Blast nun zum Rückzug

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»Und er hat es geschafft, dass die Schecks eingelöst wurden?«

»Ja! Seiner orientalischen Seele sei’s gedankt. Er ließ sie einfach über neutrales Gebiet laufen. Das war natürlich nicht so leicht, wie es klingt. Aber Ley Wong brachte es zustande, eine Art Rohrleitungssystem zu etablieren, über das er die Schecks nach Japan schickte, und das Bargeld erreichte ihn dann auf umgekehrtem Weg. Er musste den Mittelsmännern ein kleines Vermögen dafür bezahlen und verlor große Summen durch die Umtauschkurse en route, aber am Ende blieben ihm doch noch zwanzig Prozent aus dem Geschäft, und alle Beteiligten waren sehr zufrieden. Und ich, wo ich so darüber nachdachte, wollte auch nichts dagegen sagen. Wenn die Japaner schließlich dumm genug waren, Schecks auszubezahlen, die ein Engländer eingereicht hatte, wer stand denn dann am dümmsten da?«

»Es sei denn«, wandte Muscateer entschuldigend ein, »auf den Schecks waren kodierte Nachrichten oder so was?«

»So etwas stand außer Frage«, sagte Glastonbury, »weil der Offizier, der sie ausgeschrieben hatte, bei den Grenadieren war. Somit war offenkundig, dass alles seine Richtigkeit hatte, sagte mir Ley Wong, und ich habe ihm natürlich zugestimmt.«

Detterling seufzte ganz leise.

»Was hast du also unternommen?«

»Na ja, der Grenadier war zu dem Zeitpunkt schon woandershin verlegt worden, und wie ich es sah, war niemand zu Schaden gekommen, und es schien wirklich ein sehr nettes Restaurant zu sein, also sagte ich zu Ley Wong: Vergessen wir’s. Der Informant würde, wie Ley Wong mir sagte, keinen weiteren Ärger machen, weil er selbst bei der Polizei wegen irgendeiner Sache so schlecht angeschrieben war, dass er es nicht wagen würde, sich dort zu zeigen. Das war auch der Grund, warum er stattdessen bei mir aufgetaucht war.

»Aber er hatte das doch auch dem Doktor und dem Kaplan aus dem Amt gesagt«, meinte Detterling. »Wie hast du die denn zum Schweigen gebracht?«

»Die habe ich ganz feudal bei Ley Wong zum Essen eingeladen und habe ihnen erklärt, die ganze Geschichte wäre er­funden gewesen. Schien mir einfacher, als jede Einzelheit auf­zurollen.«

»Und damit haben sie sich zufriedengegeben?«

»Ich gehe davon aus. Wie es manchmal so kommt, habe ich sie beide nie wiedergesehen. Sie hatten am nächsten Morgen einen schlimmen Kater und mussten im Bett bleiben, und in der Zwischenzeit hatte ein Cousin von mir mitbekommen, dass ich in Indien war und wo ich mich aufhielt, und kabelte mir, dass ich juldi, juldi nach Delhi kommen solle, um in seinem Stab einen Posten zu übernehmen. Also bin ich juldi, juldi nach Delhi gefahren. Aber immer wenn ich in der Zwischenzeit einmal zufällig hier war, hat sich Ley Wong mir gegenüber äußerst dankbar gezeigt.«

»Die Mädchen, zum rabattierten Preis?«

»Nicht nur das. Er hat mir auch mal eine Elfenbeinschatulle geschenkt, mit einer Sammlung von Goldmünzen drin, vom Mogul Dschahangir geprägt.«

»Ganz schön … wertvoll.«

»Das kann man wohl sagen«, bemerkte Glastonbury mit größter Gleichgültigkeit. »Ein sehr berührendes Geschenk, fand ich. Offenbar hatte sich Ley Wong irgendwie in den Kopf gesetzt, dass das Sammeln von Münzen ein Hobby von mir sei. Tatsächlich habe ich ganz und gar keinen Bezug zu so etwas, aber ich wollte die Gefühle des armen Kerls nicht verletzen.«

»Was hast du also mit den Münzen gemacht?«, fragte Detterling beiläufig.

