Lächeln verzogen. Er hielt ein Schwert in der Hand. Ihr Schwert! Es dauerte eine Weile bis Dawn begriff, dass er sie gar nicht sah, dass er durch sie hindurch blickte, auf einen Mann, der ihm gegenüber stand. Schneller als dieser reagieren konnte, wirbelte der Fremde plötzlich herum und stieß sein – ihr Schwert! – Schwert tief in die Brust seines Gegners. Blut spritzte; Dawn schrie auf. Sie versuchte das Schwert, das sie in der Hand hielt, fallen zu lassen, doch ihr Körper gehorchte ihr nicht. Unbewegt zog der Fremde sein Schwert aus der Brust des Toten, wischte es ab und steckte es zurück in die Scheide, die an seinem Gürtel hing. Seine Miene verriet nicht eine Spur von Bedauern.

Das Schwert entglitt Dawns tauben Fingern und fiel mit einem lauten Klirren zu Boden.

Sie waren seit fünf Tagen unterwegs und Crystal, der die lange Zeit, die sie im Sattel verbringen musste, zu schaffen machte, fühlte sich von den Eröffnungen der Drei noch immer ganz benommen. Sie sehnte sich nach Joy und hatte gleichzeitig Angst sie wiederzusehen – nun da sie wusste, dass sie für den Tod ihrer Eltern verantwortlich war. Seit sie denken konnte hatte Crystal immer davon geträumt Kornthal zu verlassen und zu erforschen was jenseits der Grenzen auf sie wartete, doch nun da das Unglück in Gestalt dreier vermummter Frauen über sie hereingebrochen war, hatte sie kaum einen Blick für die Landschaft und die Dörfer, durch die sie ritten. Sie überließ dem Magus die Auswahl der Tavernen und auch das Reisetempo bestimmte er. Sie saß einfach auf ihrem Pferd und starrte den Rücken ihres Begleiters an. Normalerweise hätte sie ihm Fragen gestellt; Fragen über die Magie, denn Magus Horten hatte sich immer hartnäckig geweigert darüber zu reden. „Die Magi des grauen Zweiges sind ja mehr Gelehrte als wirkliche Magi. Ich kann nur ein paar Gesten und um die größeren Zusammenhänge zu erklären bin ich wirklich nicht der Richtige“, pflegte er zu sagen.

 

Ihre Schuldgefühle drückten ihr so schwer aufs Herz, dass jeder Atemzug schmerzte und dass sie sich ständig konzentrieren musste um nicht zu weinen. Sie hatte keine Kraft für Fragen. Manchmal merkte sie, dass Lucthens stechend blaue Augen interessiert auf ihr ruhten, als wäre sie ein Rätsel, das es zu lösen galt, doch er respektierte ihr Schweigen und dafür war Crystal ihm dankbar. Abends vor dem Einschlafen, wenn sie in einem fremden Bett lag und eine fremde Decke anstarrte, fragte sie sich, ob sie sich von jetzt an immer so fühlen würde. Als wäre sie für sich selbst eine Fremde. Als wäre der Teil von ihr, der lachen konnte und der fröhlich war, in ihrem Körper gefangen. Ihr linker Oberschenkel streifte flüchtig ihre Harfe und sie zuckte zurück. Sie hatte seit jener Nacht nicht mehr gespielt. Dabei sehnte sie sich so sehr danach spielen zu können, vergessen zu können – wenigstens einen Moment lang. Doch ein Teil von ihr fürchtete sich auch davor. Sie dachte darüber nach, dass sie nicht einmal wusste durch welche Baronie sie gerade ritten und schämte sich. Durfte sie wirklich so gleichgültig sein? Als Lucthen schließlich vor einer Taverne sein Pferd anhielt und abstieg, ließ sich auch Crystal aufseufzend aus Sturmmähnes Sattel gleiten. Es war gut, dass sie heute früher Rast machten. Sie brauchte dringend eine Pause. Gemeinsam führten sie die Pferde in den Stall. Ein Stallbursche, der ihnen geschäftig entgegenrannte und der sich – nachdem er gesehen hatte um welch prachtvolle Tiere es sich handelte – vor Hilfsbereitschaft fast überschlug, nahm ihnen die Zügel ab und bat sie nach drinnen. Sie folgten seinem Rat, dankbar sich nicht um die Pferde kümmern zu müssen. Die Schankstube war ziemlich voll, wie Crystal überrascht bemerkte, sah jedoch ganz einladend aus. Lucthen hatte eine gute Wahl getroffen, wie stets bisher. Irgendwann sollte sie ihm für seine Umsicht danken.

