Gemeindebürger, Niedergelassene und Ausländer

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Damit zurück zur Churer Debatte der 1860er-Jahre: Über den (gescheiterten) ersten Versuch der Einrichtung einer politischen Gemeinde in Chur 1866 schrieb die Bündnerische Volks-Zeitung höhnisch, der Stadtrat hätte sich «etwas weniger mit dem souveränen Bürgermantel drapiren» sollen, wenn er einen «Beweis von Bürgertugenden» hätte geben wollen, stattdessen sei ein «Gebräu von zwei Drittheil Bürgerlich-konservativer Engherzigkeit und einem Drittel [sic!] verdünntem Liberalismus» vorgelegt worden.89 Damit wird noch einmal deutlich, wie stark in den 1860er-Jahren Vorstellungen über die Ausgestaltung der modernen, kommunalen Staatsbürgergesellschaft mit Werten vermischt wurden, die man als «bürgerliche» erkannte. Tugendhaftes Verhalten zeichnete sich nach dieser Deutung durch «Bürgersinn» aus, dadurch also, dass man möglichst vielen stimmberechtigten Männern die Möglichkeit zur Partizipation am Gemeindeleben gab. Genau daran mangelte es gemäss dem Churer Bittgesuch von 1865 an die Schweizer Bundesversammlung, worin 18 in Chur niedergelassene Schweizer das Stimmrecht in Gemeindeangelegenheiten forderten. In ihrer Argumentation nahm der den Gemeindebürgern vorgeworfene «Eigensinn» tyrannische Züge an. In Graubünden betrachte man es, so schrieben die Petenten, «als historisches Recht und als gute Sitte, über die Niedergelassenen wie gewissermassen über eine rechtlose Menschenklasse zu herrschen und dieselbe finanziell auszunutzen».90

Auch Julius Caduff argumentierte mit Werten des «bürgerlichen Wertehimmels». Sein Büchlein von 1864 über die Einwohner-Gemeinde zeigt, dass es in der Auseinandersetzung um die kommunalen Rechte von Gemeindebürgern und Niedergelassenen darum ging, allgemeinere Ideale wie egoistischen «Eigensinn» und gemeinwohlorientierten «Bürgersinn» den beiden sozialen Gruppen oder ihren Akteuren zuzuschreiben. Dem Argument der Gegner der politischen Gemeinde, wonach den Niedergelassenen jede Bürgertugend im Sinne von Gemeinwohlorientierung abgehe, hielt Caduff entgegen: Wenn die Bürgertugenden so sehr auf die Interessen der eigenen Gemeinde reduziert wären, dass sie schon im Nachbardorf inexistent wären, «dann wäre es wahrlich nur gut, wenn ein solches Spiessbürger- und Zopfthum sobald wie möglich ein Ende nähme!».91 Gemeinwohl wurde als etwas verstanden, was über die Grenzen der eigenen Gemeinde hinausgehen sollte. Caduff favorisierte eine liberal-universalistische bürgerliche Gesellschaft, weil es ein «jedem Menschen innewohnende[s] Gefühl von Gerechtigkeit und Gleichheit»92 gebe. Diese liberale bürgerliche Gesellschaft ging nicht von einer am Gemeinderecht orientierten Korporation aus, sondern vom Individuum.

Eine bürgerliche politische Kultur in Chur

Einen unmittelbaren Effekt auf den Status quo in der Stadt Chur hatte der Widerstreit bürgerlicher Werte nicht. In der Debatte um die Rechte von Gemeindebürgern und Niedergelassenen der 1860er-Jahre war hingegen eine politische Kultur miterzeugt worden, die typische Merkmale von Bürgerlichkeit aufweist. Trotz ihrer unterschiedlichen politischen Haltung konstituierten die widerstreitenden Positionen eine genuin bürgerliche politische Kultur, die sich von einer Arbeiter- oder Bauernkultur unterschied. Dazu gehörte die «Orientierung am Ideal»93 des «bürgerlichen Wertehimmels» mit seinen abstrakten, inhaltlich offenen Prinzipien wie etwa dem «Bürgersinn», den man der Spiessbürgerlichkeit vorzog.

