Der Fluch der Dunkelgräfin

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»Wie sollte das funktionieren?«

»Er hat mir erklärt, dass die alten Ägypter ganz ähnliche Dinge taten. Sie haben Kindern die Schädel in feste Bandagen gewickelt und sie so verformt. Es schien ihm zu gelingen, er konnte seiner Frau endlich ein innerlich gesundes Kind bringen, das lediglich scheinbar so krank war wie ihre Tochter.

Wie entsetzt musste er gewesen sein, als er am nächsten Tag feststellte, dass all seine Mühe vergebens gewesen war! Der Sohn hatte zwar Melissas Behinderung, aber er war nun einmal ein Junge.

Anfangs war Marias Freude groß gewesen. Sie hatte das Baby gewiegt und gefüttert – Letzteres sogar endlich erfolgreich, denn der Junge konnte schlucken. Doch am nächsten Morgen, als sie es baden oder wickeln wollte, war ihr der entscheidende Unterschied zwischen diesem fremden Kind und ihrer Tochter aufgefallen, und wie schon bei den anderen Kindern zuvor hatte sie versucht, diesen Unterschied auszumerzen.

Mit einer großen Küchenschere entmannte sie den Säugling, der daraufhin elend verblutete. Das arme Kind hatte sein Leiden endlich hinter sich, und der Doktor begrub einen weiteren kleinen Leichnam in seinem Keller.

Er verfluchte sich und seine Kurzsichtigkeit. Solch ein dummer Fehler würde ihm nicht noch einmal passieren! Der Doktor hatte seine Aufgaben schon immer sehr ernst genommen, so auch diese, die Wichtigste in seinem Leben.«

»Wann genau begannen Sie ihm zu … helfen?«

»Nun, bisher hatte der Doktor alles allein durchmachen müssen, aber nun, nachdem das Fehlen der Medikamente aufgefallen war und ich den Ausschuss auf eine falsche Fährte geführt hatte, fasste er Vertrauen zu mir.

Er ließ mich Maria kennenlernen, die süßeste, schönste Frau von allen. Und er ließ mich an seinem Leben teilhaben. Mich! Ich war bereit, ihm in allen Belangen beizustehen. Es schien mir alles so schrecklich, und er tat mir so fürchterlich leid! Und Maria, die arme, traurige Maria! Auch ohne selber Mutter zu sein, konnte ich doch nachfühlen, wie es ihr gehen musste.«

»Wann halfen Sie das erste Mal bei einer Entführung?«

»Entführung! Ich glaube, Sie wollen mich überhaupt nicht verstehen! Wir entführten die Kinder nicht, wir nahmen lediglich die in Obhut, die sowieso keine Familie hatten.

Es dauerte lang, bis wir Maria ein neues Kind bringen konnten. Die Tochter eines polnischen Arbeiters, der in den Obstfeldern, die sich rings ums Dorf schmiegten, bei der Ernte half, war schwanger. Das junge Mädchen gebar eine wunderschöne Tochter, die aber nicht schreien wollte — spontan beschloss ich, diesen Umstand zu nutzen, und brachte den Säugling hastig ins Nebenzimmer.

Wir erklärten das Baby für tot und die Polen wirkten fast erleichtert.

Nur die frisch entbundene Mutter weinte und weinte und ließ sich nicht trösten. Sie wollte das Kind sehen, aber zum Glück hielt ihre Mutter sie davon ab. Die Alte war sehr abergläubisch und dachte, dass alle potenziellen Enkel tot zur Welt kommen würden, wenn wir ihrer Tochter den Leichnam in die Arme legen würden.

Mir war das nur recht, ich hätte nicht gewusst, was ich hätte tun sollen, wenn die Familie darauf bestanden hätte, das Neugeborene mitzunehmen. Ein Wunder hätte ich beschwören müssen: Oh, es lebt ja doch! Der Heilige Geist waltet an diesem Ort!