„Wollen wir nach Zimmern fragen oder essen wir erst einmal?“, fragte er sie. Crystal war nicht hungrig, bemerkte jedoch seinen gierigen Blick, als er den Eintopf förmlich mit Blicken verschlang, den ein Bauer in sich hineinschaufelte.

„Lass uns gleich etwas essen“, meinte sie deshalb und zeigte auf einen der freien Tische. Lucthen nickte dankbar und sie setzten sich. Sie tranken leichten Wein und aßen den Eintopf, der nicht einmal schlecht war und zum ersten Mal seit Tagen entspannte sich Crystal etwas. In der Schankstube war es wohlig warm und die vielen Stimmen bildeten einen angenehmen Geräuschteppich. Sie musste vom Reiten doch müder sein als sie gedacht hatte, denn sie wäre beinahe eingenickt; doch dann riss sie eine Stimme aus ihrer Benommenheit. Crystal blinzelte und blickte den großen, dunkelhaarigen Mann – ein Bauer wie sie vermutete, denn seine Kleidung war einfach – verwirrt an.

„Ob Ihr auf der Harfe auch spielen könnt, meine ich?“, wiederholte er und deutete mit dem Kinn zu der Harfe, die neben Crystals sonstigem Gepäck bei ihren Knien stand. „Ich meine, ob Ihr eine Liedmeisterin seid oder einfach nur ein bisschen musiziert?“

Crystals erster Impuls war zu leugnen. Schließlich gab es in den Mittellanden Menschen die Barden Böses wollten und es wäre vermutlich klug, wenn sie dem Mann erklärte, dass sie die Harfe kaum beherrschte. Doch Crystal brachte die Worte nicht über die Lippen. Sie konnte Meister Martims Ausbildung nicht so herabwürdigen – sie konnte nicht alles verleugnen was sie war! Mit einem Mal bildete sich ein Klumpen Wut in ihrem Bauch. „Ich bin eine Liedmeisterin“, sagte sie selbstsicher. Sie sah wie Lucthen erstaunt die Brauen hob. Ein seltsamer Anblick, fand Crystal. Bisher hatte er stets eine stoische Selbstbeherrschung an den Tag gelegt. Dass er jetzt zum ersten Mal eine Regung zeigte, erboste sie nur noch mehr. Was hatte er gedacht wer sie war?

Crystal konnte nicht wissen, wie schön sie in diesem Moment wirkte. Ihre Augen sprühten grüne Funken und ihre Wangen hatten sich vor Eifer leicht gerötet. Lucthen sah zum ersten Mal ihr wahres Wesen, nicht nur die leere Hülle, die er bisher kennen gelernt hatte.

