Gemeindebürger, Niedergelassene und Ausländer

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3 Vom Niederlassungsgesetz 1853 zum Niederlassungsgesetz 1874

Der Aushandlungsprozess um eine Ausweitung der kommunalen Partizipationsrechte auf alle Schweizer begann in Graubünden mit der Debatte um das kantonale Niederlassungsgesetz von 1853 im Grossen Rat. Damit standen zwar nicht einzelne Kompetenzen der Gemeindeautonomie zur Diskussion. Der Versuch, die korporativ abgeschlossenen Wahl- und Abstimmungskörper der Gemeinden drastisch zu erweitern, rief dennoch den Widerstand altrepublikanisch gesinnter Grossräte hervor. Bereits in dieser frühen Phase wird ein Grossteil des Argumentariums fassbar, das phasenverschoben und in weitaus elaborierterer Form bis weit über die Mitte des 20. Jahrhunderts von den Verfechtern der Rechtsprivilegien der Gemeindebürger vorgebracht werden sollte. Das seit dem frühen 19. Jahrhundert bestehende Spannungsverhältnis zwischen einem modernisierenden Kanton und den altrepublikanischen Prinzipien der Gemeinden kam jedoch noch nicht explizit zur Sprache.

3.1 De jure ein Status quo

Um die Mitte des 19. Jahrhunderts erfuhr die staatsrechtliche Gestalt des Kantons «auf einen Schlag eine fundamentale Veränderung».1 Mit dem neuen Gebietseinteilungsgesetz vom 1. April 1851 war es den liberalen Grossräten gelungen, die noch aus der Frühneuzeit stammenden Gerichtsgemeinden aufzulösen. An ihre Stelle traten die 39 neu geschaffenen Kreise, die aber lediglich gewisse gerichtliche Kompetenzen erhielten. Die eigenständige staatsrechtliche Stellung der ehemaligen Gerichtsgemeinden wurde drei Jahre später in der neuen Kantonsverfassung auf die 223 ehemaligen Nachbarschaften übertragen, aus denen nun «mit grosser Autonomie ausgestattete Gemeinwesen mit Staatsqualität» entstanden.2 Aus diesem Grund ist Graubünden bis heute kein «Einheitsstaat», sondern als «Bundesstaat mit Gemeindestaatlichkeit» ein atypisches Mittelding.3

Allein, die rechtliche Reorganisation der neuen 223 Gemeinden stellte für die Kantonsbehörden, so bringt es Peter Metz auf den Punkt, «ein überaus heikles und umstrittenes Problem»4 dar. Ab Mitte des Jahrhunderts stand der Kanton damit praktisch allein 223 Gemeinden gegenüber.5 Dies war das Spielfeld, auf dem sich der nach Vereinheitlichung strebende Kanton und die Gemeinden mit ihrer überkommenen Vorstellung von Autonomie trafen.6 Was die innere Organisation und rechtliche Ausgestaltung der Gemeinden anging, verhielt sich der Kanton zögerlich: Weder im Gebietseinteilungsgesetz von 1851 noch in der Kantonsverfassung von 1854 wurden entsprechende Artikel aufgenommen.7 Der in Chur erscheinende Liberale Alpenbote kritisierte deshalb 1852, das Gemeindewesen im Kanton Graubünden finde sich «bekanntlich total seinem Schicksal überlassen. Ob und welche Gemeindeordnungen bestehen, ob Gemeinderäthe oder bloss sog. Vorstände bestehen, ob und wie Rechnung abgelegt werde, ob das Gemeindevermögen gut oder schlecht verwaltet werde: um das Alles kümmert sich der Staat so zu sagen gar nichts [sic!]».8