Stattdessen konnte ich das Mädchen zu Dr. Bromer bringen.«

»Dr. Bromer hat bei dieser Geburt nicht geholfen?«

»Nein, er hatte an diesem Tag frei.«

»Wie hat er auf das Kind reagiert?«

»Er schien es nicht fassen zu können. Fast schon entsetzt wollte er mich wegschicken, aber ich überzeugte ihn davon, dass niemand von dem Säugling wusste, dass alle ihn für tot hielten. Ich hatte sogar die notwendigen Instrumente für die Umformung des kleinen Körpers mitgebracht.

Der Doktor sah ein, dass ich alles richtig gemacht hatte, er nahm das Baby und verwandelte es in Melissa.«

»Hatten Sie kein Mitleid mit dem Kind?«

»Aber nein, wir taten ihm ja nicht weh, es bekam doch Schmerzmittel. Wir waren auch sehr vorsichtig, besonders beim Auskugeln der Gelenke und den Knochenbrüchen.

Die Fortschritte in der Entwicklung des Mädchens waren erstaunlich. Ihr kleiner Kopf schien nur darauf zu warten, sich endlich abplatten zu dürfen, ihre schmalen Schultern kugelten sich wie von selbst in die aparte Haltung, die Marias erste Tochter gehabt haben musste, ihre Lippen wölbten sich den zwickenden und teilenden Zangen förmlich entgegen.

Es war Melissa! Maria würde überglücklich sein!

Aber sie nahm die Kleine erneut nicht an. Vielleicht waren es die Augen des Babys, die nicht stark genug aus dem Gesicht hervorquollen, vielleicht stimmte der Winkel des umgekehrten Unterschenkels nicht genau. Vielleicht war es auch das unausgesetzte Schreien der Kleinen, das Maria dazu veranlasste, sie zu schütteln bis ihr schwaches Genick brach und sie für immer verstummte.«

»Wie lange taten Sie das alles?«

»Etwa zwei Jahre. Zwei Jahre lang nahmen wir die ungeliebten und ungewollten Mädchen und Jungen von den selbstsüchtigen Frauen, die das Muttersein überhaupt nicht verdient hatten. Zwei Jahre lang erweckten wir Melissa zum Leben, wieder und wieder, um einem unglücklichen Kind und einer unglücklichen Frau die Chance zu geben, gemeinsam doch noch Glück zu finden.

Maria jedoch fand es nicht.

So sehr wir ihr auch zu helfen versuchten, wir konnten nicht zu ihr durchdringen. So sehr wir sie auch zu täuschen versuchten, sie erkannte immer, was nicht stimmte. Sie erkannte immer, dass die Kinder, die wir ihr gaben, Fremde waren. Melissa ließ sich einfach nicht von den Toten zurückholen, genauso wenig wie Maria.«

Die Zeugin weint. Eine weitere Pause lehnt sie ab.

»Es gibt doch nichts mehr zu sagen. Jetzt ist es eben raus. Es ist besser so. Es musste doch einmal jemand kommen, der danach fragt.«

»Der wonach fragt?«

»Was damals passiert ist, warum wir das gemacht haben. Das ist es doch, was die Leute interessiert.

Jetzt ist es wenigstens raus.

Dann kann ich eines Tages auch in Frieden ruhen, so wie der Doktor und Maria mit ihren Kindern. Mit all ihren Kindern.«

»Dann sehen Sie also doch ein, dass Sie ein Verbrechen begangen haben? Dass Sie all diese Kinder getötet haben?«

»Wir haben sie aber doch nicht getötet, im Gegenteil, wir haben Melissa zum Leben erweckt, immer wieder. Wir haben nichts Schlechtes getan, wir haben Melissa gerettet, und Maria wollten wir auch retten. Wie kann das denn ein Verbrechen sein?«

Siechtum

Ich wurde ertragen. Ausgehalten.

Ich dachte immer, Liebe ließe keinen Platz für so negative Gefühle, für so viel Abneigung, dass das Zusammenleben als Bürde empfunden wird.

Ich dachte, Liebe hieße Respekt voreinander, ein Akzeptieren des Partners, so, wie er ist – mit allen Facetten, ergo auch mit allen Fehlern.

Aber in einer Welt, die am Abgrund steht, funktionieren solche Regeln nicht mehr.

Oder haben es nie, was weiß ich schon.

Nun bin ich die Persona non grata, der Outlaw, der Antichrist. Der Teufel in Menschengestalt.

