Wie ein Regenbogen

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Oft beschränkte sich die gefährliche Abenteuerlust des Pärchens nicht nur auf die Erweiterung ihres Bewusstseins. In sexueller Hinsicht half LSD dabei, das überkommene geschlechtsspezifische Rollenverhalten zwischen Brian und Anita zu verändern. Jones war daran gewöhnt, dass Männer ihre weibliche Beute dominierten. Kam es zum Zeitvertreib mit intimen Spielchen, bestand jedoch Anita darauf, die Führungsrolle zu übernehmen. Durch ihre ausgeprägte Dominanz erforschte sie zahlreiche Ecken und Nischen des Rollentauschs der Geschlechter.

Außerhalb des Schafzimmers zeigte sich in der Öffentlichkeit Pallenbergs ausgeprägte Loyalität gegenüber Brian – die aber manchmal auch bis an eine rasende Eifersucht heranreichte. An einem Abend unterhielt er sich im angesagten Scotch Of St James mit Ronni, einem Model und der Freundin des Musikers Zoot Money. Anita bemerkte das Gespräch, steigerte sich in einen Wutanfall und giftete: „Ich will nicht, dass du dich mit der Schlampe unterhältst.“ Dann drehte sie sich zu Ronni und schlug sie.

Der flüchtige Hauch der Boheme, der die frühsten Tage des Paares kennzeichnete, wurde nun von einer eher gewalttätigen Stimmung verdrängt. Oftmals musste Anita Jones’ Wutausbrüche ertragen und war die Unterlegene. „An einem Tag kam ich zur Wohnung in Chelsea und fand Anita vor, mit blauen Flecken auf dem ganzen Gesicht“, berichtete der Stones-Laufbursche Tony Sanchez. „Es war offensichtlich, dass er sie brutal geschlagen hatte. Als ich sie fragte, was denn geschehen sei, meinte sie; ‚Das geht dich nichts an.‘“

Nach einem besonders brutalen Zwischenfall flüchtete Anita ins Haus einer Freundin, um sich verarzten zu lassen. Früher hatte sie aus Rache schon mal Brians Scalextric-Bahn zerstört oder seine Modelleisenbahnen in der Elm Park Lane verbrannt, aber in diesem Fall war Anita auf eine andere Form der Vergeltung aus. „Ich saß da, in Tränen aufgelöst, und war stinksauer. Meine Wunden wurden behandelt und ich fühlte mich schrecklich“, erzählte sie dem Autor A. E. Hotchner. „Ich beschloss, eine Wachsfigur von Brian anzufertigen und sie mit einer Nadel zu malträtieren. Ich knetete mit Kerzenwachs eine symbolische Puppe, flüsterte bestimmte Worte, schloss die Augen und stach mit einer Nadel in die Wachsfigur. Ich hatte den Magen durchdrungen … Am nächsten Morgen kehrte ich in die gemeinsame Wohnung zurück und fand ihn unter extremen Bauchschmerzen leidend vor. Er war die ganze Nacht wach gewesen und hatte regelrechte Qualen durchlitten. Überall standen Flaschen mit gelöstem Magnesium und anderen Medikamenten. Er brauchte ein oder zwei Tage, um wieder gesund zu werden.“

Marianne Faithfulls Mann, der Galeriebesitzer John Dunbar, konnte aber auch berichten, dass Anita nicht immer die Opferrolle bei der zunehmenden Brutalität einnahm. „Ich erinnere mich an ein Treffen mit Brian, weil es so dramatisch ablief. Es war bei einer Party, und ich kam gerade die Treppe hoch, als er von dieser schönen Frau geschlagen wurde – richtig hart. Es war Anita, die Brian eins verpasste. Sie schlug ihn zusammen. Es war höchst spektakulär und mir blieb die Spucke weg.“

„Anita war nicht einfach die ‚Matratze‘ wie so viele andere Mädchen“, erläutert Stash heute. „Die Frauen wurden damals wirklich schlecht behandelt, doch Anita stand auf und wehrte sich. Sie war ein feuriges italienisches Mädchen. In dem Fall kümmerte sie ihr Geschlecht nicht, denn Anita stand für sich selbst ein.“

Zwischen den eher hitzigen Abenteuern lernte Anita durch Brian die Protagonisten der obersten Schicht der Popszene kennen. Von ihrem Starruhm ließ sie sich allerdings wenig beeindrucken, sondern schätzte diese Menschen nüchtern ein, während sie sich ihr vorstellten.

