Das Zeichen der Vier

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2. KAPITEL

Die Darlegung des Falles

Miss Morstan betrat unser Wohnzimmer mit festem Schritt und in äußerlich ruhiger Haltung. Sie war jung, blond, klein und zierlich, trug tadellose Handschuhe und war sehr geschmackvoll gekleidet. Die Schlichtheit ihres an-spruchslosen Kostüms ließ allerdings auf beschränkte Mittel schließen. Ihr Kleid war von einer stumpfen grau-beigen Farbe, ohne Spitzen oder Besatz, dazu trug sie einen kleinen Turbanhut im gleichen tristen Farbton, der nur durch die Andeutung einer weißen Feder an der Seite ein wenig aufgehellt wurde. Sie besaß weder besonders regelmäßige Gesichtszüge noch einen auffallend schönen Teint, aber ihr Gesichtsausdruck war lieblich und anziehend, und aus ihren großen blauen Augen sprach ein ungewöhnlich reiches Seelenleben voller Wärme und Mitgefühl. Ich bin auf drei Kontinenten Frauen verschiedener Nationen begegnet, aber niemals hatte ich ein Gesicht gesehen, in dem sich so deutlich eine edle, feinfühlige Natur ausprägte. Doch als sie auf dem Stuhl Platz nahm, den Holmes ihr anbot, konnte es meiner Aufmerksamkeit nicht entgehen, dass ihre Lippen zitterten und ihre Hand bebte, und dass sie alle Anzeichen heftiger innerer Erregung aufwies.

»Ich bin zu Ihnen gekommen, Mr Holmes«, sagte sie, »weil Sie der Dame, bei der ich in Diensten stehe, Mrs Cecil Forrester, vor einiger Zeit bei der Aufklärung einer kleinen häuslichen Verwicklung behilflich gewesen sind. Sie war tief beeindruckt von Ihrer Freundlichkeit und von Ihren Fähigkeiten.«

»Mrs Cecil Forrester«, wiederholte er nachdenklich. »Ja, ich glaube, ich konnte ihr damals einen kleinen Dienst erweisen. Doch der Fall lag, soweit ich mich erinnere, sehr einfach.«

»Sie sah das anders. Aber von meinem Fall können Sie unmöglich das Gleiche sagen. Etwas Seltsameres und Rätselhafteres als meine derzeitige Lage kann ich mir kaum vorstellen.«

Holmes rieb sich die Hände, und seine Augen glänzten. Er beugte sich im Sessel nach vorn, und seine scharfen, adlerartigen Zügen zeigten den Ausdruck höchster Konzentration.

»Legen Sie mir Ihren Fall dar«, forderte er sie in knappem geschäftsmäßigen Ton auf.

Meine Anwesenheit wurde mir allmählich peinlich. »Sie werden mich gewiss entschuldigen«, murmelte ich, während ich mich erhob.

Doch zu meiner Überraschung hob die junge Dame ihre behandschuhte Hand, um mich zurückzuhalten.

»Wenn Ihr Freund so freundlich sein würde, hier zu bleiben, könnte er mir vielleicht einen großen Dienst erweisen«, sagte sie.

Ich sank in meinen Sessel zurück.

»Die Tatsachen sind, in aller Kürze, die folgenden«, fuhr sie fort. »Mein Vater war Offizier in einem indischen Regiment. Als ich noch ein Kind war, schickte er mich in die Heimat zurück. Meine Mutter war gestorben, und da ich in England keine Verwandten hatte, wurde ich in einem angesehenen Pensionat in Edinburgh untergebracht, wo ich bis zu meinem siebzehnten Lebensjahr blieb. Im Jahr 1878 erhielt mein Vater, der damals dienstältester Hauptmann seines Regiments war, einen zwölfmonatigen Heimaturlaub. Er telegrafierte mir von London aus, dass er gut angekommen sei und dass ich sogleich zu ihm kommen solle; als Adresse nannte er das Langham Hotel. Aus seiner Nachricht sprach, wie ich mich erinnere, nichts als Liebe und Güte. In London angekommen, fuhr ich sogleich zum Langham Hotel, wo ich erfuhr, dass Captain Morstan in der Tat dort abgestiegen war, aber am Abend zuvor ausgegangen und noch nicht zurückgekehrt sei. Ich wartete den ganzen Tag auf ihn, ohne jedoch eine Nachricht zu erhalten. Am Abend setzte ich mich auf Rat des Hoteldirektors mit der Polizei in Verbindung, und am nächsten Morgen gaben wir in allen Zeitungen Suchanzeigen auf. Unsere Nachforschungen blieben jedoch ohne Erfolg, und bis zum heutigen Tag gibt es keinerlei Lebenszeichen von meinem unglücklichen Vater. Er war in die Heimat zurückgekehrt voller Hoffnung, hier ein wenig Ruhe und Behaglichkeit zu finden, und stattdessen –«

