Blast nun zum Rückzug

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»Die Waischja«, sagte der dürre Major (der sich in Erwartung eines Prozesses vor dem Militärgericht im Arrest befand und somit, all seiner sonstigen Pflichten enthoben, Zeit für diese hatte), »sind die einfachen Leute, Händler und Bauern. Die Farbe der Kaste: Gelb. Die Schudra sind Diener, Sklaven, alles in der Art. Farbe der Kaste: Schwarz.

Außerhalb dieser Gliederung der Hindu-Gesellschaft stehen noch diejenigen, die einem Hindu nicht nahekommen können, ohne diesen zu beschmutzen – die Unberührbaren, Parias oder Ausgestoßenen. Einige von ihnen haben einen so niedrigen Stand, dass sie nicht nur Unberührbare sind, sondern sogar Unsichtbare und nur nach Einbruch der Dunkelheit in Erscheinung treten dürfen.«

Eine lange Pause entstand, in welcher der Major, der befand, das Thema sei nun erschöpfend behandelt, sich eine treffende Wendung auszudenken versuchte, mit der er enden konnte. Bevor ihm dies allerdings gelang, zeigte sein Bewacher, ein rund­licher Hauptmann des Indischen Feldzeugkorps, vorwurfs­voll auf die Uhr im Vorlesungssaal und murmelte etwas von dreißig Minuten, die noch übrig seien. Der Major tat einen tiefen Seufzer, wühlte in seinen schwer strapazierten Gehirnwindungen nach etwas, das er sonst noch sagen konnte, und fuhr dann schnarrend fort:

»Zwischen den Kasten oder Varna gab und gibt es sehr strenge Regeln, ihren Umgang miteinander betreffend. Ein Brah­mane kann einen Schudra um den Preis einer Katze töten. Jedenfalls hat man das mir so beigebracht, als ich selbst noch in der Offiziersausbildung war, es kann aber sein, dass das inzwischen nicht mehr gilt. Wenn umgekehrt ein Schudra einen Brahmanen tötet, wird er auf der Stelle strengstens bestraft – wie genau, weiß ich nicht –, und dazu gilt er dann als jemand, der sich bis in alle Ewigkeit in Verdammnis gebracht hat. All das sorgt auf alle Fälle dafür, dass jedermann weiß, wo er hingehört.«

Der Major ließ ein verzweifeltes Schnauben hören. Er schau­te zum Hauptmann hinüber, der freundlich, aber bestimmt den Kopf schüttelte.

»Wacker weiter, alter Knabe!«, sagte der Hauptmann.

»Entscheidend ist aber«, quälte sich der Major weiter, »dass diese Wallahs hier in Indien das alles so hinnehmen. Die glauben wirklich daran. Für die Leute hier besteht das, was wir ›unser Seelenheil finden‹ nennen, schlicht darin, schön an seinem Platz zu bleiben. Man muss nichts tun, man muss einfach bloß am richtigen Ort ausharren und sich so verhalten, wie es eben so üblich ist. Stellen Sie sich vor, Sie sind ein Händler. Was Sie also machen, ist ein Schildchen aufhängen und C. Hasri, Händler draufschreiben – und sich einfach druntersetzen. Sich so verhalten, wie es eben so üblich ist, verstehen Sie? Den Leuten ist es egal, ob Sie wirklich etwas verkaufen oder nicht. Sitzen Sie einfach schön brav unter Ihrem Schildchen, und Sie werden tonnenweise Punkte für Ihr Seelenheil sammeln, und wenn Sie dann wiedergeboren werden, dann sind Sie auf der Leiter ein Stück weiter oben. Dann sind Sie vielleicht ein Kschatrija, ein Kämpfer. Fairerweise muss man übrigens sagen, dass die Kämpfer die Einzigen sind, die tatsächlich auch tun, was ihre Aufgabe ist. Sie sind sehr gut im Kämpfen, das werden Sie bald sehen.«

Für einen Augenblick schien es, als hätte dieser Gedanke den Major innerlich erbaut, doch dann wurde er finsterer als zuvor.