»Die liegen irgendwo in meinem Bungalow drüben in Delhi herum … Und da ist ja Ley Wong. Grinst übers ganze Gesicht!«

Peter allerdings kam es, als Ley Wong sie mit einer Verbeugung durch die Eingangstür und in ein Privatgemach einließ, so vor, als wäre das Grinsen des kleinen Chinesen ihnen nicht gänzlich wohlgesonnen. Es war zu unbewegt. Vielleicht, dachte Peter, war Ley Wong es langsam leid, den Glastonbury-Sahib mit rabattierten Mädchen und mongolischem Gold bei Laune zu halten. Doch wenn es so war, ließ er sein Missfallen nicht noch mal erkennen. Lange Reihen von Kellnern kamen und gingen, von Ley Wong persönlich beaufsichtigt, und brachten einen Gang mit traditionellen chinesischen Köstlichkeiten nach dem anderen und Flasche um Flasche eines seltenen Weißburgunders. Immer schneller folgte die Darbietung immer neuer Gerichte, und Ley Wong verbeugte sich jedes Mal noch tiefer; alldieweil Alister noch großmäuliger wurde, Muscateer noch liebenswürdiger, Detterling lakonischer und Glastonbury noch vertrauensseliger. Peter schien es, als würden alle verborgenen Geheimnisse von Delhi vor ihnen ausgebreitet und vereinten sich zu einem wahrhaft byzantinischen Spektakel, bestehend aus Leichtfertigkeit, Verrat und Verfall.

»Wissen Sie, was passiert ist?«, sagte Giles Glastonbury. »Die haben alle ihr Selbstbewusstsein verloren. Angefangen bei seiner Exzellenz, bis ganz nach unten. Man hat ihnen so lange und so oft erzählt, dass sie kein Recht hätten, hier zu sein, dass sie angefangen haben, das zu glauben. Was heißt, dass sie aufgehört haben, an sich und ihre Aufgabe zu glauben. Wenn das passiert, geht alles den Bach runter – nein, nicht einfach bloß den Bach runter, sondern alles löst sich auf.«

»Sie wirken aber nicht aufgelöst, Sir.«

»Bei mir ist das was anderes. Wissen Sie, ich habe all dem nie besonders stark angehangen. Ich habe es einfach bloß genommen, wie es kam, Tag für Tag, weil ich auch immer nur zufällig hier gelandet bin. Ich bin bloß jemand, der auf der Durchreise ist, Morrison. Aber für die alten Hasen hier unten … die Männer, die den Kern des Ganzen bilden … die haben wirklich ihr Herzblut hier reingesteckt, haben auf ihre Art selbst die Inder geliebt und ihr Äußerstes gegeben, um ihre Sache gut zu machen. Natürlich gab’s auch viel, was sie nicht gut gemacht haben, sie haben an allem rumgenörgelt und waren selbstzufrieden und wollten nicht verstehen, dass für die meisten Inder alte Gebräuche mehr zählen als Reinlichkeit – all so was; aber gleichzeitig haben sie wirklich versucht, Gerechtigkeit hier reinzubringen und tragfähige Strukturen zu schaffen, Menschen vor dem Verhungern zu bewahren oder davor, ihre erst acht Jahre alten Körper zu verkaufen, den Wohlstand und das Wissen zu vermehren. Bis zu einem bestimmten Punkt ist ihnen das gelungen, und bis zu einem bestimmten Punkt wurde ihnen das auch gedankt, und daher dachten sie, sie könnten für immer hierbleiben. Sie haben dieses Land zu ihrem gemacht und sind sogar geblieben, wenn sie in Ruhestand gegangen sind, manche jedenfalls, weil hier ihr Leben war.

Doch was ist jetzt passiert? Man erklärt ihnen, dass man sie hier nicht will und auch nie gewollt hat. Die Regierung in England schämt sich ihrer, die Amerikaner machen sich über sie lustig, die gebildeten Inder verlangen lauthals nach ihren Posten, und selbst die Kühe auf den Straßen scheinen sie bis aufs Blut zu hassen. Und selbstverständlich trifft sie das sehr. Sie sind verletzt … und sie haben nichts mehr. So geht es den Soldaten wie auch den Zivilbeamten – es ist überall dasselbe.«

»Und jetzt hat sich ihre Stimmung ins Böse verkehrt, wollen Sie das sagen?«

»Nicht ganz. Wenn Dinge sich auflösen«, sagte Glastonbury, »haben Sie das Gefühl, dass nun sowieso alles egal ist … dass Sie sich einfach gehenlassen können. All die Dinge, die Sie so lange schon mal tun wollten, für Ihren guten Leumund aber immer unterlassen haben – nun, jetzt machen Sie die einfach, soll Sie doch der Teufel holen! Mädels, Jungs, Sauferei, Haschisch, dem Chef oben sagen, dass er sich doch in den Nabel pissen soll – das können Sie alles machen, wenn die Barbaren an die Tore hämmern und die Welt in Flammen aufgeht. Was soll Sie noch aufhalten?«