Alle Entscheidungen Fehler, alle Timings beschissen, alle Entschuldigungen müßig.

Um mich herum sterben alle wie die Fliegen. Auch wenn mich keiner mehr dafür verantwortlich macht – damit haben sie vor ein paar Wochen aufgehört, als mein Leiden allzu offenbar wurde – fühle ich mich nach wie vor schuldig.

Nur wegen mir mussten Abstriche gemacht werden, Pläne über den Haufen geworfen, Treffen vertagt und Lager verlegt werden. Das war nie meine Absicht, und ich sehe auch jetzt nur bedingt meine Schuld – ich bin es nicht, die diese Krankheit in die Welt gebracht hat.

Im Gegenteil: Ich bin die, die dagegen gekämpft hat, von Anfang an, und die am nächsten daran war, ein Heilmittel zu finden. Aber dann hat es IHN erwischt, und nun bin ich es, die misstrauisch beäugt und der kein Wort mehr geglaubt wird.

Weil ER mir so nahe war.

Weil ER mich verraten hat.

Die Krankheit hat ihn erwischt, es ging sehr schnell zu Ende. Und sie glauben, dass er sie von mir hat. Weil ich sie jetzt auch habe. Dass es umgekehrt hätte sein können, dass ER es gewesen sein könnte, der mich angesteckt hat, das will nun natürlich keiner in den Raum stellen.

Es wäre Frevel.

Zwar habe ich ihn in die Gruppe eingeführt, habe ihn aus dem Wald geholt, als er kurz vor dem Verhungern war, aber dennoch haben sie sich sofort enger an ihn gebunden, als sie es jemals bei mir gekonnt hätten.

Dabei ist er doch viel bösartiger als ich.

Wo ich nach den Regeln spiele, bricht er sie mit Genuss. Wo ich Verständnis und Liebe als einzigen Ausweg sehe, wendet er sich hasserfüllt ab.

Das konnte er immer am besten: Menschen hinter sich lassen.

In einer Welt, die faktisch längst untergegangen ist, in der jeder gegen jeden kämpft, kommt so etwas einem Todesurteil gleich. Das heißt, eigentlich hat er getötet.

Glaube ich.

Beweisen kann ich nichts, denn die anderen haben es durchgezogen, haben verstoßen, haben abgelehnt.

Jetzt eben mich.

Weil er es verlangt hat, bevor er starb.

Dumm nur, dass sie mich ausgerechnet jetzt hier darben lassen, wo ich doch ein Heilmittel gefunden habe.

Versteht mich nicht falsch: Es geht mir nicht um Rache. Das wäre ja kleinlich. Es geht mir ums Prinzip: Wer Menschen hinter sich lässt, sterben lässt, allein und elend, der verdient keine Rettung. Finde ich zumindest.

Also, na ja, Rettung sollte man sich nicht verdienen müssen, Mensch sein sollte ausreichen. Aber wie viel Mensch steckt denn noch in diesen Leuten, die andere aus ihrer Mitte verstoßen, sobald die einen Fehler begehen, egal wie klein? Die ganz willkürlich und unfair Urteile sprechen?

 

Ich werde das Heilmittel nicht nehmen. Ich habe es getestet, ich weiß, dass es funktioniert. Doch ich werde sterben, und die Lösung unserer Misere nehme ich mit ins Grab.

Das Prinzip. Ihr versteht.

Jetzt liege ich hier auf meiner dreckigen Matratze, die so sehr stinkt, dass mir andauernd übel ist, und die von so viel Ungeziefer bewohnt wird, dass ich nicht mehr unterscheiden kann, welcher Teil meines Körpers juckt und welcher nicht, und soll dankbar sein für den Luxus, überhaupt eine Unterlage zu haben.

In meiner Brust spüre ich die Seuche, wie sie mich übernimmt. Wie sie Besitz von mir ergreift, wie sie meine Brust zusammendrückt, schmerzhaft.

Ich kann spüren, wie mein Herz schrumpft.

Der Fluch

der Dunkelgräfin

Es gibt zwei Arten von Geschichte: die offizielle, lügenhafte Geschichte, und dann die geheime, wo die wahren Ursachen der Ereignisse liegen.

