Wie ein Regenbogen

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In ihrer Jugend sah Anita in einem Restaurant zufällig Dado Ruspoli, den „Prinzen des Hedonismus“, einen Playboy, dessen berühmt-berüchtigtes Leben ein zündender Funke für Fellinis La Dolce Vita wurde. Anitas flüchtiger Eindruck sollte auch später noch Bestand haben. „Er benahm sich sonderbar“, erinnerte sie sich an die kurze Begegnung mit dem gekünstelt gelangweilt wirkenden Ruspoli. „Später fand ich den Grund dafür heraus.“

Als ihre frühen Interessen gab Anita Archäologie und Anthropologie an. Die Museen der Stadt waren für sie weitaus attraktiver als die Klassenzimmer. Doch schon bald wurden ihre Interessen wie von einem instinktiven Verlangen in andere Bahnen gelenkt. Ihre Neigung, sich mit eher zwielichtigen Elementen zu umgeben, erfüllte ihre Eltern mit Besorgnis. Sie brachten Anita für ihre weitere schulische Ausbildung von Italien nach Deutschland, in das exklusive Internat „Landheim Schondorf“ am Ufer des Ammersees in Bayern. Zu den Schwerpunkten des Lehrplans gehörten auch landeskundliche Themen, was Anitas Eltern nur recht war, die wollten, dass die Tochter ihr deutsches Erbe zu würdigen wusste und ihre Sprachkenntnisse vertiefte.

Doch das Leben im Landheim Schondorf – dort herrschte mit 180 Jungen und nur 20 Mädchen ein starkes Ungleichgewicht zwischen den Geschlechtern – übte kaum einen Einfluss auf Anita aus. Sie beschrieb es später als „dekadent“ und erinnerte sich daran, dass viele Mitschüler stramme Nazis als Eltern hatten.

Dennoch konnte sie einige Jahre in dem Internat glänzen und erhielt außergewöhnlich gute Noten in naturwissenschaftlichen Fächern, in Latein und Töpfern. Im Landheim Schondorf zeigte sich auch Anitas Interesse an den Arbeiten von Franz Kafka, dem deutschsprachigen Autor, dessen Themen wie das der Isolation bei ihr einen hohen Grad an Skepsis gegenüber Autoritäten anregten. Auch zeigte sie beeindruckende linguistische Fähigkeiten und beherrschte im Alter von nur 15 Jahren vier Sprachen fließend. Dieses außergewöhnliche mehrsprachige Können verblüffte ihren Vater, der sie ermutigte, die Laufbahn einer Sekretärin einzuschlagen. Allerdings war es damals schon mehr als offensichtlich, dass das Schicksal für Anita nie ein Leben hinter einem Schreibtisch bereithielt. Neben dem Segeln auf dem Ammersee und den gelegentlichen von der Schule veranstalteten Skifreizeiten gab es andere Ablenkungen vom Alltag wie Rauchen, Trinken und nicht zu vergessen die verführerische Nähe zu München. Anita entschuldigte sich regelmäßig beim Landheim Schondorf, verließ das Grundstück und fuhr die 50 Kilometer per Anhalter zur Stadt, um sich von der raueren Energie packen zu lassen.

Ihr freigeistiges Verhalten und der Hang zur „Wanderlust“ stellten die Reglementierungen des Landheims Schondorf auf eine schwere Bewährungsprobe. Da sie oftmals abwesend war und nicht sonderlich daran interessiert schien, sich dem Lehrplan unterzuordnen, riss der Internatsleitung der Geduldsfaden und Anita wurde von dem Internat verwiesen – nur sechs Monate vor ihrem Abitur.

Nach der vorzeitigen Entlassung zeigte sie weiterhin Präsenz in München. Den Unterricht habe sie abgebrochen, „um [für eine gewisse Zeit] ein wenig Geld zu verdienen“. Sie fand besonderes Gefallen in dem damals eher links orientierten Schwabing, einer Gegend reich an Bars und Clubs, in denen sich größtenteils bohemienhafte Cliquen herumtrieben. Ohne einen zur Universität qualifizierenden Schulabschluss wurde Anita an einer Kunstschule in der Stadt angenommen. Dort hatte sie ihr erstes sexuelles Erlebnis, obwohl eher unwillkommen. Es sollte eine ihr weiteres Leben bestimmende Episode bleiben. Ein anderer Student hatte einige ihrer Kunstbücher einem Freund geliehen. Nachdem Anita die Bücher bei dem ebenfalls in der Stadt lebenden Unbekannten aufgestöbert hatte, versuchte dieser, sich ihr mit Gewalt zu nähern.