»Anstand?«

»Nun gut, ja. Und das hält die Vorstellung hier ja auch noch am Laufen. Wenn wir das Land abgeben müssen, sagen manche, dann aber tipptopp, pukka, und wir wollen ­zusehen, dass davor dann alles schön in Ordnung ist. Die Besten von unseren Jungs, die denken so, klar. Aber das Mittelfeld – die haben einfach aufgehört, sich zuständig zu fühlen, und angefangen, nach den Bauchtänzerinnen zu rufen. Ihre Stimmung ist nicht gekippt, böse sind die nicht … aber verantwortungslos.«

»Aber nicht hier«, sagte Peter. »Noch nicht.«

»Abwarten! Sie sind die letzte Gruppe britischer Offiziersanwärter, die nach Bangalore gekommen sind, ein für alle Mal. Von jetzt an werden hier nur noch Inder sein. Mit zumeist indischen Ausbildern. Was also die weißen Offiziere angeht – ob sie nun der Indischen oder der Britischen Armee angehören –, so ist dies das letzte Ausbildungssemester an der Schule in der alten Form. Und wenn sich das erst mal herumgesprochen hat«, sagte Glastonbury, »wenn die Leute das Alte zum letzten Mal machen, dann sind sie zu niedergeschlagen, um sich groß darum zu bekümmern, wie gut oder schlecht sie ihre Sache machen. Auch hier: Verantwortungslosigkeit, wie Sie sehen – in etwas ehrbarerer Form als bei den anderen, aber am Ende läuft es auf dasselbe hinaus.«

Die Kellner setzten jedem der Gäste einen letzten Gang vor: ein cremiges Törtchen mit einer leichten Zuckerkruste und (so dachte Peter, als er es probierte) mit Grapefruit oder süßem Zitronat aromatisiert.

»Jedenfalls«, sagte Glastonbury, »wird all das Sie hier ganz sicher in einem betreffen. Möchtest du es ihnen sagen« – an Detterling gewandt – »oder soll ich?«

»Du scheinst grade in Dozierlaune zu sein, Giles,« sagte Detterling matt. »Mach ruhig du es.«

Glastonbury nickte. Er stieß seinen Nachtisch unangetastet von sich und bedeutete einem Diener, ihn abzuräumen. Da aber Ley Wong gerade nicht im Raum war, ließ der Diener sich Zeit, und bevor er das Schälchen vor Glastonbury ergreifen konnte, hatte Muscateer es sich geschnappt.

»Verzeihung und so!«, sagte Muscateer. »Aber spare in der Zeit, dann hast du in der Not. Schmeckt wirklich faszinierend, das Zeug!«

 

Detterling, als der Gastgeber, gab dem Diener ein Zeichen, an seinen Platz an der Wand zurückzukehren.

»Ihre Großmutter hat auch so eine Schwäche für Süßes ge­habt«, sagte Detterling, um Muscateers Verhalten zu entschuldigen. »Also dann, Giles, erzähl ihnen, wie es abläuft.«

»Es ist folgendermaßen. Wie ich eben schon Morrison hier erklärt habe, wird die OS ab nächsten Monat nur noch indische Offiziersanwärter aufnehmen, mit indischen Ausbildern. Es gibt aber nicht viele indische Offiziere, die Erfahrung als Ausbilder haben, weshalb man sie hier an Ihnen ein bisschen üben lassen wird. Oder zumindest denken sie darüber nach – und Delhi unterstützt das, weil es die indischen Nationalisten beschwichtigen wird, wenn sie sehen, dass indische Offiziere weiße Offiziersanwärter ausbilden. Bevor aber eine endgültige Entscheidung fällt, wollen sie einen Probelauf durchführen, um zu sehen, wie gut es funktioniert. Und für diesen Probelauf wurde Ihr Zug ausgewählt. 2. Zg Kp C, steht im Papierkram.« Glastonbury drehte sich zu Peter. »J. U. O.: OA Morrison, P.«

»Das ist also der Grund, warum uns noch kein Offizier zugeteilt wurde.«

»Morgen um 6.15 Uhr werden Sie einen haben. Hauptmann Gilzai Khan von der 43. Khaipur Light Infantry.«

»Einen Moslem?«

»Ja. Das hat zunächst für Unmut gesorgt. Die Hindus haben erst eingelenkt, als wir sie darauf gebracht haben, dass im Fall des Scheiterns dieses Probelaufs alle die Schuld bei den Moslems sehen würden; sollte es aber ein Erfolg werden, würden beide Seiten davon profitieren. Ich sollte Ihnen vielleicht sagen, dass mit Gilzai Khan ein Offizier ausgewählt wurde, der einen starken Charakter hat und von dem man nur Erfolge erwarten kann.«

»Was ich nicht verstehe«, sagte Muscateer, »mein alter Herr hat gesagt, dass einheimische Offiziere immer Jemadar und Ris­saldar heißen – oder so was in der Art.«

»Jemadars und Rissaldars sind Rangbezeichnungen im Offiziersdienst für den Vizekönig. Gilzai Khan hält einen Offiziersbrief direkt vom König.«

»Ihr alter Herr ist der Zeit schon immer ein wenig hinterhergehinkt«, bemerkte Hauptmann Detterling.