Sie hob die Hand zum Mund, und ein unterdrücktes Schluchzen erstickte ihre Stimme.

»Das Datum?« fragte Holmes und schlug sein Notizbuch auf.

»Er verschwand am 3. Dezember 1878 – vor beinahe zehn Jahren.«

»Sein Gepäck?«

»War im Hotel geblieben. Darin fand sich nichts, was uns einen Hinweis hätte geben können – nur Kleidungsstücke, ein paar Bücher und eine Menge Kuriositäten von den Andamanen. Mein Vater war einer der Offiziere, die dort das Kommando über die Wachmannschaften der Strafkolonie hatten.«

»Hatte er Freunde in London?«

»Nur einen, soweit ich weiß: Major Sholto von seinem eigenen Regiment, 34th Bombay Infantery. Der Major hatte nicht lange zuvor seinen Abschied genommen und lebte nun in Upper Norwood. Selbstverständlich setzten wir uns sofort mit ihm in Verbindung, aber ihm war nicht einmal bekannt, dass sein Offizierskamerad in England war.«

»Ein erstaunlicher Fall«, bemerkte Holmes.

»Das Erstaunlichste daran habe ich Ihnen noch gar nicht erzählt. Vor ungefähr sechs Jahren – um genau zu sein, am 4. Mai 1882 – erschien in der Times ein Inserat, in dem nach der Adresse von Miss Mary Morstan geforscht wurde, samt der Versicherung, es sei zu ihrem Vorteil, sich zu melden. Weder ein Name noch die Adresse des Inserenten waren angegeben. Ich hatte damals gerade meine Stelle als Gouvernante im Haus von Mrs Cecil Forrester angetreten. Auf ihren Rat hin ließ ich meine Adresse auf der Annoncenseite der Zeitung erscheinen. Und noch am selben Tag erhielt ich mit der Post eine Pappschachtel, in der eine große, schimmernde Perle lag. Ohne Begleitschreiben, ohne ein einziges Wort. Seither ist mir jedes Jahr am gleichen Tag eine ähnliche Schachtel mit einer ähnlichen Perle zugeschickt worden, immer ohne Hinweis auf den Absender. Die Perlen sind nach dem Urteil eines Kenners von seltener Art und von bedeutendem Wert. Sehen Sie selbst, wie schön sie sind.«

Mit diesen Worten öffnete sie ein flaches Etui und zeigte uns sechs der schönsten Perlen, die ich je gesehen hatte.

»Ihre Aussage ist höchst interessant«, sagte Sherlock Holmes. »Hat sich darüber hinaus noch etwas ereignet?«

»Ja, und zwar heute. Das ist es, weshalb ich zu Ihnen gekommen bin. Heute Morgen erhielt ich diesen Brief – aber vielleicht möchten Sie ihn selbst lesen.«

»Danke«, sagte Holmes. »Das Kuvert ebenfalls, wenn ich bitten darf. Poststempel: London SW. Datum: 7. Juli. Hm! Abdruck eines männlichen Daumens in der Ecke – vermutlich vom Briefträger. Papier von der besten Sorte. Der Umschlag kostet einen Sixpence die Packung. Der Mann ist offenbar wählerisch in seinen Schreibwaren. Keine Adresse.