Diese grenzüberschreitende Erfahrung veränderte Anitas Verhalten für eine gewisse Zeit, in der sie die intime Freundschaft zu jungen Frauen vorzog. „Ich ging mit Frauen“, erzählte sie später. „Ich war total gegen Männer, fand sie so widerlich und ignorierte sie einfach.“

Nach dem abgeschlossenen Kunstkurs folgte eine kurze Zeit, in der Anita ziellos durch Europa trampte, bis sie im Sommer 1959 nach Rom zurückkehrte. Sie strebte hoffnungsvoll eine künstlerische Laufbahn an und erhielt auch tatsächlich ein Stipendium für die angesehene Accademia di Belle Arti di Roma, wo sie Grafik und Design sowie Bildrestauration zu studieren begann.

Damit stand ihr der Weg zu einer existenzsichernden Ausbildung offen, aber sie erreichte keinen Abschluss ihrer Studiengänge. Wie früher schon, fand sie es weitaus spannender, mit einer Meute cooler Italiener abzuhängen. Die Hauptstadt schien sich im Sommer 1959 wie ein Karussell der Abenteuer und der Lebenslust zu drehen. Diese Lebensfreude und das süße Leben Italiens wurden von Frederico Fellini mit dem Dreh von La Dolce Vita eingefangen. Da die Filmaufnahmen an über 80 Plätzen in Rom stattfanden, gelang es Anita, die Bekanntschaft des Regisseurs zu machen und noch weitere Persönlichkeiten der Filmbranche wie Pier Paolo Pasolini und Luchino Visconti kennenzulernen. Ihre ständige Präsenz am Filmset führte dazu, dass die Crew sie während der Aufnahmen als eine Art Maskottchen adoptierte. Wegen ihres Geschmacks für das Seltene und Exotische beschrieb man Anita bald als eine Pariolina, eine distanzierte und eher kühle, aber dennoch moderne Bewohnerin Roms. Chic und deutlich erkennbar in den angesagten Bars und Cafés der Hauptstadt, erwarb sich die 17-Jährige mit der Bubikopffrisur einen gewissen Bekanntheitsgrad in der Hauptstadt.

„Ich ging in der ‚Dolce vita‘-Stimmung der Stadt auf“, berichtete sie 2002. „Ich erinnere mich an Nico und Donyale Luna – das erste schwarze Model –, die durch die Straßen Roms schlenderten.“

Während dieser frühen Jahre in Rom stellte die unter dem Namen Christa Päffgen geborene Nico für Anita eine außergewöhnliche Reflexionsebene dar. Blond, in Deutschland geboren, mehrsprachig und mit Interessen, die sich zwischen dem Leben eines Models und dem Film bewegten, belebte sie mit ihrer beeindruckenden „andersweltigen“ Ausstrahlung eine Umgebung, in der Schönheit und Talente ohnehin schon reichlich vorhanden waren. Die einige Jahre ältere Nico warf auf gespenstische Weise einen Schatten auf Anitas Leben in den folgenden Jahren.

Dem prägenden Einfluss des Rock’n’Roll in der damaligen Zeit konnte sich auch Anita nicht entziehen. Wie viele andere Jugendliche rund um den Globus wurde sie von den wilden Sounds gepackt, die aus jedem Club, jeder Bar und jedem Transistorradio dröhnten. „Als Teenager entdeckte ich den Rock’n’Roll“, berichtete sie im Mojo 2003. Auf die Frage nach der ersten selbst gekauften Platte antwortete sie: „Das war ein Fats-Domino-Album – Blueberry Hill. Er war jemand, auf den ich abfuhr. Es ging darum, gegen die klassische Musik zu rebellieren, mit der ich zu Hause aufwuchs.“

Trotz der aufregenden Freizeitmöglichkeiten, die Rom zu bieten hatte, tauchte Anita sporadisch überall in Europa auf. Unterkunft fand sie, indem sie die Familienkontakte in Deutschland, Spanien und Frankreich nutzte. Beim Besuch einer Tante im August 1961 wurde sie Zeugin des Mauerbaus in Berlin. Im darauffolgenden Jahr – während eines Verwandtschaftsbesuchs in Hamburg – machte sie einen Streifzug durch den schmuddeligen Reeperbahn-Bezirk. Sie bummelte über die Große Freiheit, besuchte den Star-Club und hörte sich eine unbekannte Band aus Liverpool an. Trotz ihres Hangs zum Rock’n’Roll fand Anita die „grundschülerhafte“ Uniformität der Beatles wenig beeindruckend und war ganz und gar nicht begeistert von der Band.