»Das einzige Problem ist, dass es sie nicht groß kümmert, gegen wen sie kämpfen, denn sie bekommen die Punkte für ihr Seelenheil einfach bloß fürs Kämpfen, verstehen Sie, und es ist ihnen vollkommen gleich, ob sie Japsen mit dem Bajo­nett aufspießen oder die Ehefrau ihres europäischen Sahib skal­pieren. Vorausgesetzt natürlich, es ist das, was ihr Vorgesetzter ihnen vorher befohlen hat, denn Gehorsam gegenüber dem Vorgesetzten bedeutet, dass man den zugewiesenen Platz ausfüllt, und es ist ja nicht dein Bier, drüber nachzudenken, welche Gurgel du da aufschlitzt, wenn man es dir erst mal aufgetragen hat. Und deswegen müssen wir auch so schrecklich aufpassen, welchen Indern wir erlauben, Offiziere zu werden. Es hat natürlich immer schon Offiziere des Vizekönigs gegeben, und gerade fangen wir an, auch Königlich-Indische Offiziere zu benennen, aber die Sache ist furchtbar heikel, weil man bei den Gesellen nie weiß, wo sie am Ende stehen, es sei denn, man behält die Knute selbst in der Hand. Es ist also nicht vorstellbar, dass einer von denen jemals mehr Befehlsgewalt erhalten wird als höchstens auf ganz subalternen Rängen …«

»Stimmt das denn – was der Major da gesagt hat?«, wollte Barry Strange am Abend wissen.

»Es klang vernünftig«, sagte Alister Mortleman, »abgesehen davon, dass er manchmal geklungen hat, als würde er denken, dass noch immer Krieg ist.«

»Ich fand, dass er ziemlich derangiert wirkte«, sagte Peter Morrison. »Er muss demnächst vors Militärgericht, wisst ihr. Hat Gelder abgezweigt, die eigentlich fürs Offizierskasino bestimmt waren.«

Sie spazierten über das zum Ausbildungslager gehörende Rummelplatzgelände. Der Sturzkampfbomber hing ungenutzt und verlassen quer über ihnen am Himmel. Einige einfache junge Soldaten, meist solche, die zur festen Belegschaft gehörten, schlenderten von Bude zu Bude.

»Selbstverständlich«, sagte Peter, »hat er nur über die Hindus gesprochen. Mohammedaner sind ganz anders, wie ich gehört habe.«

Da sie alle bisher weder mit einem Vertreter der einen noch der anderen Bekanntschaft gemacht hatten, verhallte diese Bemerkung unkommentiert.

»Wand des Todes«, Alister zeigt mit dem Finger darauf. »Lasst uns da reingehen!«

Aber der Mischling am Eingang sagte nein, das gehe nicht. Mit dem Motorrad stimme etwas nicht – ob sie in der nächsten Woche wiederkommen könnten? Was immer auch an dem Motorrad kaputt sein mochte, niemand schien große Eile zu haben, es zu reparieren, denn es stand ein paar Meter entfernt da, das Hinterrad in einer Halterung aufgebockt, die Vorderseite Richtung Wand. Auf dem Sitzpolster hatte sich, falsch herum, ein rotgesichtiger, ungepflegter Engländer um die vierzig breitgemacht, der eine dünne, schwarze Zigarre rauchte.

»Tut mir leid, Kumpels!«, sagte er.

»Ist das das Motorrad?«

»Ja. Wir warten drauf, dass der Rummelplatzbetreiber das Geld für ’nen neuen Hinterreifen lockermacht.«

»Und Sie sind der Fahrer?«

»Ja. Wenn es was zu fahren gibt.«

»Na«, sagte Barry freundlich, »wenn Sie den neuen Hinterreifen haben, dann kommen doch bestimmt viele Leute und wollen das sehen.«

Der Höllenreiter fasste den Stumpen zwischen Daumen und Finger und nahm ihn sich aus dem Mund.

»Denkt das bloß nicht«, sagte er, das brennende Ende mit den Nägeln abklemmend. »Die alten Soldaten – die, die auf dem Heimweg sind – haben zu viel gesehen, als dass sie sich um mich noch scheren. Und was die Jungs angeht, die auf dem Weg zu den Außenstationen hier durchkommen – die kriegen vom Rummelplatz Heimweh und bleiben lieber fort.«

»Wer kommt denn dann überhaupt her?«

»Manchmal einer von den Bürohengsten drüben aus dem Lager. Die hoffen, hier ’n Mädchen aufzugabeln.« Er steckte sich den Zigarrenstummel in seine Brusttasche und senkte die Stimme. »Gibt ’n paar Halb-und-halbe hier, Mischware, für ’ne Nummer. Zehn Chips pro Schuss, und für den Preis sind die gar nicht schlecht. Wenn ihr wollt, Jungs, kann ich euch mit’nander bekanntmachen.«

»Nein danke.«

Sie wandten sich um und gingen weiter.

»Viel Glück mit dem Motorrad!«, rief Barry ihm noch zu.

»Ein widerlicher Kerl!«, sagte Peter.