›Seien Sie heute Abend um sieben Uhr vor dem Lyceum Theatre, bei der dritten Säule von links. Falls Sie misstrauisch sind, bringen Sie zwei Freunde mit. Ihnen ist Unrecht geschehen, und Sie sollen zu Ihrem Recht kommen. Lassen Sie die Polizei aus dem Spiel, sonst ist alles vergebens. Ihr unbekannter Freund.‹

Nun, wahrhaftig, das ist ein nettes kleines Rätsel! Was gedenken Sie zu tun, Miss Morstan?«

»Genau das wollte ich Sie fragen.«

»Wir müssen natürlich hingehen – Sie und ich und – ja natürlich, Doktor Watson ist genau der richtige Mann. Wie Ihr Korrespondent geschrieben hat: zwei Freunde. Wir beide haben schon früher zusammengearbeitet.«

»Aber wird er denn auch mitkommen?« fragte sie mit süßem Bitten in ihrer Stimme und in ihrem Blick.

»Ich bin stolz und glücklich, Ihnen einen Dienst erweisen zu dürfen!« rief ich feurig.

»Sie sind beide sehr liebenswürdig«, sagte sie. »Ich habe ein zurückgezogenes Leben geführt, und ich habe keine Freunde, an die ich mich wenden könnte. Wenn ich um sechs Uhr wieder hier bin, ist das rechtzeitig genug?«

»Ja, aber nicht später«, antwortete Holmes. »Nur noch eine Frage: Ist diese Handschrift die gleiche wie die der Adressen auf den Perlenpäckchen?«

»Ich habe sie mitgebracht«, antwortete sie und kramte ein halbes Dutzend Zettel hervor.

»Sie sind wirklich eine musterhafte Klientin. Sie haben einen sicheren Instinkt. Lassen Sie sehen!« Er breitete die Papiere auf dem Tisch aus, und sein rascher, scharfer Blick wanderte von einem zum anderen. »Die Handschrift ist verstellt, ausgenommen in dem Brief«, sagte er dann, »aber es steht außer Frage, dass alles von der selben Hand geschrieben wurde. Sehen Sie, wie das griechische ›e‹ sich hartnäckig behauptet, und den kleinen Schnörkel beim ›s‹ am Wortende. Diese Schriftstücke stammen unzweifelhaft von ein und derselben Person. Ich möchte Ihnen keine falschen Hoffnungen machen, Mrs Morstan, aber besteht eine Ähnlichkeit zwischen dieser Handschrift und der Ihres Vaters?«

»Nicht die geringste.«

»Das dachte ich mir. Wir erwarten Sie dann hier um sechs Uhr. Bitte erlauben Sie mir, diese Papiere vorerst hier zu behalten. Vielleicht möchte ich sie mir vor unserem Treffen noch einmal ansehen. Jetzt ist es erst halb vier. Also dann, au revoir.«

»Au revoir«, erwiderte unsere Besucherin, schenkte jedem von uns einen freundlichen, strahlenden Blick, barg das Etui mit den Perlen wieder in ihrem Busen und eilte davon.

Ich trat ans Fenster und blickte ihr nach, wie sie raschen Schrittes die Straße hinunterging, bis das graue Hütchen mit der weißen Feder nur noch ein Punkt in der dunklen Menge war.

»Welch überaus reizende junge Frau!« rief ich, als ich mich wieder zu meinem Gefährten umwandte.

Der hatte seine Pfeife wieder angezündet und lehnte mit halb geschlossenen Augen im Sessel.

»So?« meinte er unbeteiligt, »das ist mir nicht aufgefallen.«

»Sie sind wirklich ein Automat – eine Rechenmaschine!« rief ich. »Zuweilen haben Sie etwas entschieden Unmenschliches an sich.«

 

Er lächelte nachsichtig.