In Rom wurde Anita stets aufs Herzlichste willkommen geheißen, und so gelang es ihr immer mühelos, sich wieder in die dortige Szene einzufügen. Die Stadt war dafür bekannt, Künstler jeglicher Couleur anzuziehen, und die aufstrebenden neuen Gruppierungen begannen immer mehr Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. Zwar dominierte noch die traditionelle Kunst, doch es gab auch eine nennenswerte progressive Bewegung – Teil der sogenannten zweiten Welle, die man auch als „Scuola Romana“ bezeichnete –, deren Vertreter sich als Affront gegen die Accademia di Belle Arti verstanden und sich mit großer Freude entsprechend darstellten.

Die Abtrünnigen trafen sich an bestimmten Versammlungsorten wie Bars und Kaffeehäusern, besonders im Caffè Rosati und auf der Piazza del Popolo. Da Anita keinen konkreten Lebensentwurf hatte, hing sie gerne mit der künstlerischen Avantgarde der Stadt ab und ließ sich von den radikalen Ansichten beeinflussen, die inmitten von Kaffee, Wein und Tabakrauch die Runde machten. Diese eng verschworene Gemeinschaft von Schriftstellern und Künstlern war so exklusiv und mit sicherem Instinkt verbunden, dass sie sogar einen Spitznamen für ihren Clan prägte – „I Panteri di Piazza del Popolo“ – („Die Panther der Piazza del Popolo“).

„Das Caffè Rosati wurde von – ich würde es die Spitze der Avantgarde nennen – besucht“, reflektierte Anita 2017. „Dort trafen sich Dichter wie Sandrino Perinna (sic), Maler wie Turcato und Guttuso und Schriftsteller wie Moravia. In dieser Zeit sah man nur wenige Schauspieler oder Regisseure wie Fellini und Antonioni. Die Gruppe war nicht groß, vielleicht 30 oder 40 Personen, während der Rest der Welt das machte, was er heute immer noch macht. Uns zeichnete eine besondere Intensität aus, das Verlangen, alles zu durchdringen und unser Leben in die eigene Hand zu nehmen. Wir waren sehr kreativ, sehr positiv, enthusiastisch und überhaupt nicht ängstlich, wir waren die Erforscher und lebten einen abenteuerlustigen Geist aus.“

Mit seinem Ruf, Europas glamouröseste Stadt zu sein, zog Rom Magazine und Journale an, die Reflexionen des femininen Glanzes an ikonischen Locations einfangen wollten. Einige hochkarätige Modemagazine gaben kostspielige luxuriöse Foto-Shootings an bekannten Orten in Auftrag (wobei sie die Crème de la Crème der Models buchten), während andere auf den Straßen die zufällig vorbeiziehenden Schönheiten vorzogen.

 

Der Playboy gehörte zu den Magazinen, die ihre Leser mit Roms verführerischem Reiz in ihren Bann ziehen wollten. Bedenkt man, dass „Dolce Vita“ ein Schlagwort für sonnenverwöhnte Lebenslust geworden war, wird klar, dass ein ausführlicher Bericht auf mehreren Farbseiten als eindeutiger Kaufanreiz gesehen wurde. In der Februarausgabe 1962 erschien der Artikel „Die Mädchen von Rom (ein Lorbeerkranz für die wunderschönen Signoras der ewigen Stadt)“. Der farbenfrohe Bericht präsentierte neun – erstaunlicherweise sittsam bedeckte – weibliche Persönlichkeiten der Stadt. In dem Mix aus Models, Schauspielerinnen und Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens war Anita Pallenberg ebenso vertreten wie einige Stars.

Anita wurde außerhalb des Caffè Rosati aufgenommen, während sie „einen Espresso in einem Straßencafé trank“, doch die Einstellung vermochte nicht ihre enorme Präsenz einzufangen. Sie trug ein Kopftuch und hielt eine Zigarette in einer Hand. Anita gab sich entrückt und unbestimmt, ein Image, das ausdrückte, dass sie mit nur 19 Jahren ihre Umgebung mühelos kontrollierte. Obwohl es noch zwei Jahre dauerte, bis ihr einzigartiges Charisma erneut mit der Fotokamera erkundet wurde, schien ihr Potenzial – egal, welche Richtung sie einschlagen sollte – grenzenlos zu sein.