In diesem Spannungsfeld tauchte nun im Juli 1851 die strittige Frage um eine kantonale Neuordnung der Niederlassung in den Gemeinden auf. Zweifellos war dies ein Bereich, bei dem der Kanton die Möglichkeit hatte, tief in die korporative Rechtsstruktur der Gemeinden einzugreifen, ihnen also einen beträchtlichen Teil ihrer Selbstbestimmung zu nehmen. Auf Bundes- und Kantonsebene waren bereits alle Schweizer Niedergelassenen den Gemeindebürgern gleichgestellt, wobei es eine Gruppe niedergelassener Churer gewesen war, die beim Bundesrat hatte rekurrieren müssen, um den entsprechenden Artikel 42 der neuen Bundesverfassung in Graubünden durchzusetzen. Ein Anfang 1849 in Kraft getretenes kantonales Gesetz hatte nämlich den niedergelassenen Kantonsbürgern zwar das aktive, nicht aber das passive Wahlrecht gegeben.9

In der Diskussion im Grossen Rat vom Juni 1852 gab das Thema wie schon in der Standeskommission «zu weitläufigen Erörterungen Veranlassung».10 In Hinblick auf die Nutzungsrechte der Niedergelassenen am Nutzungsvermögen mahnte ein Abgeordneter, nicht hinter die kantonale Norm von 1807 zurückzugehen, wonach die damaligen Gerichtsgemeinden angehalten worden waren, allen Kantonsbürgern das Nutzungsrecht gegen eine angemessene Taxe zu gewähren. Andernfalls überlasse man es «der Willkür der Gemeinden», die Niedergelassenen von allen Nutzungen auszuschliessen oder «die exorbitantesten Bedingungen daran zu knüpfen».11 Das Plädoyer für einen Kanton, der für alle dieselben wirtschaftlichen Rahmenbedingungen schaffen sollte, verband sich mit dem Argument, dass durch den Ausschluss der Niedergelassenen das «für unseren Kanton und dessen zeitgemässe Fortentwicklung so bedeutsame Prinzip der freien Niederlassung in vielen Fällen illusorisch gemacht, und der Kanton der daraus herfliessenden Vortheile zum grossen Theil beraubt» werde.12

Von konservativer Seite wurde diesem individualistischen Prinzip die Korporation der Gemeindebürger als historisch gewachsener Wert entgegenstellt, indem «auf den Sinn und Werth des Bürgerthums, wie er sich seit jeher festgestellt und bis zur neuesten Zeit anerkannt worden ist», aufmerksam gemacht wurde.13 Dadurch, dass die Gemeindebürger alleine die Eigentums- und Verwaltungsrechte besitzen, seien sie in

ihren nächsten Interessen auf’s innigste an ihre Heimath geknüpft […] wodurch allein der Bestand von Gemeinden als Grundpfeiler des ganzen Staatsorganismus, wie sie es bei uns sind und hoffentlich bleiben werden, ermöglicht wird. […] Ebenso sei ein lebendiges natürliches Interesse für eine tüchtige Gemeindsverwaltung nur bei der Bürgerkorporation selbst, nicht aber bei den zufällig und vorübergehend Niedergelassenen gedenkbar, vielmehr werde sich bei letztern diesfalls ein natürlicher Indifferentismus zeigen.14

Dies war zwar noch keine Diskussion um selbstlosen «Bürgersinn» oder egoistischen «Eigensinn», doch findet sich bereits eine Reihe von Argumenten, die von den Verfechtern der Rechte der Gemeindebürger in weit elaborierterer Weise noch bis in die 1970er-Jahre in verschiedenen Phasen und unterschiedlicher Gewichtung vorgebracht werden sollten: So liest man schon, dass nur die Gemeindebürger für den politischen und wirtschaftlichen Erhalt der ganzen Gemeinde geeignet seien. Dieser Befund wird historisch legitimiert und ist aus dieser Sicht umso dringender, weil gleichzeitig den Gemeinden die wichtigste Funktion im Schweizer Staatsaufbau zugeschrieben wird. Diese «alten Rechte» der Gemeindebürger sollten in den 1890er-Jahren eine erste Konjunktur erleben, während die besonderen Eigenschaften der Gemeindebürger als staatserhaltender Kern der Gemeinschaft vor allem ab der Zwischenkriegszeit ins Feld geführt werden sollten. Dass nur sie zu einem «tüchtigen» Umgang mit den Bodenreserven fähig seien, konnte man noch Anfang der 1970er-Jahre lesen.