Darüber hinaus war die Möglichkeit, sich individuell oder im freien Zusammenschluss mit Gleichgesinnten politisch zu engagieren, eine wesentliche Strukturvoraussetzung von Bürgerlichkeit. Die Debatte um die Schaffung einer politischen Gemeinde in den 1860er-Jahren in Chur hat gezeigt, wie die Lokalpolitik zur Bühne wurde, auf der sich «parallel zu den sozialen Veränderungen der Gesellschaft eine Adaption und Erfindung neuer politischer Handlungsformen»94 vollzog. Zum einen werden diese im individuellen Vorgehen Einzelner fassbar, zum anderen als freie Assoziation Gleichgesinnter.

Zu den Bildungsbürgern, die sich auf dieser Bühne hervortaten, gehörten neben Ratsherr Peter Jakob Bauer Stadtpfarrer Christian Kind, der katholische, radikal-liberale Anwalt Julius Caduff, der radikal-liberale Arzt Thomas Gamser oder auch der gemässigt liberale Peter Conradin von Planta.95 Diese Akteure machen deutlich, wie der Kampf gegen das vorherrschende Deutungsmuster des Altrepublikanismus ein gewisses Mass an individuellem Handeln erforderte, um in der immer durch bestimmte Zwänge und Anforderungen geprägten «ungesellige[n] Geselligkeit der bürgerlichen Gesellschaft»96 neue Entwicklungsmöglichkeiten aufzuzeigen: So galt Caduff als «kernhafter Radikaler» – eine für einen Katholiken aus der Surselva bereits in den 1860er-Jahren durchaus untypische Positionierung.97 In Eigenregie legte er 1866 den Entwurf einer neuen Bundesverfassung vor, worin er unter anderem die Volkswahl des Bundesrats und das obligatorische Referendum forderte.98 Peter Conradin von Planta hatte nicht nur 1842 als 27-jähriger Anwalt mit wenigen Mitstreitern den liberalen Bündner Reformverein gegründet. In seinem für die Kantonsregierung ausgefertigten Commissionalbericht über den Vorschlag zu einer Gemeinde-Ordnung von 1854 war er ein früher Mahner der Gleichstellung der Niedergelassenen in Gemeindeangelegenheiten und schliesslich 1866 treibende Kraft der Vorlage für eine liberalere Stadtverfassung gewesen – wenn auch Letztere in der Presse als schlechter Kompromiss gescholten worden war. Nicht zuletzt aber hatte derselbe Peter Conradin von Planta bereits 1846 als junger Churer Stadtschreiber aus Empörung einen kritischen Artikel im Freien Rhätier geschrieben. Das, nachdem die Stadt einem ihrer Gemeindebürger, der in Italien zum Katholizismus konvertiert war, faktisch das Bürgerrecht entzogen hatte.99 Der Preis für seinen liberalen Einsatz, mit dem er individuelle Freiheitsrechte über die Werte der Churer Bürgerkorporation gestellt hatte, war hoch gewesen. Bei der nächsten Wahl hatte Peter Conradin von Planta zur Kenntnis nehmen müssen, «dass meine Tage als Stadtschreiber gezählt seien».100