»Hat ja nicht viel zu lachen, auf so ’nem jämmerlichen Rum­mel, und dann noch mit ’nem kaputten Reifen … Was meinte der denn mit ›zehn Chips‹?«

»Sagt man so, für ›Rupien‹.«

»Mann«, sagte Alister, »wenn wir hier noch lange festsitzen, gönne ich mir am Ende noch die zehn Chips.«

»Zehn Chips, für die du dir vor allem Krankheiten holst«, sagte Peter. »In ein oder zwei Tagen sind wir hier weg, keine Sorge.«

»Aber wenn nicht«, sagte Barry, »dann müssen wir nächste Woche noch mal herkommen und uns die Wand des Todes anschauen. Mir tut der arme Kerl leid.«

»Unser kleiner Barry möchte gern die Mischware für ’ne Nummer kennenlernen«, frotzelte Alister.

»Ich finde das ekelhaft von ihm«, sagte Barry, wobei er Peter ansah, »aber er tut mir trotzdem leid.«

»Wir werden längst weg sein, bevor der Reifen wieder ganz ist«, versicherte ihm Peter.

Aber trotz seiner Beteuerung hing Schwermut über der kleinen Gruppe, schroff und hässlich wie der Sturzkampfbomber.

»Kommt schon!«, sagte Peter, der sich verpflichtet fühlte, etwas zur Hebung der Moral zu unternehmen. »Ich spendiere uns dreien eine Karte für das tätowierte Rhinozeros!«

Das tätowierte Rhinozeros war ausgestopft.

Vier Tage später waren sie noch immer in Kalyan, es sah folglich so aus, als könnte Barry die Wand des Todes doch noch zu sehen bekommen; und tatsächlich hatte Alister versprochen, am nächsten Tag – Heiligabend – mit ihm dort hinzugehen. Derweil machte sich ein beträchtlicher Aufruhr breit, weil ein Offizier eigens aus Delhi eingeflogen war, um zu ihnen zu sprechen. Sein Name war Oberstleutnant Glastonbury, er sah aus wie ein größerer und schlafferer Bruder von Douglas Fairbanks junior, und er war (wie Peter allen mitteilte) jemand ganz Wichtiges im Stab von Lord Wavell. Die Offiziersanwärter gingen davon aus, dass er gekommen war, um ihnen zu erklären, warum sich die Verlegung nach Bangalore schon so lange verzögerte – doch nicht nur äußerte er sich nicht dazu, er schien überhaupt nicht zu wissen, dass es eine Verzögerung gab. Er war angereist, um ihnen, wie er sagte, etwas über ihre weiteren beruflichen Aussichten in der Armee zu erzählen.

»Über hundert von Ihnen«, begann er schleppend, »sind als Offiziersanwärter für die Infanterie der Indischen Armee hierhergekommen. Ich muss Ihnen jedoch mitteilen, dass es höchst unwahrscheinlich ist, dass mehr als nur eine Handvoll von Ihnen jemals Offiziere der Indischen Armee sein werden.«

 

»Was hab ich dir gesagt?«, flüsterte Alister Peter erbost zu. »Die wollen uns alle nicht. Steht ihm ins Gesicht geschrieben.«

»Aller Wahrscheinlichkeit nach«, fuhr Oberstleutnant Glastonbury langatmig fort, »werden mindestens siebenundneunzig Prozent von Ihnen einen Offiziersbrief eines britischen Linien­regiments der Infanterie erhalten, und Sie werden Einheiten dieser Regimenter im Fernen Osten zugeteilt, sobald Sie Bangalore verlassen.«

Er wiederholte das noch mal auf vielfältige Weise die folgenden zwanzig Minuten hindurch und fragte dann, ob es Fragen gebe.

»Sir, können Sie uns sagen«, fragte Peter, »warum so wenige von uns in die Indische Armee aufgenommen werden?«

»Weil die neue Vorgehensweise ist, Einheimische, also Inder, zu Offizieren zu ernennen.«

»Warum hat man uns dann als Anwärter für die Indische Armee angenommen?«

»Weil niemand die neue Vorgehensweise vorhergesehen hat.«

»Sind wir weiterhin Offiziersanwärter der Indischen Armee?«, bohrte Peter weiter nach.

»So weit erst einmal ja. Es führt zu nichts, hier bei mir dar­über in Eifer zu geraten, mein Freund. Ich bin nur der Über­bringer der Nachricht aus Delhi. Ohnedies, ich selbst ge­höre der Kavallerie an« – matt und bequemlich hörte sich das an – »und ich weiß ohnehin nie so recht, was die Fritzen von der Infanterie vorhaben. Mit Ihnen, aber auch mit allen anderen. Nur eins weiß ich genau, und das sollten Sie besser auch gleich begreifen.«

Es schaute auf die versammelten Fahnenjunker herunter wie ein mildtätiger Jeremias.