„Ich war nicht sonderlich aufgeregt, als ich John Lennon kennenlernte“, erzählte Anita dem Romancier und Journalisten Alain Elkann 2017. „Das entspricht nicht meiner Persönlichkeit. Als ich ihm begegnete, empfand ich ihn wie einen Kunststudenten. Ich hatte einen großen Respekt vor Jimmy Page, aber das war es dann auch. Manchmal besuchten wir einen Club namens Ad-Lib, doch ich ging auch allein aus, um mir Pink Floyd oder Jimi Hendrix anzusehen. Mehr durfte ich eigentlich nicht, da die meisten Rockstars chauvinistische Männer waren, die in ihren jeweiligen Lagern steckten. War man im Beatles-Lager oder dem der Who, konnte man nicht zu den Rolling Stones gehören.“

Andere Leute außerhalb des Musikgeschäfts konnten Anita, die sich bereits über einen großen Freundeskreis freuen konnte, doch beeindrucken. Tara Browne war ein 20-jähriger Mann, der im öffentlichen Leben stand. Er hielt sich in den coolsten Locations von Europa auf, doch wie viele andere im Goldrausch Mitte der Sechziger hatte er seine Basis in London, wo er sehr geschätzt wurde. Der Sohn von Oonagh Guinness und Dominick Browne, 4th Baron Oranmore und Browne, war der zukünftige Erbe eines riesigen Familienvermögens, darunter ein 2000 Hektar großes Anwesen in Irland und zahlreiche Vermögensanlagen rund um den Globus.

Der hinsichtlich seines Vermögens die anderen wohlhabenden Aristokraten der damaligen Zeit weit hinter sich lassende Browne konnte problemlos alles unternehmen, was ihm Freude bereitete, und zeichnete sich durch eine ungewöhnliche Intelligenz aus. Er war Ehemann, Vater, Clubbesitzer, Investor, mit Hunderten von Menschen befreundet und hatte ein geradezu enzyklopädisches Interesse, was ihn in Kontakt mit denselben Kulturkreisen brachte, aus denen heraus Anita wirkte. Er hatte Zugang zu den angesagtesten Charakteren Londons, und er unterhielt schon bald eine enge und lebensfrohe Freundschaft mit Brian und Anita. Die beiden wurden von ihren Bekannten bereits als „verwunschene Zwillinge“ bezeichnet, doch durch den „Neuzugang“ von Browne, der einen ähnlichen Gang und auch blonde Haare hatte, wurden sie ein einzigartiges Triumvirat.

Browne konsumierte natürlich auch die damals populären chemischen Substanzen, was als eine Selbstverständlichkeit galt. Das Rasen unter Einfluss der oft stimmungsaufhellenden chemischen Cocktails wurde gelegentlich ein Erlebnis, das er mit Freunden und Bekannten teilte.

„Ich erinnere mich, dass ich bei einem der ersten Acid-Trips von Tara Browne dabei war“, berichtete Anita 1996. „Er besaß einen Lotus-Sportwagen. In der Nähe des Sloane Square wurde plötzlich alles rot, die Bäume entflammten und wir sprangen aus dem Wagen und ließen ihn stehen.“

Es überraschte wirklich keinen, dass man Browne 1966 den Führerschein entzog, was ihn in sicherer Entfernung zur Straße hielt, bis ihn im Dezember des Jahres eine wesentlich tragischere Bestrafung ereilte.

Tara Brownes 21. Geburtstag im Frühling 1966 wurde zu einem Anlass, dem Überschwänglichen und Dekadenten freien Lauf zu lassen. Natürlich war Anitas Anwesenheit obligatorisch. Obwohl zahlreiche Londoner Locations die Feier problemlos ausgerichtet hätten, wurde Brownes Familiensitz Lugga Lodge in den irischen Wicklow Mountains für angemessener erachtet. Das war für den inneren Kreis des Swinging London ein willkommener Anlass, sich massenhaft zu einigen Tagen der Ausschweifungen aufzumachen.

Die Feierlichkeiten sollten am Wochenende beginnend mit dem 23. April starten, also wenige Wochen nach Taras wichtigem Geburtstag. Seinem Stil entsprechend charterte man zwei Caravelle-Passagier-Jets, um die über 200 Partygäste, ein bunt gemischter Haufen aus jungen Aristokraten und der hippen Elite, nach Dublin zu befördern. Zu den Partywütigen gehörten Paul McCartney, der wohlhabende Paul Getty und seine damalige Freundin Talitha Pol, der Designer und Lebemann Christoper Gibbs, der Innenausstatter David Mlinaric, der neue BBC-Moderator David Dimbleby und natürlich Anita, Brian und Mick Jagger, Letzterer zusammen mit seiner Freundin Chrissie Shrimpton.