Victor Hugo

I

Regentropfen sammelten sich in ihrem Haar und liefen über ihr Gesicht. Sie erlaubte sich ein paar Tränen – er konnte sie jetzt nicht sehen. Und selbst wenn: Ihr Kummer brächte ihn höchstens zum Lachen. An einer Weggabelung unter einer Gruppe Erlen blieb sie stehen und schaute zurück zu dem großen Haus. Da stand er, lauerte regelrecht, mit seinem Fernglas und dem Gewehr.

Sie beschützen – ha! Welche Farce! Nicht beschützen wollte er sie. Er bewachte sie. Ein Beschützer würde nicht all die Dinge tun, die er ihr Abend für Abend antat, egal, wie sehr sie bettelte und flehte, egal, wie sie sich verhielt: Er tat es, wenn sie ruhig und gefügig war, er tat es, wenn sie sich zur Wehr setzte. Er tat es, wenn sie ihrer Verzweiflung freien Lauf ließ, und er tat es, wenn sie ihr Schicksal resigniert annahm.

Niemals veränderte sich dabei seine steinerne Miene, niemals variierte das Maß an Grausamkeit, die er ihr angedeihen ließ.

Er erschien ihr schon lange nicht mehr menschlich. Ein Dämon, das war er. Ein Unwesen aus den tiefsten Tiefen der Hölle, ein übermächtiges Monstrum, gesandt, sie zu quälen und ihre Seele zu zerreißen.

Er winkte sie nach links, also wandte sie sich wieder um und nahm den rechten der beiden Pfade.

Ihr waren die Geschichten um ihre Person wohlbekannt, erzählte er ihr doch immer den neusten Klatsch und Tratsch, der ihm in Briefen mitgeteilt wurde. Der schweigsame Diener des Hauses konnte sich im Gegensatz zu ihr und ihrem Bewacher relativ frei bewegen – er wurde immer vorausgeschickt, wenn sie neue Wohnung nehmen mussten oder Besorgungen zu erledigen waren. Er brachte ihr auch schöne Kleider und erlesenen Schmuck, den der Bewacher für sie auswählte. Sie schwelgte in einem märchenhaften Luxus, was ihr ihre Situation aber nicht erleichterte. Vielmehr wurde ihr nur noch schmerzhafter bewusst, wie einsam sie war, ohne Kontakt zu anderen Menschen, ohne Liebe oder freundliche Worte.

Die französische Königstochter sei sie, so munkelte man, irre geworden nach den Wirren und Grausamkeiten der Revolution und nach dem tragischen Verlust der Familie. Eingekerkert und dann ausgeliefert, unterwegs ersetzt durch eine Doppelgängerin, aber der Mutter zu ähnlich, um je wieder ohne Schleier das Haus verlassen zu dürfen. Nervenschwach und deprimiert, in ständiger Gefahr durch die Gegner der Monarchie und zur Flucht quer durch das Land gezwungen.

Wie gerne wäre sie wirklich dieses bedauernswerte Geschöpf! Wie gerne würde sie tauschen und den Platz der Madame Royale einnehmen! Aber sie war nur die arme, ganz und gar nicht adlige Sofia Botta, eine Frau ohne Vergangenheit.

Die Eltern enthauptet? Der Bruder in Elend und Wahnsinn verreckt? Selbst eingesperrt und den schmutzigen Gelüsten der Wachen ausgeliefert? Dankend würde Sofia dieses Schicksal annehmen, bliebe ihr dafür das ihrige erspart.

Über die Gründe ihrer Gefangenschaft wusste sie nichts.

Mit langsamen Schritten durchmaß sie den Park, der sich zu allen Seiten des großen Herrenhauses erstreckte. Hinter einem Haselstrauch sank sie in das weiche, saftige Gras. Es ziemte sich für eine Dame nicht, am Boden zu sitzen, schon gar nicht in dem teuren und überaus empfindlichen Seidenkleid, das sie trug, aber hier war niemand, der sie sehen konnte, nur der allgegenwärtige Bewacher auf dem Balkon.