In ihrem Alter und bei ihrer Energie ergaben sich zu dieser Zeit zahlreiche Beziehungen, die aber typischerweise von flüchtiger Natur waren und lediglich einen Übergang darstellten. Eine kurze Liaison mit dem bekannten Fotografen Gianni Penati sollte ihren Status erhöhen. Als seine Geliebte und Begleiterin unternahm sie mehrere Überseereisen. Im Lauf des Jahres 1963 traf sie jedoch auf eine Persönlichkeit, die den wohl nachhaltigsten Eindruck in ihrem bisherigen Leben hinterlassen sollte.

Mit 29 war Mario Schifano gute acht Jahre älter als Anita, doch das Alter spielte bei einer Gemeinschaft niemals eine Rolle, bei der Talent und Einstellung zählten. Obwohl sich Schifano unter supercoolen Leuten wiederfand, war er mehr als nur ein Gesicht in der Menge. Der Künstler, der Kollagen anfertigte, malte, Filme machte und gelegentlich auch Musik, stellte die lebende Verkörperung der Grundhaltung der europäischen Postmoderne dar.

1934 in der libyschen Stadt Al-Chums geboren, entfloh Mario den Konventionen schon in einem jungen Alter bei jeder sich bietenden Möglichkeit. Nach dem Umzug nach Rom zeigte er, ähnlich wie Anita, ein eher beiläufiges Interesse an der Schulausbildung und verbrachte mehr Zeit mit seinem Vater, dem er bei der Keramikrestauration im Etruskischen Nationalmuseum assistierte. Später studierte er Bildrestauration und begann gleichzeitig mit der Kreation eigener Werke. Wagemutig, einfallsreich und provokant präsentierte Schifano eine aufsehenerregende Reihe von gelben Monochrom-Arbeiten. Die zuerst 1959 in der Appia Antica Gallery ausgestellte Sammlung wurde weithin beachtet. Obwohl er einen großzügigen, warmherzigen Charakter hatte, war Schifano völlig auf seine Karriere fixiert, wobei er sich kaum Zeit nahm, um sich mit Kritik oder Ratschlägen auseinanderzusetzen.

Zuerst lag seine künstlerische Daseinsberechtigung vornehmlich darin, sich provozierend dem Einfluss der steifen römischen Kunstakademie entgegenzustellen, doch dann verbreitete sich der Ruf seines außergewöhnlichen Talents in ganz Europa. Mit zunehmendem Selbstvertrauen nahm Schifanos multimedialer Kunstansatz einen größeren Raum in der Öffentlichkeit ein. Er interessierte sich besonders für die urbane Werbung und die Funktionalität von Straßenschildern und etablierte später einen seltenen europäischen Pop-Art-Ansatz.

Marios gutes Aussehen und sein geschmackvoller Kleidungsstil wurden von einer eher zurückhaltenden Präsenz unterstrichen, die seine Anziehungskraft zusätzlich erhöhte. Anita hatte bereits die Bekanntschaft der meisten Kunstkenner Italiens gemacht, doch Schifano begegnete sie erst 1963. Beide hatten an der Akademie studiert, doch trafen sich erstmalig außerhalb des „freigeistigen“ Caffè Rosati.

Anita erinnerte sich 2017: „Ein faszinierender Mann. Sehr schüchtern, mit einem Hauch des Unverschämten, doch allgemein ein sanftmütiger Charakter. Er trug immer ausgesuchte Kleidung, Hemden von den Brooks Brothers und seine Jacketts ließ er von Osvaldo Testa anfertigen, einem Halb-Amerikaner. Clarks-Desert-Boots, khakifarbene Hosen und sehr schmale Krawatten gehörten auch zu seinem Modestil. Schifano sah wie ein sensibler Mensch aus, hatte ein sehr zartes Gesicht, sehr süße Augen und ein beinahe kindliches Lächeln.“

Ihre Welten verschmolzen in vielerlei Hinsicht, wodurch eine feste Beziehung entstand, die Anita veranlasste, in Schifanos Apartment einzuziehen. Fotos des Pärchens aus dieser Zeit zeigen eine warmherzige Symbiose – Anita wirkte völlig vernarrt und Mario mehr als zufrieden, solch eine attraktive Geliebte an seiner Seite zu wissen. Gemäß seiner Lebensmaxime ermutigte er Anita, ihr Schicksal in die eigene Hand zu nehmen, wurde ihr Mentor und half ihr dabei, ihre „Menagerie“ aus Träumen und Ambitionen zu verwirklichen. Durch ihre Lebenseinstellung zogen die beiden gemeinsame Freunde an.