»Ein Kanake«, sagte Alister erbost. »Wir bekommen ’nen Kanaken als Offizier!«

»Es gibt Kanaken und Kanaken«, sagte Detterling bedächtig. »Ich würde mir dieses Wort an Ihrer Stelle abgewöhnen. Gilzai Khan hat möglicherweise nicht so viel dafür übrig.«

»Sie sind auf deren Seite, Sir?«

»Wir sind auf gar keiner Seite«, sagte Glastonbury. »Wir lassen Sie bloß wissen, wie alles vor sich gehen wird. Morrison hier könnte eine heikle Zeit als J. U. O. bevorstehen. Als seine Freunde werden Sie ihm doch sicher beistehen wollen.«

»Warum hat uns Major Baxter das nicht gesagt?«, sagte Alis­ter mit schriller Stimme. »Er ist der Kommandeur der Kompanie. Es wäre seine Aufgabe gewesen, nicht Ihre!«

»Mit Ihrem Einwand haben Sie recht, Mr. Mortleman«, sagte Oberstleutnant Glastonbury, »wenngleich ich die Art, wie Sie ihn vorbringen, nicht billigen kann.« Er ließ mit seinen Fingern einen kleinen Trommelwirbel auf dem Tisch erklingen, warf Muscateer, der ungewöhnlich stark schwitzte, einen Seitenblick zu, saugte kurz seine Lippen ein und fuhr fort. »Major Baxter«, sagte er, »ist ein Offizier, der in Kriegszeiten gute Verdienste erworben hat, er ist aber von seiner Natur her kein guter Diplomat. Dass er da Schwächen hat, weiß er selbst am besten; und als ich ihm erzählte, dass ich einige von Ihnen kenne, hat er mich gebeten, diese Aufgabe für ihn zu übernehmen.«

»Da sind wir Ihnen sehr dankbar, Sir!«, sagte Peter. »Aber in ein oder zwei Tagen werden Sie nach Delhi zurückreisen. Wenn wir hier Ärger bekommen sollten, werden wir einen di­plomatischen Fürsprecher brauchen. Da Major Baxter, wie Sie und er selbst sagen, dafür kaum der richtige Mann ist, an den wir uns wenden könnten …«

»Sie dürfen sich«, sagte Detterling, »an mich wenden. Ich kann das mit Major Baxter für Sie regeln.«

Ein Aufwallen, ein ersticktes Würgen und noch ein Aufwallen – und Muscateer erbrach sich ganz fürchterlich.

»Wie kommt es bloß«, sagte Glastonbury verärgert, »dass jedes Mal, wenn ich mit Leuten hier esse, jemandem schlecht wird?«

»Zu viel von diesem Nachtisch …«

»Was war das denn?«

»Ein Orangenbaisertörtchen«, sagte Glastonbury. »Ley Wong ist berühmt dafür.«

»Merkwürdig. Ich fand, es schmeckte nach Grapefruit.«

Muscateer übergab sich gleich noch einmal.

»Wenn Sie mich fragen«, sagte Alister, »kommt das von dem Gedanken, dass uns ein verdammter Kanake herumkommandieren wird.«

Detterling schaute Alister kühl an, sagte aber nichts. Unzählige Kellner erschienen mit Eimern und Wischlappen. Kurz darauf, nachdem Detterling die Rechnung beglichen hatte, brachten Sie alle zusammen Muscateer heim in sein Basha. Unterwegs würgte er ganz erbärmlich, schaffte es aber gerade so, eine Sache zu sagen, und zwar zu Detterling: »Das erzählen Sie aber bitte nicht meinem alten Herrn, oder, Sir? Er wäre ungeheuer enttäuscht von mir.«

Teil II

Der Khan

Um 6.15 Uhr am Morgen nach dem Cricketturnier und Hauptmann Detterlings Einladung zum Abendessen traten die Fahnenjunker von Kp C zur Körperertüchtigung an.