»Es ist von allergrößter Bedeutung«, sagte er dann, »sein Urteil niemals von persönlichen Eigenschaften einer Person beeinflussen zu lassen. Für mich ist ein Klient stets ein neutrales Wesen, eine mathematische Größe in einem Problem. Jede Art von Gefühl steht im Widerspruch zum klaren Denken. Ich kann Ihnen versichern, dass die anziehendste Frau, die ich je gesehen habe, am Galgen endete, weil sie ihre drei kleinen Kinder vergiftet hatte, um die Lebensversicherung einzustreichen, und der äußerlich abstoßendste Mann, den ich kenne, ist ein Philanthrop, der beinahe eine Viertelmillion für die Londoner Armen gespendet hat.«

»Aber in diesem Fall –«

»Ich mache nie eine Ausnahme. Ausnahmen entkräften die Regel. Hatten Sie jemals Gelegenheit, den Charakter eines Menschen aus seiner Handschrift abzuleiten? Was meinen Sie über das Geschreibsel dieses Burschen?«

»Die Schrift ist regelmäßig und gut leserlich«, antwortete ich. »Vielleicht ein Geschäftsmann, ein Mann mit starker Persönlichkeit.«

Holmes schüttelte den Kopf.

»Beachten Sie die Oberlängen«, sagte er. »Sie reichen kaum über die Mitte hinaus. Dieses ›d‹ hier könnte auch ein ›a‹ sein, und dieses ›l‹ ein ›e‹. Charakterstarke Menschen neigen immer zu deutlichen Oberlängen, wie unleserlich ihre Schrift sonst auch sein mag. Seine ›k‹s verraten Unentschiedenheit, und seine Großbuchstaben Selbstgefälligkeit. Ich werde jetzt ausgehen, ich möchte noch ein paar Auskünfte einholen. Derweil darf ich Ihnen dieses Buch empfehlen – eine der bemerkenswertesten Abhandlungen, die je geschrieben wurden: Winwood Reades Martyrium der Menschheit. In einer Stunde bin ich wieder da.«

So saß ich an dem kleinen Erkerfenster, das Buch in der Hand, aber in Gedanken weit von den kühnen Spekulationen des Autors entfernt. Meine Gedanken galten unserer Besucherin – ihrem Lächeln, dem warmen, vollen Klang ihrer Stimme und dem sonderbaren Geheimnis, das ihr Leben überschattete. Wenn sie siebzehn Jahre alt war, als ihr Vater verschwand, musste sie jetzt siebenundzwanzig sein – ein schönes Alter, in dem man die Befangenheit der Jugend abgelegt hat und durch Erfahrung reifer geworden ist. Ich saß und sann, bis mir schließlich so gefährliche Gedanken in den Kopf kamen, dass ich aufsprang und an meinen Schreibtisch eilte, um mich in den neuesten Artikel zur Pathologie zu vertiefen. Wer war ich denn – ein Militärarzt mit einem schwachen Bein und einem noch schwächeren Bankkonto! Wie konnte ich es wagen, an solche Dinge auch nur zu denken? Sie war eine mathematische Größe in einem Problem – weiter nichts. Wenn meine Zukunft düster aussah, dann war es auf alle Fälle besser, sich ihr wie ein Mann zu stellen statt zu versuchen, sie durch phantastische Irrlichter aufzuhellen.

3. KAPITEL

Auf der Suche nach einer Lösung

Es war bereits halb sechs, als Holmes zurückkam. Er war beschwingt, voller Energie und in vortrefflicher Laune, eine Stimmung, die bei ihm mit Anfällen schwärzester Depression wechselte.

»Da ist nichts besonders Mysteriöses in dieser Angelegenheit«, sagte er, während er den Tee trank, den ich ihm eingegossen hatte. »Die Fakten scheinen nur eine einzige Erklärung zuzulassen.«

»Was! Sie haben die Lösung schon gefunden?«

»Das wäre zu viel gesagt. Ich habe einen vielversprechenden Hinweis gefunden, das ist alles. Aber er ist sehr vielversprechend. Allerdings fehlen noch die Details. Ich habe die alten Jahrgänge der Times durchgesehen und herausgefunden, dass Major Sholto aus Upper Norwood, ehemals 34th Bombay Infantery, am 28. April 1882 verstorben ist.«

»Ich mag ja arg begriffsstutzig sein, Holmes, aber ich kann nicht erkennen, was daran vielversprechend ist.«