»Das alles hier drüben geht zu Ende, verstehen Sie? In der Indischen Armee haben Sie keine Zukunft, selbst wenn Sie tatsächlich noch dort aufgenommen werden sollten. Weil die Vorstellung aus ist, Freunde. Es dauert vielleicht noch ein Jahr oder zwei, alles abzuwickeln, aber die Audienz, der Durbar, ist zu Ende. Wenn Sie also noch lang genug hier sind, dürfen Sie helfen, die Fensterläden zu schließen und die Fahne einzuholen. Und mehr schaut für Sie dabei nicht heraus.«

Bevor Oberstleutnant Glastonbury Kalyan verließ, ging er auf Ersuchen der Offiziersanwärter zum Kommandanten des Durchgangslagers und erkundigte sich, wann diese damit rechnen konnten, nach Bangalore verlegt zu werden. Die kurzangebundene Antwort lautete, dass der Kommandant es nicht wisse und es ihm überdies egal sei, und das sagte er Glastonbury auch so und ließ ihn obendrein wissen, dass er sich um seine eigenen Angelegenheiten kümmern solle.

»Dem flattern die Nerven«, erklärte Glastonbury gutgelaunt der Abordnung von Fahnenjunkern, die ihn zum nahegelegenen Flugfeld begleiteten. »Ein Kleinbürger, eigentlich kein schlechter Kerl, bloß ist er stocksteif vor Sorge, was wohl aus ihm werden wird, wenn das arme alte Britische Raj hier zusammenpacken kann.«

»Und dennoch hätte er sich Ihnen gegenüber etwas höflicher zeigen können, Sir«, sagte Peter.

»Ihm hat schon meine Aufmachung nicht gefallen.« Das Regiment, dem Glastonbury angehörte, ein britisches, waren die 49th Earl Hamilton’s Light Dragoons, und seine Uniform war, selbst noch in der für die Tropen tauglichen Variante, sehr auffällig. »Und Besucher aus Delhi mag er auch nicht. Sie bringen selten gute Nachrichten … Vielen Dank, dass Sie mich begleitet haben, Gentlemen! Sollte ich etwas Neues für Sie in Erfahrung bringen können, schaue ich bei Ihnen in Ban­galore vorbei.«

Was alles schön und gut war, aber nichts daran änderte, dass die Offiziersanwärter weiter in Kalyan vor sich hingammelten, so dass sie nun davon ausgehen mussten, auch noch die folgenden zwölf Tage über die Weihnachtszeit dort zu verbringen. Am nächsten Tag also – Heiligabend – zogen Alister Mortleman und Barry Strange spät am Nachmittag los, um der Wand des Todes einen Besuch abzustatten und herauszufinden, ob sie nun in Betrieb war. Peter, der urplötzlich unter der an diesem Ort verbreiteten Art Durchfall (»Kalyanische Kackerei«) litt, blieb zurück, um in der Nähe der Sanitäranlagen zu sein.

»Weißt du was?«, sagte Alister zu Barry. »Ich denke, ich werde mir eins dieser Mischlingsmädchen besorgen, von denen der Geselle uns erzählt hat.«

»Weißt du denn, was man da machen muss?«

»Natürlich! Du musst einfach bloß … na ja … du weißt schon.«

Barry, der es nicht wusste, nickte.

»Und du?«

»Ich hätte nichts dagegen«, sagte Barry, der anderen immer gern gefallen wollte und daher sein Auftreten in moralischer Hinsicht der jeweiligen Begleitung anpasste. »Aber ich hab nicht genug Geld.«

»Zehn Chips? Ich hab genug für uns beide.«

Sie kamen auf dem Rummelplatz an. Der Sturzkampfbomber ragte noch immer in genau demselben Winkel in die Luft, wie sie ihn zuletzt schon gesehen hatten.

»Vielsagend«, bemerkte Alister.

»Ich möchte mir aber nichts holen.«

»Wirst du nicht – wenn du einen von denen benutzt.«

Alister gab seinem Freund ein kleines Briefchen. Sie gingen zur Wand des Todes hinüber, vor der der Fahrer auf dem Motorrad saß; wie der Sturzkampfbomber schien er sich, seit sie ihn zuletzt dort zurückgelassen hatten, nicht bewegt zu haben.

»Ich glaube«, sagte Barry, »wir müssen jetzt langsam zurück. Um sechs findet ein Weihnachtsgottesdienst in der Garnisonskirche statt.«

»Quatsch!«, sagte Alister. Und dann zum Fahrer: »Na, hallo!«

»Hallo, ihr wieder!«, sagte der Höllenreiter.