Neben diesen Handlungsmöglichkeiten Einzelner zeigen die im Diskurs von 1868 hervorgetretenen Bürgervereine und der Reformverein, wie nach der Entgrenzung der Stadtbürger aus Bindungen wie den Zünften neue politische Handlungseinheiten entstehen konnten. Bereits 1842 gründeten einige Churer aus «Mangel an Einheit unter uns» den ersten Churer Bürgerverein. Der «Wunsch des Gedankenaustausches, Bürger gegen Bürger und Bürger gegen Obrigkeit», sei «gross und mannigfaltig», stand in den ersten Statuten. Der Zweck dieses ausdrücklich nur den Churer Gemeindebürgern offenstehenden Vereins war sehr allgemein umschrieben: «[A]ller Art gemeinnützige Gegenstände in unserem Gemeinwesen nach Kräften fördern zu helfen, um bei allfällig vorkommenden Übelständen von sich aus, sei es auf dem Wege der Einlagen oder des gesetzlichen Petitionsrechtes, gehörigen Orts einzukommen.»101 Dieser Versuch, mit einem Verein eine neue Identität nach innen und eine Abgrenzung nach aussen herzustellen,102 wurde auf eine möglichst breite Basis gestellt; jeder Gemeindebürger ab 18 Jahren hatte Zutritt zum Verein.103 Die strikte Abgrenzung nach aussen bedeutete im Gegensatz zu vielen anderen Vereinen keine soziale Distinktion nach «oben» oder «unten»,104 sondern potenziell einen Längsschnitt durch alle Schichten der Churer Bevölkerung: Die prekär gewordene rechtliche Stabilität nach Ende der über 350-jährigen Zunftverfassung sollte mit diesem frühen politischen Verein stabilisiert werden. Weitere Quellen zu diesem frühen Churer Bürgerverein fehlen jedoch gänzlich.105 Trotzdem lässt sich festhalten: Für Chur war ein politischer Verein als freie Assoziation aller Gemeindebürger etwas völlig Neues. Dies hatte es im vormodernen Chur, als die Stadtbürger gestützt auf ein kaiserliches Privileg aus dem 15. Jahrhundert via Zünfte das politische und ökonomische Leben regelten, nicht gegeben.106 Im weiteren Kontext der Bündner Politik ist der Churer Bürgerverein als eine der ersten konservativ ausgerichteten Vereinigungen im modernen Kanton Graubünden zu bezeichnen.107 Zentrales Anliegen war, den politischen Wahl- und Abstimmungskörper der Stadt Chur als Bürgerkorporation zu erhalten, weniger die Autonomie der Stadt gegenüber dem Kanton.

Wer aber waren die Träger dieses Bürgervereins, oder, mit anderen Worten: Welche Rolle haben die alten Eliten in dieser freien Assoziation in Chur gespielt? Die Frage scheint umso gerechtfertigter, da in Chur wie im übrigen Kanton Graubünden Mitglieder der 40 Familien der aristokratischen Führungsschicht des Freistaats108 die hohen Ehrenämter zwischen 1637 und 1798 mehrheitlich unter sich aufgeteilt hatten. Unter den wenigen namentlich bekannten Mitgliedern des Bürgervereins von 1868 (Risch, Honegger, Simmen, Lendi, Hatz und Kind) wurden zwei Familien (Simmen um 1855, Honegger um 1859)109 erst in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts Churer Gemeindebürger. Risch, Lendi, Hatz und Kind gehörten zwar älteren Churer Geschlechtern an, Mitglieder der alten Bündner Führungsschicht waren aber auch sie nicht. Dabei lebte in den 1870er-Jahren durchaus noch eine Anzahl solcher Familien (die Bavier, die Salis, die Sprecher oder die Tscharner) in Chur.110 Dasselbe Bild ergibt sich im Übrigen auch für den nur aus Gemeindebürgern zusammengesetzten Stadtrat: Vergleicht man diese Behörde stichprobenartig mit sämtlichen Familien, die zwischen 1637 und 1798 mehr als ein hohes Ehrenamt besetzt haben, findet man für die elfköpfige Stadtbehörde von 1847 mit einem von Salis und einem (von) Bavier zwei,111 für jene 15-köpfige von 1872 mit einem (von) Bavier und einem Sprecher wiederum nur zwei Übereinstimmungen.112 Die alten Eliten verloren demnach in Chur im 19. Jahrhundert in den politisch relevaten Gremien rasch an Übergewicht. Hinweise, dass sie in freien Assoziationen wie dem Bürgerverein eine wichtige Rolle gespielt hätten, fehlen ebenfalls. Anders als in den Städten Bern oder Zürich kann deshalb von einem «Kampf [der neuen Eliten, S. B.] gegen die aristokratischen konservativen Herren und ihren Anhang»113 nicht die Rede sein. Demgegenüber betont die Forschung für die grossen ehemaligen Städteorte Basel und Bern eine Kontinuität der alten Eliten bis in das 20. Jahrhundert, die mit einer ausgeprägten Affinität zur vormodernen Tradition bis hin zum adligen Selbstverständnis einherging.114

 