»Nicht? Das wundert mich. Betrachten Sie die Sache doch einmal so: Captain Morstan verschwindet. Die einzige Person in London, die er aufgesucht haben kann, ist Major Sholto. Major Sholto bestreitet, von Morstans Anwesenheit in London gewusst zu haben. Vier Jahre später stirbt Sholto. Eine Woche nach seinem Tod erhält Captain Morstans Tochter ein wertvolles Geschenk, was sich seither Jahr für Jahr wiederholt und nun darin gipfelt, dass sie einen Brief bekommt, in dem gesagt wird, ihr sei Unrecht geschehen. Welches andere Unrecht kann damit gemeint sein, als dass ihr der Vater genommen wurde? Und warum sollten die Geschenksendungen unmittelbar nach Sholtos Tod einsetzen, wenn nicht aus dem Grund, dass Sholtos Erbe etwas über das Geheimnis weiß und den Wunsch nach Wiedergutmachung hat? Oder haben Sie vielleicht eine andere Theorie, die sich mit den Fakten deckt?«

»Aber was für eine absonderliche Art der Wiedergutmachung! Und wie absonderlich arrangiert! Weshalb sollte er denn erst jetzt diesen Brief schreiben und nicht schon vor sechs Jahren? Außerdem schreibt er, dass sie zu ihrem Recht kommen soll. Welches Recht ist damit gemeint? Man darf doch kaum annehmen, dass ihr Vater noch lebt. Und von einem anderen Unrecht wissen wir in ihrem Fall nichts.«

»Es gibt noch einige Unklarheiten; sicherlich gibt es noch einige Unklarheiten«, räumte Holmes nachdenklich ein, »aber unser Ausflug heute Abend wird sie beseitigen. Ah, da fährt ein Wagen vor, und Miss Morstan sitzt darin. Sind Sie bereit? Dann sollten wir uns beeilen, denn es ist schon kurz nach sechs.«

Ich griff nach meinem Hut und nach meinem schwersten Stock, wobei mir nicht entging, dass Holmes seinen Revolver aus der Schublade holte und ihn in seine Manteltasche gleiten ließ. Offenbar rechnete er damit, dass es bei unserem nächtlichen Vorhaben lebhaft zugehen könnte.

Miss Morstan war in ein dunkles Cape gehüllt; ihr empfindsames Gesicht wirkte gefasst, aber blass. Sie hätte kein Weib sein müssen, wenn sie angesichts der seltsamen Unternehmung, zu der wir aufbrachen, kein tiefes Unbehagen empfunden hätte, aber sie bewies vollkommene Selbstbeherrschung und antwortete bereitwillig auf einige zusätzliche Fragen, die Sherlock Holmes ihr stellte.

»Major Sholto war ein vertrauter Freund von Papa«, sagte sie. »In seinen Briefen hat er den Major häufig erwähnt. Er und Papa hatten das Kommando über die Truppen auf den Andamanen, dadurch verbrachten sie viel Zeit miteinander. Ach, übrigens – in Papas Schreibtisch wurde ein merkwürdiger Zettel gefunden, mit dem niemand etwas anfangen konnte. Ich glaube zwar nicht, dass er wichtig ist, aber ich dachte, Sie würden ihn vielleicht gern sehen wollen, deshalb habe ihn mitgebracht. Hier ist er.«

Holmes entfaltete den Zettel behutsam und strich ihn auf seinem Knie glatt. Dann inspizierte er ihn sorgfältig und methodisch mit seinem Vergrößerungsglas.

»Das Papier ist ein indisches Fabrikat«, sagte er. »Es war eine Zeitlang mit Nadeln auf einem Holzbrett festgesteckt. Die Zeichnung zeigt offenbar den Grundriss eines Gebäudeteils – eines sehr großen Bauwerks mit zahlreichen Räumen, Gängen und Korridoren. An einer Stelle ist mit roter Tinte ein kleines Kreuz eingezeichnet, darüber steht in verblasster Bleistiftschrift ›3,37 von links‹. In der linken Ecke ist eine eigenartige Hieroglyphe zu sehen: vier Kreuze nebeneinander, deren Balken sich berühren. Daneben steht in grober, ungelenker Handschrift: ›Das Zeichen der Vier – Jonathan Small, Mahomet Singh, Abdullah Khan, Dost Akbar‹. Nein, ich gebe zu, da sehe ich keinen Zusammenhang mit unserer Angelegenheit. Trotzdem ist das Dokument offenkundig von Bedeutung. Es wurde sorgsam in einer Brieftasche aufbewahrt, denn keine der beiden Seiten ist vergilbt.«