Das am 1. März 1853 in Kraft getretene Niederlassungsgesetz folgte einer engen Interpretation der Bundesverfassung von 1848, obwohl von liberaler Seite im Grossen Rat darauf hingewiesen worden war, «dass die Bundesverfassung nur das Minimum der Rechte der Niedergelassenen festsetze».15 Zwar bestätigte es den Niedergelassenen volle politische Rechte auf kantonaler und eidgenössischer Ebene, verbot ihnen aber nicht nur wie schon die Kantonsverfassung von 181416 jedes Stimm- und Wahlrecht in Gemeindeangelegenheiten, sondern in Anschluss an Artikel 41 der Bundesverfassung auch jede Mitnutzung des kommunalen Nutzungsvermögens, also der Allmenden, Wälder und Alpen.17 Einzig im Kirchen- und Schulwesen waren den Niedergelassenen bestimmte Rechte zugesichert.18

Die Tatsache, dass im kantonalen Durchschnitt rund 25 Prozent19 der Schweizer oder Bündner offiziell von den ökonomischen und politischen Einrichtungen der Gemeinden ausgeschlossen waren, wurde offensichtlich nicht als Problemdruck empfunden. Dabei gab es zahlreiche Gemeinden, die wie die Stadt Chur (73 Prozent Nichtgemeindebürger im Jahr 1860)20 einen noch viel grösseren Anteil an Niedergelassenen aufwiesen. Die Gemeinde Igis mit dem wirtschaftlich aufstrebenden Landquart21 beispielsweise hatte zwei Jahre nach Eröffnung der Bahnlinie Rorschach-Chur bereits 43 Prozent Niedergelassene,22 Roveredo und Leggia im Misox als Durchgangsorte des noch florierenden Transitverkehrs23 46 und 45 Prozent.24

Trotzdem konnte sich das neue Niederlassungsgesetz in den ersten Jahren nach 1853 auf kantonaler Ebene als stabiles, allgemeingültiges Prinzip halten. Auffällig ist, dass in der Presse bis 1860 die Niedergelassenen nicht als Gegenstand fassbar werden: In der katholisch-konservativen Nova Gasetta Romonscha wurde zur Jahreswende 1859/60 über eine Reform des Gemeindegütergenusses diskutiert. Von einer Kategorie von Niedergelassenen wussten diese Artikel nichts zu berichten, lediglich das Verhältnis zwischen armen und reichen Gemeindebürgern stand zur Debatte.25 Könnte man das noch damit erklären, dass der Anteil Niedergelassener in der oberen Surselva 1870 bei 8,2 Prozent lag,26 greift diese Erklärung für die Kantonshauptstadt nicht. Eine Artikelserie im Churer Liberalen Alpenboten27 forderte mehr «Regulierung und Begrenzung der Gemeindefreiheit»,28 doch über das Verhältnis von Gemeindebürgern und Niedergelassenen schwieg sie sich aus. Im Engadin, wo sich die Bevölkerung durchschnittlich noch aus 53 Prozent Gemeindebürgern zusammensetzte,29 referierte das Blatt L’Utschella 1868 in acht Artikeln über Gemeindeverfassungen und ihre Auswirkungen auf die Landwirtschaft, ohne dass von jenen die Rede war, die davon ausgeschlossen waren.30

 