Dies heisst nun nicht, dass es im Kanton Graubünden des 19. Jahrhunderts keine politisch aktiven Mitglieder der alten Eliten gab. Nur war ihre politische Ausrichtung wahrscheinlich oft eine andere als in Basel oder Bern: Was bereits mit den politischen Handlungen Peter Conradin von Plantas angedeutet wurde, hat Adolf Collenberg verallgemeinert: «Gerade die alte Landaristokratie war hier Trägerin des liberalstaatlichen und wirtschaftlichen Fortschritts.»115 Anfang der 1870er-Jahre trat im Bündner Grossen Rat ein Akteur für die Rechte der Niedergelassenen auf, der für seinen Biografen – wiederum Peter Conradin von Planta – «unstreitig der bedeutendste bündnerische Staatsmann dieses Jahrhunderts»116 war: Andreas Rudolf von Planta aus Samedan im Oberengadin. Tatsächlich gilt Andreas Rudolf von Planta dank des Niederlassungsgesetzes von 1874 bis heute als «weitblickender Staatsmann»,117 der eine für damalige Verhältnisse liberal-universalistische bürgerliche Gesellschaft dort zu realisieren versuchte, wo das bisher auf den Widerstand der Altrepublikaner gestossen war: in den Gemeinden.

In der ersten Hälfte der 1870er-Jahre startete der Kanton den zweiten Versuch, die Niederlassung neu zu ordnen. Mit einer Motion versuchte Grossrat Andreas Rudolf von Planta, die altrepublikanische Partizipationsstruktur zu zerbrechen. Mit dem daraus entstandenen Niederlassungsgesetz schnitt der Kanton tief in die altrepublikanisch organisierten Gemeinden ein und traf mit der zwingenden Erweiterung der Partizipationsberechtigung einen Teil der Gemeindeautonomie. Die Argumente der parlamentarischen Spezialkommission um Nationalrat Andreas Rudolf von Planta reproduzierten im Wesentlichen das aufgeklärt-liberale Argumentarium der 1850er- und 1860er-Jahre, ohne jedoch explizit bürgerliche Werte zu bemühen. Der Gesetzesentwurf erlaubte den Gemeindebürgern, nur mehr wenige ihrer Rechtsprivilegien zu behalten. So wollte man eine Trennung der politischen Rechte und der Rechte am Gemeindevermögen weitgehend vermeiden. Diese modernen Grundsätze wurden in der liberalen und katholisch-konservativen Presse als Garanten der Gemeindeeinheit hervorgehoben, während öffentliche Kritik am neuen Gesetz nur isoliert auftauchte.

3.3 Der Bruch mit der Hegemonie der Gemeindebürger

Bereits als Nationalratspräsident hatte der Oberengadiner Andreas Rudolf von Planta im Zuge der Demokratischen Bewegung Mitte der 1860er-Jahre auf Bundesebene einer grösseren direktdemokratischen Beteiligung das Wort geredet. Die neun Revisionspunkte der Bundesverfassung von 1866 hätten immerhin für alle Schweizer das Stimmrecht in Gemeindeangelegenheiten vorgesehen, doch scheiterte das «kunterbunte Paket von Vorschlägen» genauso wie die am 12. Mai 1872 knapp verworfene Revision der Bundesverfassung, die für die Niedergelassenen ebenfalls die kommunale Gleichberechtigung beim Stimmrecht vorgesehen hätte.118 Nicht einmal einen Monat später, am 8. Juni 1872, reichte Andreas Rudolf von Planta eine Motion an den Grossen Rat ein, die eine Revision des Niederlassungsgesetzes von 1853 verlangte. Damit verliess der Konflikt die lokale Bühne Churs und betrat zum zweiten Mal nach der Diskussion um das Niederlassungsgesetz von 1852 das Forum der kantonalen Behörden. Die Frontlinie, die sich damit auftat, war nun nicht mehr nur eine zwischen einer liberalen bürgerlichen Gesellschaft und einer altrepublikanischen Bürgergesellschaft, sondern gleichzeitig eine zwischen Etatisten und Altrepublikanern.