Muscateer, der ganz fahl und schwach aussah, hatte sich mit den anderen zusammen in Reih und Glied gestellt. Obwohl er die Aufwärmübungen »tiefes Atmen« und »Knie beugen« überstand, brach er, als er die Sprunghocke übers Pferd machen sollte, darauf zusammen und blieb wie ein schlaffer Sack oben hängen. Der britische Unteroffizier, der als Übungsleiter den 2. Zug trainierte, schälte ihn herunter, schüttelte ihn aus und stellte ihn zurück auf die Beine.

»Versuch’s noch mal, Jungchen«, sagte der Unteroffizier. »Ganz in Ruhe.«

Also ging Muscateer zehn Schritte vom Pferd weg und wankte dann noch einmal darauf zu. Als er nur noch ein oder zwei Meter entfernt war, sackten die Knie unter ihm weg, er fiel platt hin und schlug mit der Nase an einem der Beine auf. Dieses Mal war er, als der Übungsleiter ihn aufhob, blutüberströmt und starrte mit einem unbewegten Lächeln ins Nichts, wobei das Lächeln Peter Morrison kurioserweise, so dachte er, an Ley Wongs Grinsen beim Einlass in dessen Restaurant am Abend zuvor erinnerte.

»Geh da rüber und setz dich in den Schatten, Jungchen«, sagte der Übungsleiter.

Muscateer bewegte sich nicht. Der Übungsleiter winkte Peter und Barry herbei, die Muscateer in den Schatten eines großen Banyanbaums halfen, der sich am Rande des Sportfelds befand. Während sie ihn bequem hinsetzten und versuchten, seine langen Beine in eine mehr oder weniger würdevolle Haltung zu bringen, erschien hinter dem Baum ein kleiner, dünner Mann mit einer großen, kahlen Kugel als Kopf – wie der Bauer beim Schach – und trat zu ihnen hin. Er trug Khaki-Drillich, Shorts, Stiefel und Wickelgamaschen bis zu den Knien; seine beiden Daumen hatte er in die beiden Schultergurte eines schwarzen Sam-Browne-Gürtels geklemmt, an dessen linker Seite ein leerer Säbelfrosch baumelte.

»Ich«, sagte er, »bin Hauptmann Gilzai Khan. Wer sind Sie?«

»Fahnenjunker Morrison, Sir. J. U. O.«

»Fahnenjunker Strange, Sir … und das ist Fahnenjunker …«

»Lassen Sie ihn selbst antworten.«

»Muscateer«, murmelte Muscateer von den Wurzeln des Ban­yanbaumes empor.

»Sie, Fahnenjunker, sind der Earl von Muscateer«, bekundete Gilzai Khan mit unbewegter Miene. Er hockte sich hin, auf seinen Hintern. »Hören Sie mir zu, Bahadur. Sie sind jetzt einer meiner Männer, und meine Männer treten niemals aus der Reihe heraus, es sei denn, sie sind tot oder bewusstlos.«

»Aber er ist krank, Sir«, sagte Barry.

»Sie halten den Mund, Kleiner, wenn ich Sie nicht auffordere, etwas zu sagen.«

»Sir.«

»Nicht ›Sir‹!«

»Sahib?«

Gilzai Khan fauchte wie eine Kobra.

»›Sahib‹«, sagte er, »sagt man zu einem Hausierer oder einem Munshi. Meine Männer nennen mich … Gilzai Khan.«

Er betrachtete den schlaff und aschfahl dasitzenden Muscateer aufmerksam. »Muscateer Bahadur«, sagte er, »Sie werden jetzt aufstehen und mir folgen und über das Pferd springen.«

Noch am Boden hockend, schob er eine Hand unter Muscateers linke Achsel und drückte sich dann langsam, Muscateer mit nach oben befördernd, in den Stand hoch.

»Kommen Sie!«, sagte Gilzai Khan.

Mit der Hand weiterhin in Muscateers Achselhöhle trat er auf das Sportfeld hinaus. Er ließ Muscateer los (der schwankte, aber doch stehen blieb), rannte auf das Pferd zu, klatschte zweimal vor seinem Gesicht in die Hände und überquerte es beidhändig mit einem sauberen Hocksprung, wobei das schwarze Tragleder für den Säbel kurz von seinem Hinterteil abhob und in dem Moment, als er aufkam, wieder an seinen Platz zurückfiel. Er drehte sich zu Muscateer um und winkte.

»Bahadur!«, rief er.

Muscateer machte zwei quälerische Schritte und blieb stehen. Er schluckte mehrfach, und der Schweiß rann ihm in Tropfen groß wie Kirschen das Gesicht herab.

»Bahadur!«, rief Gilzai Khan.