»Wir … Wir hätten gern, dass Sie uns mit zwei der Mädchen bekanntmachen, von denen Sie erzählt haben.«

»Aber gern. Nur habt ihr jetzt keine Zeit.«

»Jede Menge Zeit haben wir! Nicht mal zum Appell antreten müssen wir, erst am Tag nach Weihnachten.«

»Eure Truppe packt grade zusammen«, sagte der Motorradfahrer.

»Unsinn. Wir kommen doch eben von dort.«

»Wie ihr meint.«

»Es wäre aber schon … für Heiligabend.«

»Mir ist das gleich«, sagte der Fahrer. »Wenn ihr zwei Mädels wollt, könnt ihr die haben. Zehn Chips für jeden, plus fünf für mich.«

Barry, der seinen Blick über den im schwindenden Licht liegenden Rummelplatz schweifen ließ, an den geschlossenen Buden entlang und den Hügel hinauf, der sich dahinter wie ein dünner, ungleichmäßiger Kegel gen Himmel schraubte, kamen einige Verszeilen aus seiner Kindheit in den Sinn:

Treu Thomas lag am Huntlie-Strand,

Da thät sein Aug’ ein Wunder schau’n;

Da sah er, wie ’ne schöne Frau

Ritt nieder am Hollunderbaum.

Treu Thomas hatte den Weg »ins Zauberreich der Elfen« gewählt und Barry, das sah er nun, hatte dasselbe getan. Treu Thomas hatte das Schicksal sieben Jahre lang zur Wanderschaft verdammt – und fürwahr, wenn Barry es richtig in Erinnerung hatte, »kehrt’ nie mehr in sein Land er heim«. Barry musste in seines zurück, solange noch Zeit war. Vielleicht war es schon zu spät, und er würde sich von allen abgeschnitten im leeren Raum auf einem Eiland wiederfinden, für immer verdammt, in dieser Kirmeswelt zu bleiben. Barry erschauderte, wirbelte herum und stürzte davon.

»Kluger Junge«, sagte der Motorradfahrer zu Alister. »War­um tust du nicht dasselbe?«

Doch Alister wich nicht von der Stelle. »Hier sind fünfzehn Rupien«, sagte er.

Der Fahrer nahm das Geld, rührte sich aber nicht.

»Durch den Eingang hinein«, sagte er zu Alister, »die erste Tür links und dann hoch auf die Galerie.«

»Und dann?«

»Such dir eine aus. Da oben findest du alles, was du brauchst.«

»Besonders privat ist das dort aber nicht.«

»Was erwartest du für fünfzehn Chips?«

Alister atmete tief ein und stapfte durch die Eingangstür.

Als Barry sich wieder in der Unterkunft der Offiziersanwärter im Durchgangslager eingefunden hatte, befand sich alles in Aufruhr. Ein eiliger Verlegungsbefehl war eingetroffen (niemand wusste genau, woher, doch war das Wort »Delhi« in aller Munde), und so sollten die dreihundert Offiziersanwärter um Mitternacht den Zug besteigen. Da die meisten kaum persönliches Gepäck mitführten, stellte das Zusammenpacken sie nicht vor Probleme, aber es waren ungeheuer viele Formalitäten einzuhalten. Ärgerlich stiefelten die zuständigen Hauptfeldwebel mit ihren dicken, in dreifacher Ausführung vorhandenen Listen hin und her, während woanders leise miteinander redend Offiziere gruppenweise beieinanderstanden, die man zuvor noch nie gesehen hatte und die sich jetzt ungeduldig mit ihren Stöckchen an die Waden schlugen.

»… Morrison, P.«

»Hier, Herr Hauptfeldwebel!«

»Mortleman, A.«

»Der ist kurz spazierengegangen. Ist gleich zurück.«

»Das will ich aber auch hoffen, Junge!«

»Er konnte ja nicht wissen, was jetzt passiert.«

»Er konnte es nicht wissen, Junge? Ich konnte das auch nicht wissen, und trotzdem bin ich hier und schreie mir die Seele aus dem Leib, oder etwa nicht? Stehe auf dem Exerzierplatz, wenn man mich braucht, und es ist mir gleich, ob es Heiligabend ist oder der Jüngste Tag. Murphy, J. … Muscateer, Earl von … Zacccharias, W. Raus mit Ihnen – und angetreten!«

»O bitte, Herr Hauptfeldwebel: Ich hab solchen Durchfall!«

»Folgen Sie der Kolonne in Ihrem Tempo bis zur Kleiderkammer und kneifen Sie die Arschbacken zusammen. Was die­­ser Haufen hier braucht, wäre ein Kindermädchen!«