Auch der Bauer war ziemlich eingeschüchtert. Echte Liedmeister waren selten und hoch angesehen. Es dauerte einen Moment bis er sich gesammelt hatte, dann meinte er, „Bitte spielt uns doch etwas…“ Sein Tonfall hatte sich völlig verändert und Crystal begriff, dass seine Frage ursprünglich als Scherz gedacht gewesen war – er hatte sie nicht für eine Liedmeisterin gehalten. Nun, sie würde es ihnen schon zeigen! Sie nickte hoheitsvoll und machte sich daran ihr Instrument auszupacken. Verärgert bemerkte sie, dass ihre Finger zitterten. Sie würde doch jetzt nicht Angst haben zu spielen? Entschlossen schluckte sie. Oh nein, die Angreifer würden sie nicht zum Schweigen bringen, sie nicht. Als sie sich schließlich mit der Harfe in der Hand setzte, hatte sich im Schankraum Stille breit gemacht. Einer Liedmeisterin hörte man zu. Crystal warf Lucthen einen kurzen Blick zu und lächelte, als sie seinen besorgten Gesichtsausdruck bemerkte. Er würde schon sehen… Sie hatte nicht darüber nachgedacht, welches Bild sie spielen würde und wie von selbst stimmten ihre Finger eines der Berühmtesten überhaupt an. Ein Bild, das von der Liebe erzählte. Von einer Frau und einem Mann, die sich trafen und verliebten, davon wie sie Kinder bekamen, alt wurden und schließlich friedlich starben. Crystal hatte den Kopf gesenkt und spielte voller Hingabe. Als das Bild zu Ende war, stimmte sie leise die Klage an und plötzlich brach in ihrem Inneren ein Damm. Crystal sah Rhys vor sich – wie er ihr strahlend erzählt hatte, dass er um Lady Lucia angehalten hatte und erhört worden war. Sie sah Lucia, die voller Stolz verkündete, dass sie guter Hoffnung sei. Ihr ganzer Schmerz ob des Verlustes dieser beiden Menschen floss in ihre Klage mit ein, ihre Wut und ihr Zorn über die Ungerechtigkeit, dass sie sterben mussten und ihre Sehnsucht, sie wiederzusehen. Wie von selbst glitt sie schließlich in die Mahnung die Liebe zu ehren, wo man sie auch fand. Als sie geendet hatte, merkte sie benommen, dass ihre Wangen nass waren von ihren Tränen und dass sie nicht aufhören konnte zu weinen. Sie wehrte sich nicht, als ihr jemand die Harfe aus den Händen zog. Als sie aufsah blickte sie in Lucthens betroffenes Gesicht. Er legte schweigend die Arme um sie und zog sie hoch. Erst wollte sie protestieren, doch sie fühlte sich zu schwach um mit ihm zu diskutieren und so ließ sie zu, dass er sie aus dem Schankraum führte, um das Haus herum und sich schließlich mit ihr auf einer Bank niedersetzte. Er strich ihr sanft übers Haar und ließ sie weinen bis sie keine Tränen mehr hatte. Crystal wusste nicht, wie lange es dauerte, bis sie schließlich wieder anfing die Gegenwart wahr zu nehmen. Dumpf begriff sie, dass es sie nicht störte, dass Lucthen bei ihr war, obwohl sie sonst immer allein sein wollte, nachdem sie gespielt hatte. Es störte sie auch nicht, dass er sie in den Armen hielt wie ein Kind.

„Es tut mir so leid, Crystal“, hörte sie ihn murmeln. „Ich weiß nicht was passiert ist, doch es tut mir leid.“

Crystal nickte. Mit einem Mal hatte sie das Bedürfnis ihm alles zu erzählen. Sie wollte, dass er sie verstand, also richtete sie sich auf und löste sich aus seinen Armen. „Du warst sehr freundlich und ich möchte deine Geduld nicht noch weiter strapazieren.“

Lucthen hörte das unausgesprochene Aber und so meinte er: „Wenn du je darüber reden möchtest was passiert ist, dann werde ich da sein.“

Crystal musterte ihn schweigend, wie um zu prüfen ob er sein Angebot ernst meinte, dann begann sie mit leiser Stimme zu erzählen.

Als sie geendet hatte schwieg Lucthen lange Zeit. Sein Gesicht hatte einen nachdenklichen Ausdruck angenommen. Crystal fühlte sich vom Erzählen müde und lehnte den Kopf an die getäfelte Hauswand hinter ihr. „Das ergibt keinen Sinn“, meinte Lucthen schließlich. „Warum sollte ein Magus in den Auen etwas über ermordete Barden in den Mittellanden wissen?“

Crystal hatte sich das auch schon gefragt. „Ich denke…“, begann sie zaghaft und versuchte dabei jedes Selbstmitleid aus ihrer Stimme zu verbannen, „...ich denke es geht nicht darum, dass sie wirklich glauben, dass dieser Magus uns helfen kann. Ich glaube sie wollten mich loswerden, weil ich eine potentielle Gefahr darstelle.“