Gedankenverloren zupfte sie ein paar der regenfeuchten Halme aus der Erde und verzwirbelte sie zwischen ihren Fingern. Die Einsamkeit lag wie eine schwere, klamme Decke auf ihrem Gemüt. Sie erinnerte sich nur noch schwach an die Zeiten, als ihr Leben ein anderes gewesen war, ein Leben gewesen war: Sie mit Vater und Mutter in dem kleinen Bauernhaus nahe dem Wald. Sie hatten bescheiden gelebt, nur sie drei, mit ihren Kühen und Hühnern und genährt von ein paar Feldern, die die Eltern allein bewirtschaften konnten. Gottesfürchtig waren sie gewesen, eine fromme Familie, und fröhlich. Doch statt Trost und Hoffnung zu spenden, machten ihr die wenigen Erinnerungen die Gegenwart nur noch unerträglicher.

Wie oft hatte sie am Fenster im obersten Stock der Villa gestanden, nahe daran, ihr Elend zu beenden. Wie oft hatte sie am Ufer des Sees im Park gesessen, den Kopf voller schwarzer Gedanken, oder die rot-weißen Pilze des Frühherbstes gesammelt, um sich aus dieser Realität zu stehlen.

Doch ihr Bewacher war zu aufmerksam. Auch wenn er fest zu schlafen schien oder unterwegs war oder eingeschlossen in der Bibliothek saß und konzentriert die zahlreichen Briefe verfasste, die er täglich verschickte; jedes Mal hatte er plötzlich an ihrer Seite gestanden, immer genau in dem Moment, in dem sie bereit gewesen war, loszulassen. Nicht einmal der Tod gönnte ihr Erlösung.

Als sie aufblickte, stand ein Mann vor ihr. Erschrocken sprang sie auf. Der Fremde war groß, dabei schlank und feingliedrig. Seine vollständig schwarze Kleidung war erlesen, er schien von edler Abstammung zu sein. Die schmale Nase ein wenig zu spitz, die hellen Augen ein wenig zu nah beieinander, die vollen Lippen ein wenig zu eng aufeinandergepresst – edel, doch nicht attraktiv.

Er wirkte so harmlos in seinem teuren Aufzug, und dabei so bedrohlich. Eine Bedrohung, die rasch nicht mehr ungreifbar und vage blieb, sondern sich zu Sofias Entsetzen schauerlich manifestierte: Sein Mund verzog sich zu einem widerlichen Grinsen, immer weiter und weiter, weiter, als die Mundwinkel eines Menschen sich dehnen lassen sollten, als risse er sein Gesicht mitten entzwei, um ihr Reihen strahlend weißer, spitzer Zähne zu präsentieren, deren Anblick Schauer der Angst ihr Rückgrat hinab sandte.

Sie wollte sich abwenden und zum Haus fliehen und stand doch wie gelähmt da, als hätten ihre Füße sich in das Erdreich gegraben, als müsse sie hier auf ewig bleiben und den grauenerregenden Anblick des Fremden ertragen.

Seine Zähne, diese bedrohlichen Spitzen, wurden größer, wuchsen aus dem weit aufgerissenen Maul heraus, verdeckten bald seine Augen. Sie ertappte sich bei dem Versuch, sie zu zählen, als könne diese ganz und gar unpassende, profane Handlung den Zauberbann brechen, unter dem sie sich gefangen fühlte. Es waren mehr Zähne, als ein Mensch haben durfte, was sie nicht verwunderte, immerhin war dieser Herr fern von allem Menschlichen.

So schnell, wie es begonnen hatte, war es vorbei; der Herr schloss seinen Mund ohne Mühe, das schreckliche Gebiss verschwand und nur ein leichtes, fast freundliches Lächeln kräuselte seine Lippen. Immer noch blickten seine Augen ernst, fast verächtlich. Er zog seinen Hut und verbeugte sich leicht. Dabei registrierte sie eine kreisrunde kahle Stelle genau in der Mitte seines Kopfes. Aus Gründen, die ihr verwirrter Verstand nicht erfassen konnte, entsetzte sie dieser durchweg alltägliche Anblick mehr, als es das monströse Grinsen vermocht hatte.