Wie erwähnt, war die innere Organisation der aus den vormodernen Nachbarschaften hervorgegangenen 223 Gemeinden weder im Gebietseinteilungsgesetz von 1851 noch in der Kantonsverfassung von 1854 geregelt worden. Der Versuch, 1854 mit einem kantonalen Gemeindegesetz direkten Einfluss auf die Gemeinden zu nehmen, war an der Urne gescheitert.119 Ein Eingreifen seitens des Kantons tat immer noch not: «‹Solche Zustände rufen nach Remedur!›» kritisierte der liberale Johann Bartholome Caflisch aus Trin 1869. Es sei «‹eine Anomalie, wenn circa 230 Gemeinden, welche die ursprünglichste und bedeutsamste Gliederung in unserem Staate darstellen, in demselben als ebensoviele Souveränitäten schalten und walten› […]».120 Für das Bündner Tagblatt war noch 1872 in den Gemeinden aus Sicht der kantonalen Verwaltung «alles wüst und leer, wie am zweiten Tage der Schöpfung».121


Abb. 1: Andreas Rudolf von Planta (1819-1889) leitete die Vorarbeiten zur Revision des kantonalen Niederlassungsgesetzes, mit der die meisten Rechtsprivilegien der Gemeindebürger 1874 zerschlagen wurden (undatierte Aufnahme).

Vor diesem Hintergrund nahm Andreas Rudolf von Plantas Motion für ein neues Niederlassungsgesetz zum ersten Mal die Rechtsprivilegien der Gemeindebürger zum Angriffspunkt, während noch das kantonale Niederlassungsgesetz von 1853 bekanntlich den Niedergelassenen lediglich Stimm- und Wahlrechte auf Kantons- und Bundesebene gewährt hatte. Der Kanton startete – um mit Benjamin R. Barber zu sprechen – seinen Angriff auf die «source of the commune’s real power: its status as an integral, self-governing corporation with a privileged, self-appointing membership (i.e., the citizen commune)».122

Konturen eines liberalen Gesetzesentwurfs

Ein Jahr nach Annahme seiner Motion im Grossen Rat reichte Andreas Rudolf von Planta dem Kleinen Rat und der Standeskommission den Bericht der Vorberatungskommission zur Revision der Niederlassungsordnung von 1853 ein. Bereits in den einleitenden Bemerkungen wurde der Problemdruck deutlich, den es von kantonaler Seite zu mildern galt, handelte es sich doch bei der Niederlassung um «eine […] der brennendsten staatlichen Fragen der Gegenwart»,123 die gelöst werden musste. Im Bericht knüpfte Andreas Rudolf von Planta seinen Grundsatz einer liberal-universalistischen bürgerlichen Gesellschaft an das Nationalbild der Schweiz. Die Schweiz dürfe «bei ihren sonstigen freien Grundsätzen und im Hinblick auf ihre historische Mission im Völkerleben Europas am allerwenigsten noch länger in dieser Hinsicht hinter den monarchischen Staaten zurückbleiben».124 Diese «Mission» überhöhte er mit dem aufklärerischen Naturrecht: «[M]it gutem Beispiele […] auf diesem Gebiete demokratischer Staatseinrichtungen» voranzugehen, bedeute, «unserem guten republikanischen Instinkte oder vielmehr unsern naturwüchsigen Rechtsanschauungen Ausdruck» zu verleihen.125

Der Bericht der Vorberatungskommission liess keinen Zweifel daran, dass dies auf ein Republikverständnis zielte, wie es die Helvetische Republik vorgesehen hatte: die möglichst egalitäre politische und wirtschaftliche Partizipation aller mündigen Schweizer Männer in den Gemeinden – unter Berücksichtigung einiger weniger Rechtsprivilegien der Gemeindebürger. Konkret bedeutete das auf der einen Seite die Beteiligung der Niedergelassenen am Nutzungsvermögen der Gemeinden (Alpen, Weiden, Wälder) gegen Entgelt. Nicht nutzungsberechtigt waren sie nur am Armengut und an den Bürgerlösern, die für von Planta der Gemeinde ohnehin nicht zum Vorteil gereichten.126 Auf der anderen Seite sollte den Niedergelassenen volles Stimmrecht auf Gemeindeebene gewährt werden, davon ausgenommen waren nur «Veräusserungen von Gemeindeeigenthümlichkeiten».127 Entscheidend war, dass trotz dieser Einschränkungen «das bürgerliche Leben» auf der «vollständige[n] bürgerliche[n] Gleichberechtigung» beruhte. Mit anderen Worten ging es um die Etablierung von Politischen Gemeinden anstelle der bisher de jure nur aus Gemeindebürgern zusammengesetzten Wahl- und Abstimmungskörper in den Gemeinden. Damit war der Moment gekommen, in dem der Kanton zum ersten Mal den Versuch unternahm, das altrepublikanisch organisierte Rechtsverhältnis in den Gemeinden zu zerbrechen. Ob die korporativen Strukturen ganz zerschlagen werden sollten oder ob am Ende zwei unterschiedliche Gebilde entstehen würden, wusste zu diesem Zeitpunkt noch niemand.