Lucthen schüttelte den Kopf. „Nein, hinter dieser Sache muss mehr stecken. Vielleicht sollten wir uns nicht so viele Gedanken darüber machen. Wir werden es schon sehen, wenn wir da sind. Haben sie dir gesagt, wo genau dieser Magus zu finden ist und wie er heißt?“

Crystal schüttelte den Kopf. „Sie meinten, dass er in den östlichen Wäldern wohnt, wo genau wissen sie – denke ich – selbst nicht. Aber sie meinten, dass es dort ohnehin nur einen Magus gibt und dass er leicht zu finden sein sollte.“ Lucthen nickte gedankenverloren. „Ich dachte eigentlich, dass du ausgeschickt worden bist um mit ihm zu reden und dass ich dich nur begleite“, erklärte Crystal.

Lucthen blickte sie überrascht an. „Ich wusste gar nichts von den ermordeten Barden. Ich bin nur zufällig in die gleiche Richtung unterwegs.“ Aber irgendwie klang diese Erklärung selbst in seinen eigenen Ohren nicht sehr glaubwürdig.

„Das heißt, die Lehrlinge aller Akademien tragen anfangs Weiß?“

„Ganz genau. Das soll verdeutlichen, dass anfangs alle den gleichen Wissensstand haben. Danach werden für bestandene Prüfungen die Farben verliehen“, setzte Lucthen seine Erklärungen fort. Crystal und er waren an diesem Tag schon seit ein paar Stunden unterwegs und seit sie auf einen breiten Feldweg eingebogen waren, hatten sie die Pferde nebeneinander gelenkt und unterhielten sich, während sie immer weiter Richtung Osten ritten.

„Und wie viele Farbschattierungen gibt es?“, fragte Crystal interessiert.

„Acht. Rein theoretisch. Das beginnt in unserer Akademie mit einem ganz hellen Blau und wird immer dunkler. Nach der sechsten Stufe darf man sich als Magi bezeichnen. Die Meisten verlassen danach die Akademie.“

Crystal warf einen Blick auf Lucthens Robe. Beim Reiten pflegte er sie bis zur Taille aufzuknöpfen, so dass die Hosen darunter zum Vorschein kamen und sie ihn nicht störte, wenn er auf dem Pferderücken saß. Seine Robe war von einem so dunklen Blau, dass sie Crystal anfangs Schwarz erschienen war. „Und ist das die Farbe, die die Magi des blauen Zweiges tragen?“, erkundigte sich Crystal, indem sie mit dem Kinn auf Lucthens Roben wies.

„Ich trage die Farben der siebenten Stufe“, erklärte Lucthen schlicht.

„Weil du Lehrer bist?“

„Nein, man darf ab der sechsten Stufe Lehrlinge ausbilden, das hat damit nichts zu tun“, antwortete Lucthen wahrheitsgemäß und hoffte, dass sie aufhörte weiter nachzubohren. Er wollte vor ihr nicht wie ein Angeber dastehen. Doch Crystal hatte den Kopf schief gelegt und wartete offenbar darauf, dass er weitersprach. Auf ihre stille Art war sie ziemlich beharrlich. In den letzten Tagen, seit er sie zum ersten Mal spielen gehört hatte, hatte er seine Meinung über sie geändert.

Lucthen grinste, als er daran dachte, dass der Wirt sich geweigert hatte für die Übernachtung Gold von ihnen anzunehmen. „Lady Crystal, es war mir eine Ehre“, hatte er beteuert und dabei Crystals schmale Finger mit beiden Händen festgehalten. „Ihr wart meine lieben Gäste, da werd ich doch kein Gold dafür nehmen, dass ihr uns beehrt habt.“ Lucthen musste gestehen, dass er sie unterschätzt hatte. Nicht nur war ihr Harfenspiel wunderschön und ihre Stimme glockenrein, sondern sie verfügte, wie jeder Liedmeister, auch über ein fundiertes Geschichtswissen. Seit sie ihm anvertraut hatte, was geschehen war, konnte er zudem besser verstehen warum sie meist so schweigsam und in sich gekehrt war. Manchmal allerdings, wenn es ihm gelang sie abzulenken, lebte sie regelrecht auf – so wie gerade eben. Dann gelang es ihm sogar, ihr ein seltenes Lächeln zu entlocken.