Um sie alle in Partylaune zu bringen, hatte der kreative Designer Bill Willis gleich eine ganze Flasche LSD mitgebracht und Anita, Brian und Taras Frau schon auf die Reise geschickt, bevor der Flieger mit Kurs auf die irische Hauptstadt abhob. In Dublin angekommen, standen Limousinen bereit, um die Gäste zu der eine Fahrtstunde entfernten Lugalla Lodge zu bringen. In Anitas und Brians Limo saßen auch der Fotograf Michael Cooper, Paul Getty und Talitha Pol.

Die Fahrtroute führte die aufgeregten und erwartungsfreudigen Gäste über die schmalen und sich windenden Straßen durch die spektakulären Wicklow Mountains, eine Landschaft, die, verstärkt und ergänzt durch die LSD-Visionen, ein Gemeinschaftsgefühl entstehen ließ. Irgendwann forderte Brian Jones einen kurzen Halt der Karawane, um sich zu erleichtern. Sie hielten auf einem hoch gelegenen Berggipfel, der einen Ausblick auf das Guinness-Anwesen ermöglichte.

„Das war alles verdammt hart“, erinnerte sich Anita in Michael Coopers Blinds & Shutters. „Wir fuhren in einer Limousine und sahen plötzlich eine tote Bergziege. Wir stiegen alle aus, tickten völlig ab.“

Wie immer war Cooper darauf versessen, die Momente der Euphorie und des Erschreckens einzufangen, die sich vor seinen Augen abspielten. Auf einem Foto sieht man Anita, Brian, Bill Willis und Nicky Browne, die eng beieinander für die Kamera posieren, im Hintergrund die Schönheit des Lough Tay, die zu verschwimmen scheint. Ein eher intimer Schnappschuss zeigt Pallenberg in Jeans und Pullover, flankiert von Jones und der frierenden Nicky Browne. Letztere hat aufgrund der kühlen Frühlingstemperaturen das Gesicht verzogen. Im Gegensatz zu Jones, dem die Erfahrung nicht zu bekommen schien, strahlte Anita, lächelte entrückt durch die chemischen Substanzen, die ihr Bewusstsein zu neuen Horizonten führten. Nach der Ankunft beim Browne-Anwesen starteten die Gäste das, was später als „ein entscheidender Moment in den Sixties“ beschrieben wurde. Laut Nicky Browne in Paul Howards fantastischem Buch I Read The News Tody, Oh Boy spürten sie und Anita etwas Merkwürdiges von Mick Jagger ausgehen. Der Stones-Frontmann befand sich in den Klauen eines aufreibenden LSD-Trips. „Anita und ich dachten plötzlich, dass Mick Jagger der Teufel sei“, berichtete Browne dem Autor. „Wir schlossen ihn im Innenhof ein und rannten dann in den hinter dem Haus gelegenen Wald. Wir hatten Walkie-Talkies bei uns, ich glaube, sie waren ein Geschenk für Tara. Wir standen also im Wald und sprachen da rein … natürlich total paranoid, und beobachteten, wie Mick versuchte, aus dem Innenhof auszubrechen.“

 

Da LSD eine wichtige Rolle bei der Party spielte, verbreitete sich schnell eine Alice im Wunderland-Stimmung. Die Sunshine-Pop-Musiker The Lovin’ Spoonful (eigens von einer UK-Tour eingeflogen) halfen dabei, einen glitzernden Soundtrack zu kreieren für ein Happening, in der Realität und Fantasie miteinander verschmolzen. Diese Konzentration der Londoner-Top-Szene – weit abseits der Hauptstadt – verlieh allen Flügeln. Von diesem Moment an schienen sie die Art von Maßlosigkeit und Überschwänglichkeit erreicht zu haben, von der sie zuvor nur geträumt hatten.


Spiegel sollten länger nachdenken, bevor sie reflektieren.

Jean Cocteau

Eine Welt, die ihr Augenmerk auf London richtete, erkannte schnell, dass das Vereinigte Königreich seinen „Empire“-Status wiedererlangt hatte – obwohl auf eine wesentlich coolere Art als zuvor. Die Popbands des Landes standen weltweit an der Spitze der Charts. Die Mode und der Film wurden von London aus orchestriert und Englands Fußballteam präsentierte an einem warmen Samstagnachmittag den Weltmeisterpokal. Es gab niemals eine bessere Zeit, um sich in Großbritannien aufzuhalten. Für Anita, ein erfolgreiches Model, eng mit den Rolling Stones verbunden und im Zentrum des Swinging London, boten sich geradezu grenzenlose Möglichkeiten.