Ein Grund für diese Nichtthematisierung dürfte sein, dass in der praktischen Umsetzung des Niederlassungsgesetzes die Gemeindeautonomie tatsächlich zu einer liberaleren Praxis führte, als es das kantonale Gesetz vorgab. Schon Mitte der 1850er-Jahre waren in mehreren Gemeinden des Oberengadins aus Mangel an Gemeindebürgern niedergelassene Schweizerbürger zur Ämterbesetzung zugelassen.31 Die Zahlen der eidgenössischen Volkszählung lassen dies plausibel erscheinen: Während die Gemeindebürgerquote im Unterengadin mit 77 Prozent zu dieser Zeit noch hoch war, betrug die Quote im Oberengadin gemäss eidgenössischer Volkszählung von 1860 nur noch 28 Prozent.32 Ausserdem gab es Gemeinden wie Arosa oder Ramosch, die ihren Niedergelassenen das Stimmrecht in Angelegenheiten gewährten, die nicht als rein ortsbürgerliche Kompetenzen angesehen wurden.33 Gemäss einem Bericht des Kleinen Rates von 1868 hatten Niedergelassene in verschiedenen Gemeinden des Kantons Anrecht auf Brennholz. Vier Oberengadiner, aber auch die drei Unterengadiner Gemeinden Guarda, Ramosch und Tschlin gewährten ihren Niedergelassenen sogar Nutzungsrechte an den Gemeindealpen.34

Als Gegenstand von Rekursen wird das 1853 neu etablierte Verhältnis von Niedergelassenen und Gemeindebürgern bis 1860 ebensowenig erkennbar.35 Wenn überhaupt, wurde die Gemeindeautonomie in dieser Frage nur am Rande des politischen Diskurses kritisch beleuchtet, obwohl sich die kantonalen Organe in diesen Jahren durchaus mit der Frage beschäftigten, wie die Gemeinden ausgestaltet werden sollten. Das Gebietseinteilungsgesetz von 1851 und die neue Kantonsverfassung wiesen ja in der Frage der Gemeindeorganisation Lücken auf, und um diese zu schliessen, liess der Kleine Rat für 1854 ein Gemeindegesetz vorbereiten. Diese Aufgabe übernahm der Mitbegründer des liberalen Reformvereins von 1842, Peter Conradin von Planta. In seinem Commissionalbericht über den Vorschlag zu einer Gemeinde-Ordnung, welcher der Vorbereitung dieses 1854 an der Urne gescheiterten Gemeindegesetzes diente, taucht die Frage des problematischen Rechtsverhältnisses zwischen Niedergelassenen und Gemeindebürgern nur am Horizont als Ausblick auf.36

Insgesamt zeigt diese kurze Übersicht, dass einzelne Gemeinden durch eine liberale Handhabung des Gesetzes den Problemdruck punktuell minderten. Davon abgesehen lässt sich die Akzeptanz oder Aneignung des Niederlassungsgesetzes von 1853 aber nicht mit messbaren Gemeindebürgerquoten erklären. Genauso wenig, wie relativ niedrige Bürgerquoten wie zum Beispiel in Chur bis um 1860 Widerstand gegen das Niederlassungsgesetz hervorriefen, wurde die konservative Gesetzesnorm nur dort gelockert, wo beispielsweise zu wenig Gemeindebürger für die Besetzung der Gemeindeämter vorhanden waren.

Während dieses Niederlassungsgesetz den Status quo nicht veränderte, gab es durchaus Gemeinden, die eine liberale Praxis walten liessen. In der Kantonshauptstadt hingegen wurde der Ausschluss der Niedergelassenen erst im Zuge der in weiten Teilen der Schweiz in den 1860er-Jahren entstehenden sogenannten Demokratischen Bewegung in einer breiteren Öffentlichkeit diskutiert. Auf der lokalen, nebenstaatlichen Bühne Churs, wo neben dem Churer «Bürger-Verein» einzelne Vorkämpfer und andere Vereine oder lose Gruppen auftraten, erhielt das bereits 1853 formulierte Argumentarium für oder gegen die Kontinuität der altrepublikanischen Partizipationsprinzipien auf beiden Seiten ganz explizit die Qualität bürgerlicher Werte. Der Anspruch, über bürgerliche Qualitäten zu verfügen, bildete in dieser Phase vielfach den Brennstoff der Diskussion. Die sich teilweise widerstrebenden Eigenschaften des «bürgerlichen Wertehimmels» – darunter die freie Meinungsbildung des Einzelnen oder das uneigennützige Engagement für das Gemeinwohl bei gleichzeitiger Sicherung des Eigennutzens – reklamierten die Akteure beider Seiten für sich und sprachen sie in teils polemischen Angriffen der Gegenseite ab.