Muscateer taumelte los. Er beugte den Kopf und rannte direkt auf das Pferd zu. Unter ihm schlenkerten seine Beine sinnlos wie lose Seilenden, und die Arme hingen ihm steif an den Seiten herab. Als er noch etwa anderthalb Meter vom Pferd entfernt war, machte er irrwitzige Hüpfer und warf sich in die Luft, krümmte sich über dem Pferd wie ein Stück Gummischlauch – und wurde von Gilzai Khan aufgefangen, der ihn, mit der Kehrseite nach oben, wie ein umgedrehtes »U« in der Luft hielt.

»Gut, Bahadur. Sehr gut. Jetzt sind Sie bewusstlos«, bemerkte Gilzai Khan, »und dürfen daher nun wegtreten.«

Er legte Muscateer auf dem Pferd ab, entbot den glotzenden Fahnenjunkern einen Gruß und schritt energisch von dannen.

»Taktiken, Gentlemen«, sagte Gilzai Khan. »Lektion Nummer eins: Der Frontalangriff. Aber erst mal … Wo ist der Bahadur Muscateer?«

»Man hat ihn ins Krankenhaus gebracht, Gilzai Khan. Nach der Trainingseinheit, während wir beim Frühstück waren. Der Sanitätsoffizier meint, dass er Gelbsucht hat.«

»Besten Dank, Morrison Huzoor. Wir werden ihn heute Abend besuchen. Wir alle, Gentlemen, zusammen. Und nun zum Frontalangriff. Wann … Fahnenjunker Mortleman … den­ken Sie, dass wir uns für den Frontalangriff entscheiden?«

»Wenn der Feind frontal vor uns steht«, sagte Alister, ohne groß nachzudenken.

»Das, Fahnenjunker Mortleman, ist meistens der Fall. Und doch wenden wir meistens nicht den Frontalangriff an. Unter welchen besonderen Umständen tun wir dies?«

»Wenn wir spät dran sind fürs Mittagessen oder möglichst schnell heimwollen.«

»Ich habe einen Namen, Fahnenjunker Mortleman, und einen Titel. Beides benutzen Sie freundlicherweise, wenn Sie mich ansprechen.«

»Einen Titel?«

»Khan.«

»Ich dachte, das wäre ein Teil Ihres Namens.«

»Nein, Fahnenjunker Mortleman. Das bedeutet, dass ich einem Fürstenhaus aus dem Volk der Gilzai entstamme.«

»Und wer soll das nun sein?«

»Männer von der Grenze. Krieger. Sie würden sagen: richtige Mistkerle«, sagte Gilzai Khan leise lachend, »die sich von Schuljungs keine Unverschämtheiten bieten lassen. Fahnenjunker Mortleman, Sie schreiben fünfhundertmal Offiziersanwärter müssen lernen, sich wie Gentlemen zu benehmen und werden mir Ihre Schreibarbeit morgen früh zum Morgenappell abliefern.«

»Wie all diese Kanaken«, raunte Alister seinem Nachbarn zu. »Versteht keinen Spaß.«

»Was war das, Fahnenjunker Mortleman? Ich konnte Sie nicht ganz verstehen.«

»Das sollten Sie auch nicht … Dschingis Khan.«

Was auch immer die anderen Offiziersanwärter als Strafe für diese dämliche Bemerkung erwartet haben mochten, sie wurden enttäuscht. Denn Gilzai Khan warf einfach bloß den Kopf in den Nacken und lachte.

»Hoh, hoh, hoh«, gluckste er, »wie sehr ich Ihren ­britischen Humor liebe! Dschingis Khan – das ist gut, sehr gut, Fahnenjunker Mortleman. Eine Gedankenschärfe! Gewitzte Wortspielerei! Hoh, hoh, hoh – wir haben einen Spaßvogel unter uns, Kameraden, wir müssen ihm Anerkennung zollen. Also, alle zusammen: Hoh, hoh, hoh.«

»Hoh, hoh, hoh«, machten die Fahnenjunker, von Gilzai Khans unwiderstehlichem Beispiel mitgerissen, »hoh, hoh, hoh« machten sie, während der gedemütigte Alister finster drein­blickend und vor Wut fast platzend dasaß. »Hoh, hoh, hoh, hoh, hoh!«

 

»Genug, Gentlemen! Genug, meine Kinderlein! Die Tage werden nun leichter dahinfliegen, jetzt, wo wir jemanden unter uns haben, der uns erheitern kann … einen – wie sagen Sie noch dazu? – Witzbold. Doch lassen Sie uns nicht die Arbeit vernachlässigen. Das Leben besteht nicht nur aus Scherzen. Der Frontalangriff, meine Herren Offiziersanwärter, ist alles andere als lustig. Wann also … Mr. Zaccharias … entscheiden wir uns für einen Frontalangriff?«

»Ich nehme mal an«, sagte Zaccharias, der ziemlich beleibt war und ein nichtssagendes Gesicht sowie ein übles Mundwerk hatte, »dass wir das dann tun, wenn es keinen sichereren Weg gibt … Gilzai Khan«, fügte er eilig hinzu, als der riesige Glatzkopf ruckartig zu ihm hinzuckte.