Der Schluss des Berichts der Vorberatungskommission reihte diesen etatistischen Angriff des Kantons auf die Sphäre der korporativ und autonom organisierten Gemeinden in eine Reihe anderer kantonaler Massnahmen ein. Die Kommission war sich wohl bewusst, dass sie damit in das «Schalten und Walten» der Gemeinden eingriff, wie es vier Jahre davor Bartholome Caflisch gefordert hatte:

Nachdem wir in unserem Kanton auf dem Gebiete des Verkehrswesens Rühmliches geleistet, im Schul- und Forstwesen starke gesunde Wurzeln zu einem hoffnungsreichen Aufwuchs gepflanzt, unsere Zivil- wie Strafgesetzgebung so vollständig revidirt [sic!] und neu geordnet haben, wie wenig andere Kantone; – fühlen und bekennen wir wohl alle, dass nun vor allem bei uns das Gemeindeleben, bei voller Wahrung der freien Grundlagen desselben, noch der Hebung, Belebung und Veredelung bedarf.128

Um diesen Angriff zu begründen, folgte der Bericht der Vorberatungskommission eng aufklärerisch-rationalen Prinzipien, die auf eine Dynamisierung der Gesellschaft hinausliefen. Andreas Rudolf von Planta argumentierte mit den Nachteilen für die wirtschaftliche Entwicklung in Zeiten gesteigerter Mobilität, falls man die wachsende Zahl von Niedergelassenen im Kanton (1870 knapp ein Drittel) weiterhin rechtlich beschränke.129 In einer liberal-universalistischen bürgerlichen Gesellschaft würde auch die wirtschaftliche Lage des Einzelnen verbessert, da «bei den örtlichen und klimatischen Verhältnissen in manchen unserer Landesgegenden ohne etwelchen Mitgenuss am Gemeindevermögen das Niederlassungsrecht rein illusorisch wird, weil namentlich ärmere Leute daselbst nicht fortkommen noch existiren [sic!] können».130 Dieses Argument war bereits gut 20 Jahre davor im Grossen Rat bei der Beratung des Niederlassungsgesetzes von 1853 aufgetaucht. Ihm liegt die Vorstellung individueller Freiheitsrechte zugrunde, für die der Kanton einheitlich bis in die letzte Gemeinde besorgt sein musste. Dies bedingte eine Trennung zwischen einem übergeordneten Staat als fernem Wächter rechtlicher Rahmenbedingungen einerseits und der lokalen Gesellschaft als Sphäre des Ökonomischen andererseits. Eine solche Konzeption stand in diametralem Widerspruch zur bestehenden politisch-sozialen Einheit der Gemeinde, in der das Gemeinwohl einer relativ abgeschlossenen Korporation mehr galt als die Möglichkeiten des Einzelnen.

Ähnlich wie Plantas Bericht der Vorberatungskommission hatte Julius Caduff schon 1864 argumentiert, die Freizügigkeit der Bundesverfassung 1848 habe die Wirtschaft in der Schweiz stark gefördert, der nächste logische Schritt sei deshalb die Einrichtung von Politischen Gemeinden.131 Mit anderen Worten: Eine universalistische bürgerliche Gesellschaft aller mündigen Männer war die beste Voraussetzung, Besitz und Bildung möglichst grosser Teile der Bevölkerung zu verbessern. Dieses Argumentationsprinzip war nicht untypisch: Wie die Juden-, Arbeiter- oder Frauenemanzipation zehrte die Kritik Andreas Rudolf von Plantas und seiner Mitstreiter und Vorläufer von den ideellen Ressourcen des aufklärerischen Modells, um auf die evidenten Mängel bei der Realisierung ebendieses Modells hinzuweisen.132