Wenn man sich London als das kreative Herz Großbritanniens vorstellte, dann war Chelsea der Puls. Historisch für seine phlegmatische Dekadenz berühmt, wurde die Gegend Mitte der Sechziger zu neuem Leben erweckt. Die Kunst war schon immer ein Markenzeichen dieses Stadtbezirks gewesen, doch jetzt lief ihm die Mode mit ihrer zündenden Kreativität den Rang ab. Die Medien machten gern einen netten Ausflug dorthin und berichteten detailliert über die aktuelle Mod-Mode mit ihren günstigen Preisen in der Carnaby Street. Doch schon kurz darauf schossen exklusivere und einfallsreichere Läden aus dem Boden an der King’s Road und um sie herum.

Die Aristokraten der Upper Class schotteten sich traditionell von allem Hippen oder Trendigen ab, doch 1966 wurde eine Brücke errichtet, über die eine kleine Gruppe des betuchten Adels Einlass in die Welt des Coolen fand – und sich dann mit von der Renaissance inspirierter Mode einkleidete. Interessanterweise vollzogen die bekanntesten Boutiquen, statt ein neues Terrain zu erkunden, eine intensive romantische Hinwendung zur britischen Modegeschichte.

Obwohl der Bezirk SW3 durch Mary Quants Boutique und Ossie Clarks Quorum schon eine bemerkenswerte Präsenz in Sachen hipper Kleidung aufwies, wurden die älteren Shops 1966 von neueren, grelleren und moderneren Modetempeln übertrumpft. Innerhalb nur weniger Monate standen Geschäfte wie Granny Takes A Trip, Hung On You und Dandie Fashions für einen Regenbogen-Look, der zu der neuen Atmosphäre passte.

Hung On You wurde Ende 1965 von dem bekannten Michael Rainey (einem bis dahin branchenfremden Geschäftsinhaber) gegründet, der sich in Windeseile einen Celebrity-Ruf erarbeitete, indem er alte Häkelkleider im Regency-Stil verzierte und sie mit modernen Textilien schmückte. Der Designer Christopher Gibbs – ein regelmäßiger Besucher des Geschäfts – erinnerte sich daran, „an Schränken vorbeigeschwebt zu sein, die unter Stapeln gestreifter Satin-Hemden ächzten, und Regalen voll mit Jacken und Hosen in atemberaubenden Streifenmustern, blau, grau und grellbunt“.

Trotz der etwas abgelegenen Lage in der Cale Street, dem kleinen Verkaufsraum sowie den bescheidenen Ankleidekabinen tauchten die Stars aus der Rockmusik und der Modewelt in dem Laden auf. Viele von ihnen erlebten ihre eigene, LSD-inspirierte Renaissance und suchten nach dandyhaften Kleidungsstücken.

Deutlich sichtbarer überragte Granny Takes A Trip die Fashionmeile der King’s Road mit einem oftmals ungewöhnlichen Affront gegen modische Konventionen. In kürzester Zeit gesellten sich noch befremdlichere Shops dazu wie I Was Lord Kitchener’s Thing und Gandalf’s Garden.

„Wir verbrachten ein großartiges Leben in London, in Chelsea – immer und immer wieder Chelsea“, erinnerte sich Pallenberg gegenüber der Times. „Wir gingen oft in die Boutique Granny Takes A Trip, sie reichten mir Kleidung an und ich hing im Hinterzimmer ab und rauchte ’ne Menge Dope. Wir gingen auch immer zu Alvaro’s, setzten uns an einen Tisch, um uns zu zeigen, aber aßen dabei kaum etwas.“

Zwar sah man Anita häufig in den brandaktuellen Boutiquen, doch sie durchwühlte meist Stände mit exotischen Roben, Stoffen und Unmengen an Spitze auf einem der zahlreichen Antikmärkte der King’s Road. Durch die Kombination der gefundenen Klamotten mit der exklusiveren Kleidung, wie sie in den bekannten Boutiquen verfügbar war, schuf Anita – ob sie es schon wusste oder nicht – eine Art ikonenhaften Prototyp dessen, was erst drei Jahrzehnte später als „Boho Chic“ Anerkennung fand.