»Verzeihen Sie, Herr Hauptfeldwebel, dürfte ich …?«

»Ja, Eure Lordschaft? Haben Sie Ihr Krönchen verloren, Eure Lordschaft? Nein? … Bloß Ihr Soldbuch? Sonst haben Sie nichts verloren? Nun, dann sehen Sie besser zu, dass Sie es wiederfinden, Mr. Lord Muscateer, Sir, aber wirklich, denn wenn Sie jemand danach fragt und Sie haben es nicht, dann sind Sie namenlos – oder etwa nicht, my Lord ? – und das würde bedeuten, dass Sie ruckzuck in einem Verlies verschwinden und man nie wieder von Ihnen hört. Raus !«

»… Morrison, P.«

»Herr Hauptfeldwebel.«

»Tropenfeldblusen: drei, von OA während der Verbringung zum Standort zu tragen, Hosen drei, Shorts drei. Hier unterschreiben. Geht noch mit dem Zusammenkneifen, hoffe ich?«

»Grade so, Herr Hauptfeldwebel.«

»Mortleman, A. Das ist der, der grade Gassi geht. Einer von Ihnen, meine Herren, schafft ihn mir besser gleich her, das kann ich Ihnen sagen, denn wenn er heute Nacht nicht in dem Zug sitzt, dann kriegen sie ihn wegen Desertierens dran – hat sich während stetiger Marschbereitschaft von der Truppe entfernt. Was hat er für eine Größe? … So ’n Riesenkerl, der Lumpenhund, was? Also, Sie nehmen diese Zuteilung hier für ihn mit, Mr. Morrison, P., und jetzt nichts wie raus hier mit Ihnen, bevor Ihr Gekröse am Ende noch in meiner schön sauberen Kleiderkammer landet. Murphy, J. – Tropenfeldblusen, Hosen, Shorts – und hier haben wir ja wieder Seine Lordschaft, für Sie habe ich eine ganz besondere Montur, my Lord, aus Seide …«

Gott!, dachte Peter, als er auf der Schüssel saß, seine eigene und Alisters Tropenuniform neben seinen Knöcheln aufgestapelt, wie brühwarmes Wasser, und es rauscht nur so durch. Soll ich mich krankmelden? Mich krankmelden und nicht mitfahren? Es kann Wochen dauern, bis ich dann hier wegkomme; kann sein, dass sie mich einer später angekommenen Gruppe zuteilen, kann sein, dass sie sagen, ich hätte meine Chance verpasst – und sie schicken mich einfach zurück nach Hause. Kalyanische Kackerei – aaaaaautsch – aber es wird ja wohl eine Toilette im Zug geben, man soll in fremden Ländern nicht von der Seite seiner Freunde weichen, man darf wegen einer Lappalie wie der Kalyanischen Kackerei nicht aus der Reihe treten. Pfffffchiiiijuuuuh – damit sollte nun aber für die nächsten zwanzig Minuten erst mal Ruhe herrschen.

Jemand betrat eine Kabine in der Nähe und musste sich fürchterlich übergeben. Da es keine Türen gab, sah Peter kurz hin, als er vorüberging: Alister, würgend und schwankend über den Toilettensitz gebeugt.

»Alister.«

»Peterchen. Ich bin so was von besoffen. Jetzt geht’s mir schon besser, aber wie müde ich bin! So müde. Hilf mir ins Bett, Peterchen.«

»Nix da Bett, Alister! Du musst in diese Tropenuniform hier steigen und deine Ausrüstung herrichten und um 23 Uhr auf dem Exerzierplatz stehen, damit der Transporter uns mitnimmt, so dass wir um Mitternacht den Zug besteigen können.«

»Gott, mir geht’s dreckig. Und du siehst auch schrecklich aus. Los, ins Bett!«

 

»Nix da Bett! Geh los und pack dein Zeug. Obwohl, ich glaube … ich muss erst noch mal kacken gehen …«

Also ging Peter noch mal kacken, und Alister übergab sich aus Kameradschaft ein weiteres Mal – und danach taumelten sie zu ihrem Basha (Zelt) und legten sich trotz Peters Mahnung, dies nicht zu tun, auf ihre Charpais (Liegen), während Barry um sie herumfuhrwerkte, um ihre Koppeltragegestelle zu bestücken und Alister dabei lüsterne Fragen zu stellen.