»Da haben Sie recht, Mr. Zaccharias.« Gilzai Khan betonte »Zaccharias« auf der zweiten Silbe. »Sie haben recht, und dennoch liegen Sie falsch. Wir entscheiden uns für den Frontalangriff, wenn wir keine Deckung haben, denn wenn es keine Deckung gibt, müssen wir den kürzesten Weg nehmen.«

»Das meinte ich, Gilzai Khan.«

»Das ist mir klar, und so weit haben Sie auch recht. Aber Sie liegen doch auch falsch. Warum liegt er falsch … Mr. Murphy?«

»Er hat die Feuerkraft nicht erwähnt«, sagte Murphy, ein mürrischer, pickliger junger Kerl, der noch dicker war als Zaccharias und angeblich viermal am Tag onanierte. »Wenn Sie dem Feind an Feuerkraft überlegen sind, Gilzai Khan, können Sie ihn in Stücke pusten und sich dann direkt dorthin stellen, wo er vorher war.«

»Nein, das können Sie nicht, Mr. Murphy. Die Yankees haben das gedacht. Die meinten, sie könnten den Feind mit Bomben und Granaten aus der Ferne zerstören, alldieweil sie auf ihren Hintern sitzen, Coca-Cola trinken und Comics lesen. Danach dann, dachten sie, könnten sie einfach mit ihren Jeeps durch die feindlichen Linien hindurchfahren, ohne fürchten zu müssen, dass sich ihnen jemand entgegenstellt. Ein ums andere Mal haben sie denselben Fehler gemacht – und ein ums andere Mal wurden sie und ihre Jeeps vernichtet, als sie ihr Ziel erreichten. Und dann dachten sie, das wäre heroisch gewesen, dabei waren sie einfach bloß faul. Sie wollten nicht einsehen, dass der Feind, wenn er sich ordentlich verschanzt hat, praktisch jede Form von Beschuss überstehen wird; und dass man, um Land einzunehmen, diejenigen zum Einsatz bringen muss, die sich dem Kampf Mann gegen Mann stellen und den Feind Mann für Mann töten.«

»Aber was ist mit der Atombombe, Gilzai Khan? Kein Feind könnte die überleben.«

»Wir befassen uns hier mit Taktiken, Fahnenjunker Mortle­man, nicht mit der Großstrategie. Zugführer werden nicht mit Atombomben ausgestattet. Ein Zug hat den Feind am Boden zu attackieren. Wenn es keine Deckung gibt, muss ein Zug auf kürzestem Weg angreifen – frontal. So weit war es von Mr. Zaccharias richtig gedacht. Aber er hat etwas gesagt, das falsch war, und ich warte noch immer darauf, dass jemand mir sagt, was. Morrison Huzoor, können nicht Sie es mir sagen?«

»Zaccharias fehlte die Überzeugung, Gilzai Khan. Es schien mir, dass er einen Frontalangriff als Mittel der letzten Wahl ansieht.«

»Das stimmt. Es ist viel besser, nah an Ihren Feind heranzurücken, solange Sie noch Deckung haben, und in seiner Flanke zuzuschlagen, als übers freie Feld direkt in seine Gewehrmündungen hineinzurennen. Glauben Sie jemandem, der es weiß, Huzoor: Ein Angriff auf offenem Gelände ist keine schöne Sache. Nein! Mr. Zaccharias lag bei etwas anderem falsch. Wobei?«

Gilzai Khan ließ seine schwarzen Augen von Fahnenjunker zu Fahnenjunker schweifen und ließ seinen Blick dann auf Barry Strange ruhen.

»Fahnenjunker Strange«, sagte er. »Ich habe gehört, dass Sie Brüder hatten, die Soldaten waren. Sagen Sie mir also, kleiner Fahnenjunker: Was hätten die zu dieser Sache zu sagen gehabt?«

»Zaccharias hat das Wort ›sicher‹ verwendet«, sagte Barry. »›Wenn es keinen sichereren Weg gibt‹, hat er gesagt. Meine Brüder, Gilzai Khan, hätten ihm gesagt, dass ein Mann, der anfängt, darüber nachzudenken, was am sichersten ist, anfängt darüber nachzudenken, wie er am schnellsten nach Hause kommt.«

Barry, der nicht nur die anderen, sondern auch sich selbst überrascht hatte, lehnt sich auf seinem Stuhl zurück und errötete.