„Wir gingen in Läden wie Emmerton & Lambert, Hung On You und Granny’s“, erzählt Anita dem Autor Paul Gorman. „Ich stand nicht so auf Mary Quant, da sie mir zu normal war und dieses Mod-Ding und die Op-Art-Klamotten mir nicht zusagten. Und Biba war zu groß. Ich mochte den englischen Look nicht so sehr. In Italien waren Salsa, Mambo und diese ganzen lateinamerikanischen Tänze populär, die mir ein unterschiedliches Lebensgefühl vermittelten. Mein Stil war es also, Filzhüte zu tragen, Gürtel, die knappen Jacken aus den Zwanzigern und Spitze – alles von mir eigens gesammelt. Allerdings trug ich auch Miniröcke, die man mir bei Granny’s nähte.“

„Wir gingen alle zu einem [bestimmten] Verkaufsstand, der viel Second-Hand-Kleidung hatte, auch Schals und Seidentücher“, berichtete Model und Modehändlerin Jenny Boyd. „Oft sah ich dort Anita. Sie zog dein Interesse auf sich, denn sie hatte einen eigenen Stil. Wir wussten, dass Brian ihr Freund war; sie war atemberaubend. Doch im Grunde genommen war sie auch nur ein Teil der ganzen Szene.“

Waren früher die Attribute für ein angesagtes Leben vor allem äußerlich und eher oberflächlich, nahm eine andere Bewegung 1966 in London an Fahrt auf, die sich als weitaus tiefgreifender darstellte. LSD stelle die Konventionen in Frage, die sich auf das Geschlecht und den Lebensstil bezogen, und die Rolle der Frau stand vor einer kritischen Neubewertung, was sich auch in der Mode zeigte. Anita, die ohnehin nicht geneigt war, der Tradition zu folgen, arbeitete schon längst an einer eigenen Identität, die sich meilenweit von den eher unterwürfigen weiblichen Modestilen entfernte. Fotos aus dieser Zeit belegen die schnelle Transformation von einem Minikleid-tragenden Model mit Kurzhaarschnitt zu einer psychedelischen „Zigeunerkriegerin“, bei der ein Regenbogen aus Farben von ihr ausstrahlte. Ihr Stil schlug durch ihre Anwesenheit in einer Gemeinschaft, die Sternenstaub und Glamour versprühte, hohe Wellen.

„Anita hatte eine erlesene, lebendige Eleganz“, schwärmt der Schneider John Pearse, Mitbesitzer von Granny Takes A Trip. „Sie zeichnete sich durch eine einzigartige feministische Grundhaltung aus und war natürlich Europäerin, also nicht wie das damalige ‚Dolly Bird‘ aus der King’s Road. Auch hatte sie diese androgyne Präsenz, die sie etwas härter erscheinen ließ.“

„Sie war einfach herrlich“, erinnert sich die Theateragentin Mim Scala an Anitas Erscheinung. „So kultiviert und intelligent. Sie konnte feiern wie keine andere und war die Königin der King’s Road … eine Klasse für sich.“

„Ich empfand sie als distanziert“, berichtet der DJ und bekannte Szenegänger Jeff Dexter. „Sie war vielen Menschen gegenüber nicht offen. Ich fand sie ein wenig schüchtern, verglichen mit anderen Frauen zu der Zeit.“

Es überrascht wohl niemanden, dass viele Musiker der Londoner Szene schnell in das LSD-Raumschiff einstiegen. Zeitgleich mit den neuen veröffentlichten Sounds wurde der Modestil einer Band durch den enormen kulturellen Einfluss von LSD geprägt und spielerisch transformiert. Innerhalb nur weniger Monate ließ man die Uniformität von Anzügen und Krawatten fallen; en vogue waren kräftige, farbige und eklektische Stile, die eine Art „Fin-de-siècle“-Erhabenheit zeigten. Damit wurde die vorhergehende Moderne überschrieben und ausgelöscht.

Wie auch andere Gruppen, die in lysergische Gefilde abtauchten, verpassten sich die Rolling Stones einen psychedelischen Anstrich. Brian Jones hatte bei der Band bereits die Führung in Sachen Modestil übernommen – ungeachtet seiner Außenseiterstellung –, doch nur wenige führten diese einfallsreiche Neuorientierung auf Pallenberg zurück. Anita bestimmte die Beziehung der beiden und hatte viel Spaß daran, Jones’ modischen Horizont zu erweitern, wobei sie ihn oftmals in eine androgyne Richtung führte. Das Besondere und Bizarre der neuen Accessoires ließ alle bislang bestehenden Geschlechterzuschreibungen verschwimmen, wobei der Austausch von Kleidungsstücken zur Norm wurde.