Lucthen gab sich geschlagen. „Die siebte und achte Stufe werden nur für besondere Leistungen verliehen. Die Farbe der achten und höchsten Stufe ist für alle Akademien Schwarz.“

„Wie viele Magi der achten Stufe gibt es?“

„Keinen. Es hat noch nie einen gegeben. Acht würde bedeuten, dass du zum Meister der Magie geworden bist, was Theorie und Anwendung betrifft. Wenn du mich fragst, ich glaube nicht, dass es je einen Magi der achten Stufe geben wird.“

„Das heißt ja, du gehört zu den mächtigsten Magi der Mittellande!“, rief Crystal aus. Lucthen unterdrückte ein amüsiertes Schmunzeln, als er den Stolz in ihren Katzenaugen entdeckte. Der Gedanke, dass sie auf ihn stolz war, berührte ihn angenehm und zum ersten Mal betrachtete er sie nicht nur als Reisegefährtin, sondern als Freundin. „Ich habe die Robe für meine Forschungsarbeit erhalten“, erklärte er. „Ich trage seit Jahren alles zusammen, was wir Menschen über die elfische Sprache wissen und versuche daraus die alte Sprache zu rekonstruieren.“

 

„Wie bist du darauf gekommen, ich meine, warum ausgerechnet dieses Thema?“, fragte Crystal neugierig.

Lucthen zuckte leicht mit den Schultern. „Von den Elfen wissen wir, dass sie mächtige magische Wesen sind, da ist mein Interesse an ihnen doch naheliegend, oder nicht?“

Einen Moment lang trafen sich ihre Augen und er hatte den Eindruck, dass sich Crystals einen Augenblick lang verengten. Er erwartete schon, dass sie nachfragen würde, doch dann wandte sie sich ab. Lucthen atmete erleichtert aus, es hätte ihm nicht gefallen, sie anlügen zu müssen, doch woher sein lebhaftes Interesse an allem, was mit Elfen zu tun hatte, rührte, wusste er selbst erst seit kurzem – und er war nicht bereit dieses Wissen mit irgendjemandem zu teilen.

Eine Weile ritten sie schweigend, dann fragte Lucthen: „Und dein Interesse an den alten Liedern, woher rührt das?“

Crystal schaute ihn lange an, wie um zu prüfen, ob er die Frage nur gestellt hatte um das Schweigen zu brechen oder ob ihn die Antwort wirklich interessierte. „Ich weiß nicht was zuerst da war, meine Liebe zur Musik oder meine Sehnsucht nach der Vergangenheit“, begann sie schließlich, „aber ich wusste immer, dass ich nie etwas anderes sein wollte als eine Liedmeisterin. Ich spüre die Veränderungen, ich mache mir Gedanken, aber ich komme keinen Schritt weiter. Manchmal denke ich, die Anderen spüren die Veränderungen nicht auf die gleiche Weise wie ich es tue – nur wenn sie eines der alten Lieder hören, werden sie für einige Zeit darauf aufmerksam gemacht. Mein Lehrmeister meinte, dass das den Kern der Lehre ausmacht, dass man die Veränderungen merkt und sie nicht gutheißt. Aber ich begreife sie nicht. Habt ihr Magi Theorien darüber?“

Lucthen schüttelte den Kopf. „Keine Vernünftigen.“ Ihm gefiel die Traurigkeit nicht, die sich in ihre Augen geschlichen hatte. Es war an der Zeit sie abzulenken. Er begann von seinem Vater zu erzählen, um sie abzulenken. Sie war eine gute Zuhörerin und erst als er wieder von dem Mann redete, der sein ganzes Leben beherrscht hatte – zuerst weil er sonst niemanden hatte der ihm zuhörte und ihn liebte, dann durch die Entscheidungen, die er getroffen hatte – merkte er, dass er den alten Mann vermisste und zum ersten Mal verstand er, warum sein Vater so lange geschwiegen hatte. Dass es nicht Bosheit und nicht einmal die Ergebenheit seinem König gegenüber gewesen war, was ihm die Zunge gebunden hatte, sondern die Angst eines Vaters sein einziges Kind zu verlieren.