Schifanos Kontaktliste erstreckte sich weit über die Grenzen Italiens, und er stellte Anita dem Kunsthändler Robert Fraser vor, einem in der Welt herumtingelnden Geschäftsmann, dessen Mobilität in der Kunstszene die der meisten zeitgenössischen Londoner bei Weitem überstieg. Der stolze, intuitive und in sexueller Hinsicht abenteuerlustige Eton-Abgänger und ehemalige Army-Angehörige hatte die von seiner Klasse diktierte Erwartungshaltung schon weit hinter sich gelassen. Seine Ablehnung der Konventionen grenzte schon an Abscheu, woraufhin er sich genüsslich in der Welt des Bizarren und Verbotenen herumtrieb. Dieser ungewöhnliche Charakterzug wurde später als „Gourmet-Promiskuität“ beschrieben.

Die Armee konnte Frasers Lust auf das Kuriose und Exotische keineswegs befriedigen (er beschrieb diese Lebensphase als „13 Monate quälender Langeweile“), doch ein Geschenk seiner Mutter von über 10.000 Pfund ermöglichte es ihm, sich der Kunstwelt zu nähern. Er versuchte sein Glück mit einigen New Yorker Galerien und führte Beziehungen mit Ellsworth Kelly und Jim Dine. Fraser legte mehr als einen Finger auf den Puls der Zeit. Während einer seiner regelmäßigen Europareisen erfuhr er von Mario Schifanos aufgehendem Stern und erhob den Künstler in seinen Freundeskreis. Da sich Mario von Frasers Blick für das Schräge und Ungewöhnliche beeindruckt zeigte, entstand schnell eine tiefe Verbundenheit. Daher überrascht es auch nicht, dass Anita bald in Frasers Zirkel auftauchte.

„Ich lernte Robert durch Mario kennen“, erinnerte sich Pallenberg 1999 gegenüber der Autorin Harriet Vyner. „Er sprach ständig über die Künstler der Pop-Art. In Rom gab es einige Galerien, und Mario meinte scherzhaft, dass Robert der Einzige war, der dorthin ging und sich die Bilder ansah.“

1962 eröffnete Fraser eine Galerie an der Duke Street 69 in London, die seinen eigenen Namen trug. Innerhalb des verstaubten und traditionalistischen Mayfair war sie eine sprichwörtliche „Landmine“ und entwickelte sich zu einer Art Leitstern für das Schräge, Außergewöhnliche und Ungewöhnliche. Schon nach kurzer Zeit stellten dort unter anderen Richard Hamilton, Bridget Riley, Peter Blake und Eduardo Paolozzi regelmäßig aus, während ein begehrter Abschnitt der Räumlichkeiten den Ikonen aus Übersee vorbehalten blieb wie zum Beispiel Andy Warhol und Jean Dubuffet.

Von Fraser eingeladen, ihn auf heimischem Terrain zu besuchen, nahm Mario Anita mit in die Metropole, noch bevor sie sich in das „Swinging London“ verwandelte. Wie sich Anita später erinnerte, begann die Pilgerreise in Frazers Welt mit einer Mahlzeit in dem protzigen französischen Restaurant Chez Victor im Londoner Westend. Bei diesem frühen Gipfeltreffen aufeinanderprallender Kreise waren einige Persönlichkeiten anwesend, die Eingang in Anitas sich ständig füllendes Notizbuch fanden: der Designer und ihr zukünftiger Model-Agent Christopher Gibbs und der Aristokrat Mark Palmer. Frasers Modegeschmack war so wundersam wie seine Kunstauffassung. Anita erzählte, dass er bei dem Treffen einen aquamarinfarbenen Anzug trug, der den Anwesenden die Tränen in die Augen trieb.

Durch die Bekanntschaft mit Gibbs und Fraser hingen Mario und Anita mit Londons aufblühender, cooler Aristokratie ab. Sie verbrachten ihre Zeit im Haus von Lord Harlech (David Ormsby-Gore) im Stadtteil Chelsea, wo sie seinen Kindern Jane, Julian sowie Victoria Ormsby-Gore begegneten. Die Teenager tauschten während des erstes Aufkommens der Beatlemania mit den Gästen Informationen über die neuen Bands aus, die Europa eroberten.