„Brian und ich bewahrten unsere Klamotten immer gemeinsam auf“, berichtet Anita in The Early Stones. „Er ging immer in die Shops, probierte alles aus und stellte es nach seinem Geschmack zusammen. Er liebte das – und besaß Talent dafür. Damals hatte er seine weißen Hosen längst aufgegeben und zeigte einen ausgewählteren Geschmack.“

„Anita ging in dem neuen Look voll und ganz auf und ermutigte auch Brian dazu“, erinnert sich der Fotograf Gered Mankowitz heute. „Sie reflektierte den extremeren Look, ging total in Mode und Stil auf und übte meiner Meinung nach einen starken Einfluss auf Brian und Keith und dann auch Mick aus. Sie hatte Einfluss und liebte den damals auffälligeren Stil, denn er spiegelte sie selbst wider. [Anita] war definitiv trendy und gehörte zu der eher unangepassten, pseudointellektuellen, glamourösen, elitären Gruppe von Europäern.“

Die psychedelischen Drogen brachten Anitas stahlharter Psyche sicherlich eine Menge an visuellem Spaß, doch sie grub sich auch immer tiefer in Brians Kopf ein, was einige bizarre Reaktionen hervorrief. Während eines LSD-Trips bat Brian Anita darum, ihn „wie Françoise Hardy zu kleiden“. Pallenberg entsprach seinem Wunsch, woraufhin Jones seine Transgender-Tendenzen nach dem Vorbild der Pariser Chanteuse auslebte. Es dauerte noch einige Monate, bis Jones den neuen Stil tatsächlich öffentlich umsetzte, doch die Tür für eine neue Realität hatte sich geöffnet. Ein eher direkter Versuch, sich Mademoiselle Hardy anzunähern, fand zu Beginn 1966 statt.

„Ich war einfach schüchtern und unsicher“, berichtete Hardy gegenüber dem Guardian. „Als mich Brian Anita vorstellte, fühlte ich mich geschmeichelt und geehrt, doch dann hörte ich, wie sie darüber redeten, wer von ihnen sexuell an mir Gefallen fände. Natürlich war es das Letzte, was mich interessierte. Ich war damals unglaublich unschuldig.“

Brian führte die Stones also in der Abteilung Mode an, woraufhin sich die Band einen eher femininen Look gab, eine Veränderung, die sich eindeutig an Brian und Anitas ausgeprägtem Mode-Statement orientierte. Make-up, zuvor der Bühne und dem Film-Set vorbehalten, wurde soziologisch gesehen nun zu einem bedeutenden Ausdrucksmittel für Männer. Gleichermaßen wurde nun Schmuck ungeachtet der Geschlechterrollen getragen, was sich bei den Stones auf Anitas Stil und Einfluss zurückführen ließ. Mick Jagger, damals verloren in einem narzisstischen Strudel, war eindeutig von einem Brian Jones angenervt, der ihn in Bereichen Mode und uneindeutige Geschlechterrollen übertrumpfte.

Da das Cross-Dressing 1966 in der Regel nur hinter geschlossenen Türen und an diskreten Orten stattfand, war die Art der von Anita und Brian zur Schau gestellten Androgynität für die damalige Zeit noch revolutionär. Noch bevor John und Yoko, David und Angie Bowie und sogar Mick und Bianca eine Verschmelzung der einzelnen Identitäten propagierten, waren Anita und Brian das erste wirklich kaum zu unterscheidende Paar. Jones’ Haarlänge und seine Frisur waren der Anitas täuschend ähnlich. Die beiden hatten die Präsenz eines Pärchens, das den mit weit aufgerissenen Augen Flüchtenden aus John Wyndhams Kuckuckskinder gleichkam.