»Die hat mir dieses Zeug gegeben«, sagte Alister. »War kein Alkohol, glaube ich. Irgendwas, mit dem ich es besser hinkriegen würde, meinte sie. Richtig teuer, dreißig Chips extra, aber es hat wirklich gewirkt und …«

»… und hat dich jetzt übel erwischt«, sagte Barry trocken. »Heb mal deinen Hintern, bitte, Alister, sonst krieg ich die Hosen nicht hoch. Gut so. Ich schau bloß mal schnell, wie Peter zurechtkommt, und dann bin ich gleich wieder bei dir und helfe dir mit deinem Tornister und der restlichen Ausrüstung …«

»… Morrison, P.«

»Herr Hauptfeldwebel!«

»Mortleman, A. … Schön, dass Sie inzwischen auch eingetroffen sind, Mr. Mortleman. Sie haben hoffentlich einen angenehmen Spaziergang hinter sich, Sir, auch wenn Sie jetzt davon ganz grün im Gesicht sind. Murphy, J. … Eure Lordschaft … Zaccharias, W. Und jetzt ab mit Ihnen allen aufs Transportfahrzeug. Wenn Sie erlauben, Mr. Mortleman. (Herrgott, Bürschchen, was haben Sie denn getrunken? Sie stinken ja wie ein Turm der Parsen. Hat Ihnen niemand gesagt, dass Sie nie etwas trinken sollen, was diese Mädchen Ihnen anbieten?) Und hoch den Hintern – danke schön, Mr. Strange! Meine Empfehlung, die Herren, und eine angenehme Reise nach Bangalore. Es wird Ihnen dort schon gefallen, aber ich gebe Ihnen einen letzten Rat: Rühren Sie bloß niemals die Orangenbaisertorte in Ley Wongs chinesischem Restaurant an!«

Als die Weihnachtssonne über ihnen aufging, fuhren sie gerade durch Poona, ihr Weihnachtsessen verspeisten sie auf einem Ausweichgleis in Solapur.

Aufgrund von Peters Kalyanischer Kackerei und Alisters wie­der­holtem Erbrechen war die Nacht unruhig gewesen. Da es pro Waggon nur ein WC gab und jeder Waggon zwei Züge mit Fahnenjunkern transportierte, bei denen überdies in der hellen Aufregung selbst die nicht an der Kalyanischen Kackerei Leidenden den starken Drang verspürten, sich zu erleichtern, waren beträchtliche hygienische und logistische Schwierigkeiten aufgetreten. Barry tat jedoch, was er konnte, um das Unwohlsein seiner beiden Freunde zu lindern, und wurde dabei tatkräftig vom Earl of Muscateer unterstützt, der für den Fall, dass das Klo besetzt war, für den verzweifelten Peter eine raffinierte Vorrichtung ersann, bei der Kochgeschirr und ein Öleinfülltrichter zum Einsatz kamen, und der den Großteil seines besten Eau de Colognes aufbrauchte, um Alister zu säubern. Als sie schließlich Poona hinter sich gelassen hatten, war halbwegs so etwas wie Ordnung hergestellt, und als das »Dinner« in Solapur ausgegeben wurde (eine zähflüssige Pampe, die auf dem Bahnsteig aus großen Behältnissen in ihre Essgeschirre geklatscht wurde), waren sowohl Alister als auch Peter so weit wieder bei Kräften, dass sie mit aussteigen und sich zusammen mit den anderen anstellen konnten.

Erleichternd kam hinzu, dass der Spätnachmittag dort, wo sie sich nun befanden, mild und wohltuend war und es Unterhaltung in Form einer indischen Barackensiedlung gab, die sich unmittelbar unter ihnen an die Aufschüttung für das Ausweichgleis anschloss. Auf dem Bahnsteig stehend, konnten sie das bunte und malerische Treiben von bestimmt tausend Einheimischen beobachten, deren gesamter Lebensraum, wie es schien, nur etwas größer war als ein ordentlich bemessener Krocket-Rasenplatz.

»Das Quartier der Unberührbaren, oder was meint ihr?«

»Was für ein Kakerlakennest«, sagte Alister. »Gott sei Dank leben wir in einem Land, das niemals so überfüllt sein könnte.«

»Wieso denn nicht?«, sagte Lord Muscateer.