Sie schrie aus Leibeskräften, bis ihr Hals schmerzte und ihre Lunge keine Luft mehr hatte. Dann war der Fremde verschwunden.

Weinend eilte sie zum Haus, in die vermeintliche Sicherheit der Nähe ihres Bewachers und seines stummen Dieners.

II

Am späten Abend begab sie sich über die leeren Flure des Hauses, das ihr Gefängnis war, in ihr privates Badezimmer. Der Dienstbote hatte bereits die große, frei stehende Wanne vorbereitet. Duftende Essenzen und fein schäumende Zusätze sollten ihre angespannten Nerven beruhigen. Sie schloss die Tür und stellte einen der kleinen Sessel davor. Der Diener war ihr unheimlich, und sie wollte nicht riskieren, dass er sie störte. Nicht, dass ihm das erlaubt wäre, aber in diesem Haus voller Schrecken wusste man nie. Sie setzte sich auf den Sessel und zog sich aus. Achtlos ließ sie ihre Kleider auf den Boden fallen und glitt vorsichtig in das warme Wasser.

Rasch tat das Bad seine Wirkung und entspannte ihren müden Leib. Ihr heutiger Geburtstag, so hatte ihr Bewacher ihr verraten, sei derselbe wie der ihrer Mutter selig. Ein besonderer Tag. Sie schloss die Augen und stellte sich vor, wie ihr Leben gewesen sein musste, als sie noch ein Kind gewesen war, mit einer Mutter, die sie liebte.

Lächelnd schwebte sie in der großen Wanne. Ein kleines Stück Frieden.

»Alles wird gut!«, flüsterte der Mann und drückte die Hand der Frau fester. Sie war blass, ihr Gesicht voller Schweiß, das Haar klebte in feuchten Locken an ihrem Kopf. Sie stöhnte leise, ehe sie sich auf dem ausladenden Bett zusammenkrümmte und gellend aufschrie.

Sofia beobachtete das Paar aus einer dunklen Ecke des von übel riechenden Kerzen dämmrig beleuchteten Zimmers. Wer waren sie? Wie kam sie hierher? Ein Lichtschein hinter dem großen Fenster lenkte ihre Aufmerksamkeit ab. Draußen herrschte Nacht, doch sie sah den dunklen Herrn, den sie heute im Park getroffen hatte. Er grinste sie hämisch an und gestikulierte vielsagend in Richtung des Paares. Sie runzelte die Stirn, als sie sich den beiden wieder zuwandte.

Die Frau lag auf dem Rücken, den Oberkörper durch viele Kissen gestützt, vollkommen verspannt und unter großen Schmerzen leidend. Über ihren weit gespreizten Beinen wölbte sich ein enormer Bauch. Sie gebar gerade.

Eine Hebamme betrat den Raum. Kam sie erst jetzt zur Hilfe, oder hatte sie nur rasch etwas holen wollen? Sie kniete sich ans Fußende des Bettes und redete beruhigend auf die Frau ein.

Der Mann schien helfen zu wollen, es aber nicht zu vermögen, er umklammerte nur hilflos die Hand seiner Frau, dass seine Knöchel weiß hervortraten, und stammelte immer und immer wieder »Nein, nein, nicht du, Martha, nicht du, bleib bei mir, bleib, oh …«

Entsetzt beobachtete Sofia, wie sich die Scham der Frau weitete und weitete und sich etwas Blutiges, Fleischiges, voller Schleim hindurchzwängte. Die Gebärende schrie, als risse man sie entzwei, und weinte nun heftig.

Übelkeit erfasste Sofia. Sie wandte sich ab. Doch der letzte unheilvolle Schrei der Frau zwang ihren Blick zurück zum Bett.

Das Kind war aus dem Leib der Gebärenden geglitten und lag nun in den Armen des verzweifelten Vaters. Die Mutter sank erschöpft zurück, dann verkrümmte sie sich erneut und stöhnte schwach, bis auch die Nachgeburt blutig und schleimig ihren Bauch verließ. Die Blutung indes hörte nicht auf, mehr und mehr quoll zwischen ihren Beinen hervor und tränkte die dicke Matratze.