 

„Das Bezauberndste an Anita und Brian“, so der Freund und in London lebende Amerikaner Terry Southern, „war die Tatsache, dass die sich als kultiviert gebenden Gäste im Annabel’s und Scott’s Piccadilly [beides Clubs] wie Bauerntölpel glotzten. Das lag nicht an der zauberhaften Schönheit des Paars, sondern an der verblüffenden Ähnlichkeit.“

„Sie sahen wunderschön aus“, erinnerte sich Marianne Faithfull in ihren 1994 erschienenen Memoiren. „Sie waren das Ebenbild des jeweils anderen, und kein bisschen bescheiden. Ich saß stundenlang da, wie hypnotisiert, und beobachtete, wie sie sich vor dem Spiegel herausputzten und dabei die Kleidungsstücke tauschten. All die Geschlechterrollen verschwanden in diesen narzisstischen Auftritten, bei denen Anita Brian in einen Sonnenkönig, Françoise Hardy oder ihr eigenes Spiegelbild verwandelte.“

„Ich dachte, sie seien Zwillinge“, berichtet der US-Tourmanager der Stones Michael Gruber. „Meine Frau Louise nahm Anita und Brian immer zu Saks mit, dem Geschäft. Sie besuchten niemals die Herrenabteilung. Als sie vom Shopping zurückkamen und ich sah, was Anita und Brian sich zugelegt hatten, fragte ich: ‚Wo habt ihr das denn her?‘ Sie antworteten dann: ‚Louise hat uns in die Frauenabteilung mitgenommen.‘ Dort kauften die beiden sich dann Frauenkleidung, die der Herrenmode damals um Lichtjahre voraus war. Anita besaß diese ganzen Hüte, die Jacketts, die Anstecker und Schuhe – und das trugen sie dann beide.“

Maggie Abbott, Anitas zukünftige Filmagentin, wurde auch Zeugin der bemerkenswerten Uniformität des Pärchens. „Ich wusste erst gar nicht, dass sie sich kannten“, erzählt Maggie heute. „Ich erinnere mich daran, wie ich in das Restaurant Alvaro’s in der King’s Road ging, und da saßen Brian und Anita – es war das erste Mal, dass ich sie beide sah. Und ich dachte: ‚Wow! Was ist denn hier passiert?‘ Es war ein toller Augenblick. Als ich auf sie zuging, schauten sie hoch und begrüßten mich mit einem ‚Hey!‘, worauf ich dachte: ‚Oh mein Gott, sie sind Zwillinge.‘ Sie sahen bis aufs i-Tüpfelchen identisch aus, mit den blonden Ponys und dem Ausdruck in den Augen. Sie fühlten sich so glücklich und wollten, dass es die ganze Welt sieht. Es war ein herzerwärmender Augenblick. Dieses freche Grinsen und ihre totale Freude – in dem Moment schien einfach die Sonne. Ich werde das nie vergessen.“

Die beiden standen für den modernen Regency-Look und wurden oft dabei gesehen, wie sie in London ähnlich zwei gehobenen Aristokraten aus einem anderen Zeitalter herumstolzierten. Um seinen neuen Status mit Anita zu unterstreichen, wechselte Brian sein Transportmittel und stieg von einem Humber in einen von einem Chauffeur gefahrenen Rolls Royce Silver Cloud um (den er George Harrison abkaufte). Wenn er und Anita ausstiegen, freuten sich die Schaulustigen immer.

„Sie waren ein magisches Paar“, erinnert sich Timothy Allen an die Zeit, in der er 1966 im Hung On You arbeitete. „Sie glichen sich so sehr. Ich war einmal im Granny Takes A Trip, wo die beiden Klamotten ausprobierten. Als sie den Laden verließen, nahmen sie mehrere Treppenstufen auf einmal. Draußen stand diese dicke Rolls-Royce-Limo mitten auf der Straße geparkt, und sie hechteten sprichwörtlich da rein. Um den Schlitten scharte sich eine Menschentraube, als würde da eine Art Märchen aufgeführt. Es war ein außergewöhnlicher Moment.“

Im Oktober 1966 zog auch Dandie Fashions von der eher unbekannten Lage in Queen’s Gate Mews, South Kensington, in die King’s Road. Zum Teil von Tara Browne als Ausstellungsfenster für seine „Foster and Tara“-Linie finanziert, gab das Geschäft bekannt, dass es plane, Anita und Brians einzigartigen Stil aktiv mit einem exklusiven Modelabel zu vermarkten. Trotz einiger Medienfanfaren realisierte sich das potenziell attraktive Sortiment niemals. Für Brian Jones (und später Jimi Hendrix) wurde Dandie Fashions der bevorzugte Shop, wohingegen Anita es wie immer vorzog, modische Accessoires aus verschiedenen Quellen zu sammeln.

Die Mainstream-Medien brauchten noch einige Monate, bis sie über das schrieben, was die Szenekenner schon längst wussten. In der Vogue im November 1966 wurde weltweit über Anitas und Brians verblüffende Einheit berichtet.