»Kannst du dir vorstellen, dass irgendwer in England jemals so leben würde? Schau mal, das verwahrloste kleine Mädchen dort – das kackt grade auf ihre eigene Türschwelle.«

»Nach letzter Nacht«, sagte Peter, »kann man daran schwerlich etwas Verwerfliches finden. Wo«, fragte er Muscateer, »hattest du denn eigentlich diesen Öltrichter her? So etwas trägt man doch nicht einfach so mit sich herum.«

»Mein alter Herr hat mir geraten, einen mitzunehmen. ›Wann immer ein Mann weiter als Calais gen Osten reist‹, hat er zu mir gesagt, ›sollte er einen großen Öltrichter mitnehmen. Du hast keine Vorstellung, wie praktisch der sein kann!‹ Und wie es aussieht, hatte mein alter Herr damit recht.«

»Ich bin ihm sehr dankbar – und dir. Der ist aber sicher sperrig im Gepäck.«

»Zumindest verliert man ihn nicht so leicht. Nicht wie ein Soldbuch. Ich konnte meins immer noch nicht finden«, sagte Muscateer zerknirscht. »Meinst du, die können deswegen wirklich Stunk machen?«

»Na ja. Ein bisschen Aufhebens werden sie schon darum machen. Ist praktisch dasselbe wie ein Personalausweis. Ich würde es denen einfach beichten.«

»Was meinte denn eigentlich dieser Hauptfeldwebel?«

»Von wegen dass sie dich in ein Verlies sperren werden? Das ist natürlich Humbug.«

»Nein, das doch nicht. Dass wir die Orangenbaisertorte in Ley Wongs chinesischem Restaurant nicht essen sollen. Warum in aller Welt sagt er uns denn so was?«

»Das hab ich gar nicht mitbekommen«, sagte Peter. »Was denkt ihr, wie viele Inder teilen sich wohl eine solche Hütte als Unterkunft?«

»Ich habe vorhin gezählt, dass zehn in eine hineingegangen sind«, sagte Barry, »und keiner ist wieder rausgekommen.«

Doch wurde weiteren Mutmaßungen, in welchem Verhältnis Mensch und Umwelt hier zueinander standen, dadurch Einhalt geboten, dass sie zu ihren Holzbänken zurückbeordert wurden. Der Zug rollte vom Nebengleis und ratterte mit ihnen über das staubige Hochland von Dekkan nach Gulbarga davon. Für einige Zeit ließen sie ihre Blicke über die gelbe, steinige Ebene schweifen, bis die Sonne hinter den Westghats versank und alles im Dunkeln lag. Daraufhin wickelten sie sich von den Beinen bis über den Bauch in Decken, dösten und fröstelten, nickten immer wieder kurz ein, schnarchten und sabberten und wimmerten, alldieweil die qualvolle Nacht dahinkroch und sich schließlich vor der guten alten Sonne davonschlich.

Um zwölf Uhr mittags waren sie die allerdings leid, als der Zug in Kodur hielt, wo sie ein Mittagessen bekamen – dicke Scheiben zadderigen Fleisches in einer glibberigen Soße, garniert mit nur halb garen Kartoffeln. Inzwischen war die Sonne ihr Feind, ein Feind, der mit jeder Minute des sich langsam dahinziehenden Nachmittags an Grausamkeit zunahm, während sie durch die Ebene auf die Berge zu krochen. Diese erreichten sie am frühen Abend und empfanden die kühle Luft als einen Segen, bis, als die Sonne sank und der Zug sich immer höher in die Berge emporschraubte, die Kühle zunehmend frischer wurde und sich schließlich in bittere Kälte verwandelte, deretwegen sie sich kläglich unter ihren einfachen kurzen Decken zusammenkrümmten wie Kinder im Armenhaus, die wissen, dass ihnen gleich Hiebe drohen.

Im Morgengrauen: die Küstenebene. Am späten Vormittag: Madras. In Madras ein Frühstück mit bitter gewordenem Tee und kleinen blassgelben Spiegeleiern (für jeden eins), und dann ein Zugwechsel.

»Letzte Etappe«, sagte Peter zu Muscateer.

Von nun an würden sie nach Westen in den Staat Mysore und nach Bangalore fahren, zunächst zurück über die Küsten­ebene und dann langsam ansteigend auf das Plateau hinauf, das gerade hoch genug lag, um die Sonne abzumildern, ohne dass es kalt wurde; und somit in ein verheißungsvolles Land voller blauer Tage und wispernder Palmbäume, ein herrschaftliches Land, in dem man von Reichtümern und heiterer Geruhsamkeit umgeben war, ein legendäres Land mit Polo-Chukkas und doppelten Whiskys und Tigerjagden, ein annehmliches Land, in dem ein Heer von Dienern sich vor Fahnenjunkern verbeugte und sich um alles kümmerte und Offiziersbriefe ausgegeben wurden wie bunte Bouquets auf einem Ball. Mit einem Ruck und einem Schlingern wand sich der Zug aus Madras heraus: Heute Abend Bangalore – dieser Ruf schallte durch die Waggons; Abendessen in Bangalore – SAGT ES ALLEN WEITER!

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