Das Zimmer war sauber. Ein schmales Bett, ein Tisch, ein Stuhl. Crystal hatte aufgehört zu zählen die wievielte Taverne das war, in der sie nächtigten. Irgendwie sahen sie alle gleich aus. Überall dasselbe einförmige Essen, überall dieselben Menschen. Bauern, die sich nach der Arbeit bei einem Bier zusammensetzten um ihre Geschichten zu erzählen und die für zwei Fremde nur fragende Blicke und Unverständnis hatten, sonst nichts. Müde löste sie ihr Haar und versuchte es mit den Fingern zu entwirren. Wenigstens konnte sie heute Nacht allein in einem Zimmer schlafen. Nicht immer fanden sie eine Taverne, in der zwei Zimmer frei waren und sie hatte schon mehr als einmal mit Lucthen in einem Raum geschlafen. Anfangs war ihr das schrecklich unangenehm gewesen – immerhin war er ein fremder Mann. Doch der Magus hatte sie stets mit kühler Höflichkeit, wenn nicht gar mit Desinteresse betrachtet, so dass sie ihre Scheu bald verloren hatte. Erst in den letzten Tagen fingen sie langsam an sich besser zu verstehen, schien ihr. Crystal setze sich auf den Stuhl und zog aus ihrer Tasche Papier und Feder hervor. Alle paar Tage schrieb sie an Joy. Sie vermisste das Kind ganz furchtbar und wenn sie ihr erzählte, was sie alles erlebt hatte, fühlte sie sich meist besser.

Dass sie ein Lied vorgetragen hatte und daraufhin für die Nächtigung nicht zu zahlen brauchten, schrieb sie. Nicht, dass sie in Geldnöten gewesen wären, denn die Talosreiter hatten darauf bestanden, dass sie Gold von ihnen nahm; ziemlich viel sogar. Crystal ging sparsam damit um, denn sie hatte vor den Rest, den sie nicht brauchen würde, wieder zurückzuzahlen. Lucthen hatte scherzhalber gemeint, dass sie öfter für Kost und Logis singen sollte, doch Crystal hatte seinen Vorschlag abgelehnt. Es war vermutlich klüger, wenn sie nicht allzu viel Aufmerksamkeit darauf lenkte, dass sie eine Liedmeisterin war. Sie wollte sich und Lucthen nicht unnötig in Gefahr bringen.

Auch von Lucthen erzählte sie. Leise nagte das schlechte Gewissen an ihr, als sie daran dachte, dass sie ihn in einem ihrer letzten Briefe als großen, hageren Mann mit Hakennase beschrieben hatte, der ziemlich unnahbar war. Dabei musste sie gestehen, dass ihr anfangs sehr distanziertes Verhältnis vermutlich ihrem eigenen Verhalten zuzuschreiben war. Nach ihrer Audienz bei den Dreien war sie ein paar Tage lang vor Schmerz wie betäubt gewesen. Immer noch dachte sie jeden Tag an Rhys und Lucia, doch ihre eigenen Worte spendeten ihr Trost: die Beiden waren in das Licht Lucis’ eingegangen, es ging ihnen gut – wo auch immer sie jetzt waren. Crystal fühlte, dass die Wunde langsam zu heilen begann, auch wenn sie wohl immer Narben zurückbehalten würde. Sie merkte wie sehr sie sich durch die erlebten Schrecken verändert hatte, wie ruhig und in sich gekehrt sie geworden war. War sie wirklich dieselbe Frau, die Rhys einst lachend als Wildkatze bezeichnet hatte? Manchmal träumte sie von den eigenartig gekleideten Frauen und ihren Waffen, dann wachte sie schweißgebadet auf und hatte Mühe wieder einzuschlafen. Doch je mehr Zeit verstrich, desto schwächer wurde der Schmerz und umso stärker ihre Wut. Diese Frauen hatten sie nicht getötet! Es war Zeit, dass sie wieder anfing zu leben.