Texte und Fotos waren schon früher in dem Jahr fertiggestellt worden; veröffentlicht wurde der zweiseitige Artikel „Girls Dress Men To Suit Themselves“ in der Sonderbeilage Men In Vogue, wobei die Schlagzeile eine exzellente Zusammenfassung des Modestils der beiden war, bei dem sie Kleidung austauschten, aber immer zueinander passten. Der folgende Satz aus der Reportage spricht Bände über die Beziehung: „Wenn ein Mädchen mit überzeugenden Ideen die Kleidung für einen Mann mit ebenso überzeugenden Ideen auswählt und beide mit dem Resultat glücklich sind, ist das sehr schön (wenn nicht sogar wunderbar).“

Der Bericht beschrieb danach Anitas Shopping-Präferenzen für Männer. „Brian Jones, ein Rolling Stone“, hieß es, „in einem Zweireiher mit roten und weißen Nadelstreifen, ausgewählt von Anita Pallenberg. Ein knalliges pinkes Hemd, ein scharlachrotes Einstecktuch und eine Krawatte. Gekauft in New York. Die schwarz-weißen Schuhe stammen aus der Carnaby Street.“

Anita und Brian teilten sich mit Tara und Nicky Browne die Seiten des Artikels – beide Paare wurden von Michael Cooper, dem Fotografen der Stunde, meisterhaft abgelichtet. Die Brownes waren der Inbegriff der luxuriösen „Aristos“ des Swinging London, doch Anitas und Brians majestätische Präsenz machte dem Modestil alle Ehre. Obwohl man die von Anita für Brian gekauften Kleidungsstücke in dem Artikel auflistete, stand das sicherlich nicht gestellte Foto hinsichtlich der Wirkung weit über der textlich coolen Aussage. Es wurde in Robert Frasers Mayfair-Wohnung aufgenommen und zeigt die beiden Hand in Hand, jedoch mit einander zugekehrtem Rücken. Die beiden liefen vermutlich wie übermütige Teenager einige Zeit durch Frasers Wohnung, bis der Fotograf genügend Material hatte. Jones wirkte in seinem Nadelstreifenanzug eindeutig konservativer als die kichernde Anita (Brian kitzelte ihre Handinnenflächen), doch ihre starke Präsenz zeigte der Welt, wer die Beziehung bestimmte.

Das Auftreten des Paares als Duo blieb in der Branche des professionellen Modelns nicht unbemerkt. Um der Modeexplosion von Chelsea Rechnung zu tragen, gründeten die Szenekenner Mark Palmer und Alice Pollock 1966 English Boy, eine Model-Agentur, deren Intention darin bestand, „das Image der britischen Männerwelt zu verändern und den jungen Mann statt einer jungen Frau auf das Magazincover der Zukunft zu bringen“. Die Agentur hatte ihre Büroräume in dem Gebäude 32 Radnor Walk – zwei Stockwerke über Pollocks Quorum – und war so exklusiv, das zuerst nur zwölf ausgewählte Persönlichkeiten auf die Kundenliste kamen.

In seltenen Fällen machte man dann aber doch schon mal eine Ausnahme vom Geschlecht als Auswahlkriterium und nahm auch Anita, zusammen mit der Skandal-Königin Christine Keeler, Jaggers damaliger Freundin Chrissie Shrimpton und Keith Richards „Betthupferl“ Linda Keith, in die Kartei auf. Unter einem grandiosen Foto von Anitas Karte bei English Boy stand die unsterbliche Zeile „Anita ist zu schön, um aus dem Bett aufzustehen“ (der mittlerweile abgedroschene Spruch wurde Jahrzehnte später von Naomi Campbell erneut aufgegriffen). Anitas Tageshonorar lag bei 175 Pfund (was heutigen 1000 Pfund entspricht), doch trotz ihres Celebrity-Status fand sie keine nachhaltigeren Aufträge durch English Boy. Neben dem Angebot der Exklusivbuchung von Anita wurden Jones und Pallenberg als Paar angepriesen, aber nur für „besonders exklusive Aufträge“. Da schon damals das Alter so wichtig wie das Aussehen war, frisierte man Anitas Geburtsdatum, und auf der Karteikarte stand statt 24 Jahre nur „um die 20“, eine Finte, die später viele verwirrte. Laut dem ehemaligen Manager Jose Fonseca war die Agentur „ziemlich chaotisch“, und so kann es kaum überraschen, dass die beiden nur kurz bei English Boy waren.

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