Trotz des stetig ansteigenden Erfolgs auf dem Kontinent träumte Mario davon, auch in New York Fuß zu fassen, denn 1963 war die Stadt das Epizentrum der modernsten Kunst und meilenweit von den erstickenden Beschränkungen Roms entfernt.

Ein Jahr zuvor waren Schifanos Arbeiten Teil der „New Realists“-Ausstellung in der Sidney Janis Gallery in New York gewesen. Zwei seiner Bilder hingen neben Werken von Andy Warhol, Roy Lichtenstein, Claes Oldenburg und Jim Dine. Schifanos gefühlsbetonte Präsentation schlug bei der gefeierten Zusammenkunft hohe Wellen, woraufhin ein Kritiker schrieb, dass der Italiener „die Party im Sturm genommen hat“. Da sein Name nun im Big Apple die Runde machte, war die Anziehungskraft New Yorks für ihn überaus stark.

„Er redete ständig von Rauschenberg und Jasper Johns“, beschrieb Anita den überwältigenden Einfluss, den die beiden Künstler auf Mario hatten. „Amerika war wie ein Traum, eine andere Welt. Eines Tages sagte ich zu ihm: ‚Ich habe einen Cousin, der in New York lebt, und auch einen Onkel, dem ein Reisebüro gehört.‘ Er verschaffte uns Karten, die wir nicht sofort bezahlen mussten, und wir entschieden uns, [Rom] zu verlassen. Wir hatten das Gefühl, es sei der richtige Moment.“

Die beiden reisten Anfang Dezember 1963 ab. Sie hatten die Tickets nur wenige Tage nach dem Attentat auf Präsident Kennedy reserviert. Bevor sie Rom verließen – die Nachricht ihres Neubeginns wurde in der Künstlergemeinschaft der Stadt heiß gehandelt –, wurden sie von einem lokalen Bildhauer angesprochen, der sie bat, einem seiner amerikanischen Freunde ein Päckchen zu übergeben. Der Empfänger war der New Yorker Mafiaboss Vito „Don Vitone“ Genovese.

Als sie Neapel zur Überseefahrt mit dem Transatlantikschiff Christoforo Colombo erreichten, stellten die beiden fest, dass sie dank der Beziehungen von Anitas „Reisebüro-Onkel“ in einer besseren Klasse reisten. Pallenberg erzählte, dass ihr bei der Überfahrt die Kluft zwischen den Klassen deutlich aufgefallen war, da die Ärmeren und Auswanderer in den Kabinen unter Deck hausten, wohingegen die gut betuchten Reisenden eine erheblich luxuriösere Unterbringung genossen. Während der neuntägigen Reise nach New York musste das Schiff einige schreckliche Stürme überstehen. Einmal wurde es so schlimm, dass man die Möbel am Boden festnagelte. Weder Anita noch Mario wurden seekrank, und wenn es das Wetter erlaubte, genoss das Paar die atemberaubende Aussicht. Als leidenschaftlicher Fotograf dokumentierte Schifano das Leben an Bord der Christoforo Colombo, und wie sein Portfolio der Überfahrt beweist, gestattete er auch anderen Reisenden, mit seiner Kamera Fotos von dem glücklichen Paar zu machen. Auf seinem und Anitas Gesicht war deutlich die Vorfreude zu erkennen, während sie sich New York näherten.

Wie abgesprochen, trafen die beiden am Dock von Ellis Island Vito Genovese in einem schwarzen Taxi, der die beiden – nachdem das Päckchen sicher übergeben worden war – durch die Stadt zu Anitas Cousin brachte, wo sie sich erst mal ausruhten. Unmittelbar nach Kennedys Tod schien die ganze Stadt mit einem traurig-dunklen Farbton eingefärbt zu sein.