»In seiner Brieftasche haben wir es gefunden.«

»Bewahren Sie es gut auf, Miss Morstan, es wird uns vielleicht noch von Nutzen sein. Ich beginne zu vermuten, dass dieser Fall sich als wesentlich diffiziler und hintergründiger erweisen könnte, als ich zunächst gedacht hatte. Das muss ich neu überdenken.«

Er lehnte sich in die Wagenpolster zurück, und ich sah an seinen zusammengezogenen Brauen und seinem abwesenden Blick, dass er scharf nachdachte. Miss Morstan und ich unterhielten uns mit gedämpfter Stimme über unsere nächtliche Unternehmung und was sie wohl bringen würde, unser Gefährte dagegen verharrte bis zum Ende der Fahrt in undurchdringlichem Schweigen.

Es war ein Septemberabend und noch nicht einmal sieben Uhr, aber es war ein trüber Tag gewesen, und jetzt lag ein dicker, nasser Nebel über der großen Stadt. Schmutzigfarbene Wolken hingen trist über schmutzigen Straßen. Die Laternen rechts und links des Strand waren zu matten, diffusen Punkten geschrumpft, welche schwache Lichtkreise auf das nasse Pflaster warfen. Aus den Schaufenstern der Geschäfte strömte helles Licht in die dunstige Nebelluft hinaus und zeichnete trübe, rasch wechselnde Muster auf die von vielen Menschen belebte Straße. Es hatte etwas Unheimliches, fast Gespenstisches, diese endlose Prozession von Gesichtern durch diese schmalen Lichtstreifen huschen zu sehen – traurige und frohe, verhärmte und heitere. Sie glitten aus dem Dunkel ins Licht und wieder zurück ins Dunkel, wie es der Menschen Los ist. Ich bin sonst nicht leicht Stimmungen unterworfen, aber dieser trübe, dunkle Abend, verbunden mit dem geheimnisvollen Abenteuer, auf das wir uns eingelassen hatten, machte mich nervös und bedrückt. Miss Morstan war unschwer anzusehen, dass sie das Gleiche empfand. Nur Holmes war über solche flüchtigen Eindrücke erhaben. Er hielt ein aufgeschlagenes Notizbuch auf den Knien, in das er im Licht seiner Taschenlampe ab und zu Ziffern und Notizen eintrug.

An den Seiteneingängen des Lyceum Theatre standen die Menschen bereits dicht gedrängt. Vor dem Haupteingang fuhren in dichter Folge zwei- und vierrädrige Wagen vor, denen Herren mit steifer Hemdbrust und in Shawls gehüllte, diamantenbehängte Damen entstiegen. Wir hatten die dritte Säule, den Ort unseres Stelldicheins, kaum erreicht, da wurden wir von einem klein gewachsenen, kräftigen dunkelhaarigen Mann in Kutscherkleidung angesprochen.

»Sind Sie die Herrschaften, die Miss Morstan begleiten?« fragte er.

»Ich bin Miss Morstan, und diese beiden Gentlemen sind meine Freunde«, antwortete sie.

Zwei seltsam durchdringende Augen musterten uns mit scharfem Blick.

»Sie müssen schon entschuldigen, Miss«, sagte er mit störrischer Miene. »Aber ich habe Anweisung, mir Ihr Wort geben zu lassen, dass keiner Ihrer Begleiter von der Polizei ist.«

»Darauf kann ich Ihnen mein Wort geben«, lautete ihre Antwort.

Er ließ einen scharfen Pfiff ertönen, woraufhin ein Gassenjunge eine Kutsche heranführte und den Schlag öffnete. Der Mann, der uns angesprochen hatte, schwang sich auf den Bock, während wir unsere Plätze im Wageninnern einnahmen. Wir saßen kaum, da ließ der Kutscher die Peitsche auf dem Rücken des Pferdes spielen, und los ging die rasche Fahrt durch die nebeltrüben Straßen.