»Gut!«, sagte der Khan.

Er ging zu Barry hin, stellte sich hinter ihn, legte ihm die Hände auf die Schultern und begann, das obere Ende seines Rückgrats mit den Daumen zu massieren.

»Hören Sie mir zu, meine Offiziersanwärter«, sagte er. »Fahnenjunker Strange hat das gesagt, was ich hören wollte. In der Schlacht gibt es einen richtigen und einen falschen Weg, einen kurzen und einen langen Weg, einen schnellen und einen langsamen Weg – aber einen sicheren Weg kann es darin niemals geben, außer den Weg nach Hause; und den Weg, Kinderchen, den nehmen wir nicht.«

An diesem Abend begab sich der gesamte 2. Zug zum Garnisonskrankenhaus, um Muscateer zu besuchen. Sie marschierten in Dreierkolonne dort hin, angeführt von Gilzai Khan, der vornewegmarschierte; nicht hinter ihnen oder nebenher auf einer Seite oder in seinem eigenen Tempo um sie herumschweifend, was viele Offiziere getan hätten, nein, direkt dort vor ihrer Nase. Den Fahnenjunkern gefiel dies sehr, obwohl sie nicht hätten sagen können, warum.

Alister jedoch gefiel es nicht.

»Warum konnte er uns nicht einfach in unserem eigenen Tempo hierherlaufen lassen?«, sagte er zu Peter, als sie alle ins Krankenhausgebäude hineindrängten.

»Ich glaube … er sieht es als eine Art Zeremoniell an.«

»Seit wann ist es ein Zeremoniell, irgendeinen von den Jungs im Krankenhaus zu besuchen?«

»Gilzai Khan«, sagte Barry, »besucht nicht einfach nur irgendeinen von den Jungs im Krankenhaus, sondern er erweist einem Kameraden ein Zeichen der Ehrerbietung.«

»Heiliger Rumsbums!«, sagte Alister. »Und apropos Rumsbums, du nimmst dich besser in Acht, kleiner Fahnenjunker. Die Moslems sind alle warme Brüder, und dieser hier hat ein Auge auf dich geworfen.«

Barry wurde so rot wie ein Briefkasten. »Du bist so was von verdorben«, sagte er.

Dann folgten sie Gilzai Khan, der wiederum der Oberschwester folgte, die, als sie den Zug ankommen sah, den hohen Anlass des Besuchs erkannt und sich persönlich eingefunden hatte, um sie alle an Muscateers Bett zu führen.

Hauptmann Detterling, der bereits an Muscateers Seite weilte und besorgt aussah, erhob sich, um sich vor der Oberschwester zu verbeugen und um Gilzai Khan zu begrüßen.

»Er scheint sich ziemlich mau zu fühlen«, murmelte Detterling und nahm danach die Oberschwester beiseite. Peter, der beobachtete, wie die beiden langsam über den Flur gingen, schnappte die Worte »Vater in Wiltshire … Cousin … Was soll ich ihm schreiben?« auf, als sie an ihm vorbeikamen.

Derweil versuchte der Khan, seinen Mann aufzumuntern.

»Wir sind gekommen, um nach Ihnen zu sehen, Bahadur«, erklärte er, recht unnötig, das Offensichtliche. »Wir wüssten gerne, wann Sie wieder bei uns sind.«

»Im Moment fühle ich mich ziemlich mau«, sagte Muscateer, genau wie Detterling kurz zuvor.

Die Offiziersanwärter versammelten sich in einem Halbkreis um das Bett herum. Gilzai Khan schob Detterlings freigewordenen Stuhl zur Seite und beugte sich über Muscateer, wie ein Löwe, der über einem Kadaver kauert.

»Sie dürfen sich nicht schlecht fühlen«, sagte er. »Sie haben sich gut geschlagen. Muscateer Bahadur, Sie kommen doch bald zu uns zurück?«

»So viel Getue«, murmelte Alister, zu niemandem im Speziellen, »für jemanden, den er kaum kennt. Aber er weiß eben, dass es ein Earl ist, und drum das ganze Bohei.«

»Jungs, wenn ihr nichts dagegen habt«, sagte Muscateer zu den Fahnenjunkern, »ich hätte gern etwas mehr Luft zum Atmen. Es ist wahnsinnig nett von euch allen, herzukommen und mich in diesem Zustand zu besuchen – bitte denkt nicht, dass ich das nicht zu schätzen wüsste –, aber ich fühle mich grade ein klein wenig bedrängt.«

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