„Ich werde niemals vergessen, wie wir New York erreichten“, erinnerte sich Anita 2017. „Auf der 42nd Street sah ich all die Anzeigetafeln und Plakate mit einem schwarzen Rahmen. Als Hinweis auf Kennedys Tod hatte man auch zahlreiche Plakate mit Schwarz übertüncht.“

Auch wenn sie in einer Stadt ankamen, die in einen Nebel des Trauerns eingehüllt war, zeigte sich deutlich das Gefühl der Befreiung aus den italienischen Gegebenheiten. Schifano schrieb einem Freund: „Ich fühle mich großartig, so weit von dem wählerischen, nutzlosen Rom entfernt zu sein.“

Nach der Ankunft bei Anitas Cousin versuchte sich das Paar so gut wie möglich einzuleben. Sie wohnten in einem der wohlhabenderen Bezirke der Stadt, denn Anitas Cousin hatte eine leitende Position bei dem einflussreichen Nachrichtenmagazin Newsweek inne. In dem Haus wohnte auch Anitas Onkel, der die eher liberalen Ansichten der Gäste überhaupt nicht teilte. Schnell stellte sich eine gegenseitige Antipathie heraus. Anita erinnerte sich 2017: „Wir machten in der weißen amerikanischen Umgebung eine schlimme Zeit durch. Mario stritt sich ständig mit meinem Onkel. Er war ein weißer Mann, der sich von der Überlegenheit seiner Rasse überzeugt zeigte und überhaupt nicht fortschrittlich dachte.“

 

Bei dem Versuch, seinen Traum zu verwirklichen, hatte Schifano große Probleme, sich in die Künstlerkreise der Stadt zu integrieren. Anita beschrieb einige der Charaktere als „verdammt eklige Typen, zynisch und snobistisch … [Sie] dachten, die Italiener wären auf keinem hohen Niveau, und wollten weiterhin nur mit den eigenen Künstlern Geld verdienen.“

Der Dichter und Warhol-Mitarbeiter Gerard Malanga erinnert sich. „Da war der gut aussehende junge Typ aus Italien – ein äußerst charmanter Mensch und höchst talentiert. Und er kam in die New Yorker Szene in der Erwartung, dass man ihn willkommen hieß. Doch leider verfügte er über keine hilfreichen Kontakte in der Stadt.“

Mario und Anita bauten dann aber eine enge Beziehung zu dem in New York lebenden Dichter Frank O’Hara auf. Der eher sachliche O’Hara besaß ein klar umrissenes Talent und verbrachte seine Zeit teils als Autor und teils als assistierender Kurator am Museum of Modern Art. Ungeachtet seiner starken Verbindungen zu den in der Stadt schöpferisch tätigen Künstlern beeindruckte ihn Schifanos Status als Außenseiter, was ihn eine starke Seelenverwandtschaft spüren ließ, und so lud der Dichter Mario und Anita in seinen Zirkel ein.

O’Hara wusste über die missliche Wohnsituation der beiden bei Anitas Verwandten und verhalf ihnen zu einer Loftwohnung in einem im Herzen von Greenwich Village gelegenen Wohnblock, der ihm gehörte. Die Räume in der Broadway Avenue 791 waren ausladend und so angenehm, dass alle Bedürfnisse der beiden erfüllt wurden – und das für eine eher symbolische Miete. Im Parterre befand sich ein Orthopädiegeschäft, das Prothesen verkaufte, doch in den darüber liegenden vier Stockwerken beherbergten die Wohnungen schillernde Künstlergestalten, wobei O’Hara „der Dichter unter den Malern“ war und die Rolle des netten Vermieters spielte. Während New Yorks kreative Lichtgestalten im Gebäude aus und ein gingen, richteten sich Mario und Anita in den Räumlichkeiten mit den hohen Decken ein. Fotos des Paars in ihrem Zuhause zeigen sie vor einem Müllhaufen aus den Resten von Marios Kollagen-Arbeiten posierend und belegen eine beinahe schon „erwachsene Glückseligkeit“.

Mario gab sich alle Mühe, in der produktiven New Yorker Kunstszene Fuß zu fassen, wogegen sich Anita in einer eher praktischen Rolle wiederfand – vordergründig versuchte sie ihr Interesse an der Kunst weiterzuverfolgen, während sie als Schifanos Muse agierte. Darüber hinaus assistierte sie zum Beispiel dem multimedial ausgerichteten abstrakten Expressionisten Jasper Johns. „Ich machte nur seine Pinsel sauber“, verriet sie Anthony Haden-Guest 1990. Doch schon damals hatte sie Größeres im Sinn. „Ich wollte nicht die ganzen Botengänge erledigen. Ich wollte entdeckt werden.“