Es war eine eigentümliche Situation. Wir fuhren mit unbekanntem Auftrag einem unbekannten Ziel entgegen. Entweder war diese Einladung nichts als ein schlechter Scherz – was als Hypothese kaum haltbar war –, oder wir hatten Grund anzunehmen, dass unsere Expedition wichtige Enthüllungen bringen würde. Miss Morstans Haltung blieb entschlossen und gefasst wie zuvor. Ich versuchte zwar, sie durch Erzählungen von meinen afghanischen Abenteuern abzulenken und ein wenig aufzuheitern, aber ehrlich gesagt war ich selbst in dieser Situation so aufgeregt und so gespannt auf die Dinge, die auf uns zukamen, dass meine Darstellung gelegentlich etwas durcheinander geriet. Noch heute behauptet sie, ich hätte ihr eine ergreifende Anekdote erzählt, wie mitten in der Nacht eine Muskete in mein Zelt geschaut hätte und ich ein doppelläufiges Tigerjunges darauf abgefeuert hätte. Zunächst war ich noch in der Lage, einigermaßen die Richtung zu verfolgen, in die wir fuhren, aber schon bald – kein Wunder bei der Schnelligkeit der Fahrt, bei dem Nebel und bei meiner beschränkten Kenntnis von London – hatte ich die Orientierung gänzlich verloren und bemerkte nur noch, dass die Strecke, die wir zurücklegten, offenbar sehr lang war. Sherlock Holmes hingegen war keinen Moment im Zweifel. Während die Kutsche über offene Plätze und durch zahllose Querstraßen und Gassen ratterte, murmelte er die Straßennamen vor sich hin:

»Rochester Row. Nun Vincent Square. Jetzt kommen wir bei der Vauxhall Bridge Road heraus. Wir fahren wohl auf die Surrey-Seite hinüber. Richtig, das dachte ich mir. Jetzt sind wir auf der Brücke. Sehen Sie, hier kann man einen Blick auf den Fluss erhaschen.«

Tatsächlich war für einen flüchtigen Augenblick das breite, ruhig fließende Wasser der Themse zu erkennen, auf dem sich die Lampenlichter spiegelten, aber unsere Kutsche jagte weiter, in das Straßenlabyrinth der jenseitigen Themseseite hinein.

 

»Wordsworth Road«, bemerkte mein Gefährte. »Priory Road. Lark Hall Lane. Stockwell Place. Robert Street. Cold Harbour Lane. Unsere Reise scheint uns nicht gerade in die vornehmsten Stadtteile zu führen.«

Tatsächlich hatten wir eine zweifelhafte, wenig anziehende Gegend erreicht. Lange Reihen düsterer Backsteinhäuser wurden nur durch den schäbigen Glanz grell erleuchteter Eckkneipen unterbrochen. Darauf folgten Straßen mit zweistöckigen Doppelhäusern, jedes mit einem winzigen Vorgärtchen, und dann wieder endlose Reihen nagelneuer, geschmackloser Ziegelbauten – sie wirkten wie monströse Fangarme, welche die Riesenstadt in ihre ländliche Umgebung hinein ausstreckte. Endlich hielt der Wagen vor dem dritten Haus einer neu gebauten Reihenhaussiedlung. Keins der Nachbarhäuser war bewohnt, und das, vor dem wir standen, war genauso stockdunkel wie die anderen, lediglich im Küchenfenster war ein schwacher Lichtschein zu sehen. Auf unser Klopfen hin wurde die Tür jedoch augenblicklich aufgerissen – von einem Hindu-Diener mit gelbem Turban, weitem weißen Gewand und einer gelben Schärpe. Etwas absurd Unpassendes lag in dieser orientalischen Gestalt, die da in der prosaischen Eingangstür eines drittklassigen Vorstadthauses stand.

»Der Sahib erwartet Sie«, sagte er, und noch während er sprach, ertönte aus dem Innern des Hauses eine hohe, dünne Stimme.

»Führe sie zu mir herein, Khitmutgar«, piepste sie. »Führe sie gleich zu mir herein.«