Die Hebamme schrie nach ihrer Helferin, die unverzüglich hereinstürmte, die Arme voller Stoffbinden und merkwürdiger Gerätschaften. Der Vater stand wie gelähmt in der Ecke, das leblose Kind nach wie vor in den Armen. Er murmelte unverständliche Worte, zunehmend verzweifelt, je heftiger der Kampf der Hebamme um das Leben der Mutter wurde. Schließlich schrie er fast, mit verzerrtem Gesicht, den Blick gen Decke gerichtet und eine schreckliche Intensität in sich: »SO ERSCHEINE DOCH, ELENDER!«

Wieder entdeckte sie den dunklen Herrn aus dem Park, diesmal im Zimmer, unbemerkt von allen Anwesenden – nur der Vater schaute ihn erleichtert an und reichte ihm das Kind, das immer noch keinen Laut von sich gegeben hatte. Der dunkle Herr nahm es sanft in seine Arme und liebkoste das kleine Gesichtchen.

»Nimm es«, sagte der Vater. »Nimm es mit dir, aber lass mir meine Martha. Ein Leben für ein Leben, das ist es doch, was du forderst, nicht wahr?«

Der dunkle Herr blickte den Vater an und wandte sich dann dem Bett zu. Die Mutter hatte das Bewusstsein verloren. Der dunkle Herr legte nachdenklich den Kopf schief.

»Du bietest mir also das Leben dieses unschuldigen Kindes an? Eine reine, unberührte Seele gegen die deiner Dirne von Frau? Ist das dein Ernst, alter Mann?«

 

»Meine Martha ist keine Dirne. Sie ist fromm und brav. Immer war sie mir eine gute Frau und ich will sie nicht missen. Ein Leben ohne sie ist kein Leben! Nimm das Kind, aber lass mir mein Weib!«

Der dunkle Herr schwieg, das Kind in seinen Armen nach wie vor reglos. Dem Vater schien es unbehaglich, er wand sich regelrecht unter dem Blick des Anderen. Ein Druck schien auf ihm zu lasten, Unruhe, die sich in unkontrollierten, winzigen Zuckungen äußerte.

»So tu es doch!«, rief er schließlich.

Der dunkle Herr lächelte wieder sein ekelhaftes Lächeln. Dann senkte er den Blick zu dem Kind in seinem Arm – wie winzig es aussah! – und streichelte es sanft. Das Baby öffnete die Augen und schrie aus Leibeskräften. Im gleichen Moment, als der Herr dem Vater das Kind in den Arm legte, wandte sich die Hebamme um, erschöpft und angstvoll.

»Knapp war’s, aber sie wird’s schaffen. Achtet gut auf das Kind, es wird Euer einziges bleiben. Reinigt sie und ihr Lager und versorgt das Kleine. Ich komme morgen wieder. Wenn sie beide dann noch leben, wird alles gut.«

Mit diesen Worten gingen die Alte und ihre Helferin. Der Vater sackte an der Wand zusammen, das Kind wieder im Arm. Der dunkle Herr war verschwunden.

Als Sofia erwachte, konnte sie mit den merkwürdigen Traumbildern nichts anfangen. Sie spürte ihnen nach, wartete darauf, dass sie verblassten, aber das geschah nicht. Ihr Badewasser war längst kalt geworden, sie fröstelte. Also erhob sie sich widerwillig, trocknete sich ab und begab sich zu Bett.

Schlafen konnte sie nun jedoch nicht mehr, zu sehr hing ihr die grauenhafte Szene in jenem Schlafzimmer nach, klar und deutlich, aber nach wie vor rätselhaft. Sie spürte eine merkwürdige Vertrautheit, wenn sie an die Hebamme dachte, an die Gebärende, an den verzweifelten Vater. Reiche Leute in einem reichen Hause – das kannte sie eigentlich nur aus ihrer Gefangenschaft. Ihre Eltern hatten bescheiden in einer kleinen Hütte gelebt. Und ihr Bewacher – ganz und gar nicht bescheiden – führte kein offenes Haus. Im Gegenteil, die Villa mit den üppigen Ländereien war nahezu verwaist.

Ansonsten kannte sie niemanden.