Auf der Suche nach Aufmerksamkeit musste Anita unweigerlich den Weg in die Welt der Mode einschlagen. Während man sie 1962 für den Playboy noch in Rom auf der Straße abgelichtet hatte, posierte sie vor Marios Linse lebendiger und offensiver. In der Nähe lebende Fotografen wollten Anitas Dienste auch in Anspruch nehmen. In der aggressiven und erbarmungslosen New Yorker Modewelt – Models kamen gelegentlich zu spät oder waren nicht verfügbar – wurde Anita oft gebeten, einzuspringen und vor die Kamera zu treten. Diese spontanen Einsätze legten den Samen für weitaus größere Projekte in der Zukunft. Anita engagierte Ende 1963 einen Agenten, woraufhin ihr Arbeitspensum zunahm und ihre neue berufliche Ausrichtung abgesichert war. Jerry Schatzberg gehörte zu den zahlreichen Celebrity-Knipsern, die ihre Kameralinsen während dieser prägenden Jahre auf Anita ausrichteten. Er engagierte sie für Aufnahmen in seinem Studio an der Park Avenue South.

„Sie gab sich sehr professionell“, erinnert sich Schatzberg heute. „Sie wusste, was sie tat – in jeder Hinsicht. Wenn sie zur Arbeit erschien, arbeitete sie auch. Sie war noch sehr jung, aber zugleich auch unabhängig. [Anita] wusste, was sie wollte und wie man das verwirklichte. Da gab es niemals irgendeinen Zweifel.“

Während Anita still und nahezu unbemerkt in die Modewelt eintauchte, gab ihr Partner sich immer noch alle Mühe, einen bleibenden Eindruck in der Szene zu hinterlassen, zu der er so dringend gehören wollte. Seine wichtigste Gönnerin in der Stadt war die bodenständige Galerieinhaberin Ileana Sonnabend, die sich schon bei der Ausstellung „New Realists“ 1962 für Marios Arbeiten eingesetzt hatte und auch bei einigen hochkarätigen Shows in Paris und Rom. Die dominante, äußerst fokussierte Frau scheuchte Mario und Anita durch einige der angesagten Locations von New York, um Schifanos Bekanntheitsgrad zu erhöhen.

Sonnabend fungierte auch als Puffer, indem sie ihrem Schützling einige snobistische Zudringlichkeiten vom Hals hielt. Privat hatten die beiden Neuankömmlinge nur ein kleines soziales Netzwerk; sie fanden aufrichtigere Freundschaften in der progressiv ausgerichteten Literatur-Community der Stadt.

Die auf Straßen und in Gassen zu findenden Beatniks passten eher zu Marios und Anitas gefühlsbetonten Persönlichkeiten. Durch Freunde wie Frank O’Hara und Gerard Malanga erlebte Anita die rauere Seite der Stadt. Die unsichere und unvorhersehbare Umgebung New Yorks stellte kein Hindernis für Anitas aufblühende Weltsicht dar. Das Five Spot Café wurde ihr und Marios am häufigsten besuchter Zufluchtsort. Erst kürzlich war das angesagte Lokal zum 2 St Mark’s Place im East Village umgezogen. Bei ihren Besuchen im Club sah Anita Auftritte der Jazz-Legenden Charles Mingus und Thelonious Monk vor kleinem Publikum, während sie sich unter die kreativen Dichter Gregory Corso, Peter Orlovsky und Lawrence Ferlinghetti mischte. Weitere geistige Nahrung kam vom Schriftsteller Terry Southern – ein Zeitgenosse, der später viel dafür tat, Anitas vielfältige Talente bekannt zu machen.

Bei irgendeinem Anlass begegnete Anita dem Romanautor William Burroughs, woraus sich eine Beziehung entwickelte, die bis zu seinem Tod hielt. Bei einer anderen Gelegenheit traf sie Allen Ginsberg, den Hohepriester der progressiven Dichtkunst in Amerika. Seine Präsenz ließ üblicherweise bei allen Treffen die Gespräche verstummen, doch an diesem Abend unterhielt der Dichter die Anwesenden mit seiner „selbst geernteten“ Sammlung von Schamhaaren, die er in einer Streichholzschachtel aufbewahrte.

Anita hatte ihre Teenager-Jahre zwar kaum hinter sich gelassen, doch ihre auf Empfang gestellte Antenne registrierte, dass sie Zeuge einer außergewöhnlichen Zeit wurde.

„Wir trafen all diese Menschen, die Stars wurden und nun die Kultur des 20. Jahrhunderts repräsentieren“, berichtete sie 2017. „Ich spürte, dass ich mich an einem Ort befand, wo es wirklich abging. Es war wie ein Geschenk. Dadurch wurden wir zu einem Teil des Bildes, des Films, dieses besonderen Moments, der zur wichtigsten Erfahrung meines Lebens werden sollte.“