3.2 Churer Spiessbürger in Bedrängnis

Die Stadt Chur gehört zweifellos zu den ersten Orten im modernen Kanton Graubünden, an denen das Rechtsverhältnis zwischen Nachbarn und Hintersassen zu Konflikten führte. Chur zählte schon zu Beginn des 19. Jahrhunderts fast zwei Drittel Niedergelassene unter der Bevölkerung.37 Als Konsumenten, Wächter, Tagelöhner und schliesslich – bis zur Gewerbefreiheit von 1804 jedoch nur mit Bewilligung – als Handwerker waren sie seit Langem für die Stadt eminent wichtig. Bereits 70 Jahre vor dem Versuch des Kantons, das altrepublikanisch organisierte Rechtsverhältnis in den Gemeinden zu brechen, lassen sich 1804 erste Umrisse eines Aufbegehrens in der Beschwerde von Toggenburger und Saaser Schreinern und von einigen niedergelassenen Metzgern fassen. Der Stadtrat hatte Werkzeuge konfiszieren lassen, während den Metzgern von einigen Churer Gemeindebürgern der Laden aufgebrochen wurde. Die Geschädigten forderten beim kantonalen Grossen Rat die Respektierung der neuen Gewerbefreiheit seitens der Gemeindebürger und erhielten Recht.38 Als 1839 mit der Churer Zunftverfassung die letzte ihrer Art in der Schweiz abgeschafft worden war, blieben nur die Gemeindebürger in kommunalen wie kantonalen Angelegenheiten stimmberechtigt.39 Auch wenn diese Reform den Ausschluss der Niedergelassenen aus allen politischen Angelegenheiten Churs gar nicht infrage gestellt hatte, war die korporative Struktur der Stadt nach Abschaffung der Zunftverfassung in ihren Grundfesten erschüttert.

Im Folgenden möchte ich zeigen, dass eine intensive öffentliche Auseinandersetzung um das rechtliche Verhältnis zwischen Gemeindebürgern und Niedergelassenen in Gemeindeangelegenheiten erst in den 1860er-Jahren einsetzte. Die neue Entwicklung korrelierte mit der Demokratischen Bewegung, wie sie in zahlreichen Schweizer Kantonen zu dieser Zeit verstärkt fassbar wird. Erstmals tauchte der Begriff der Demokratischen Bewegung 1854 im Kanton Zürich auf, in den 1860er-Jahren erfasste diese Strömung unter anderem die Kantone Genf, Waadt, Basel-Land, Bern, Luzern, Aargau, Schaffhausen oder Thurgau. Der Forderungskatalog der Demokratischen Bewegung war gross und enthielt neben ökonomischen und sozialen Postulaten im engeren Sinn politische Forderungen wie direktdemokratische Verfassungsrevisionen und die Erweiterung des Stimm- und Wahlrechts.40 Nach und nach konnte die Demokratische Bewegung in den 1860er- und 1870er-Jahren «mit dem Ausbau der Volksrechte und schliesslich mit der Verfassungsrevision von 1874 das politische System in verschiedenen Kantonen und im Bund»41 noch weiter öffnen.

Graubünden gilt in der Schweizer Geschichtsforschung gemeinhin nicht als Kanton, der von der Demokratischen Bewegung erfasst wurde.42 Dass dem doch so ist, zeigt nicht nur die Tatsache, dass vor allem die katholische Surselva ab Mitte der 1860er-Jahre versucht hat, sich direktdemokratische Partizipationsmittel für ihre antimoderne Politik zunutze zu machen, wie Ivo Berther gezeigt hat.43 Daneben gab es eine Reihe mehr oder minder liberaler Versuche, die rechtliche Stellung der Niedergelassenen zu verbessern. Die Impulse dazu kamen aus Chur und betrafen meist die Kantonshauptstadt, wobei der Problemdruck wiederum kaum mit der Entwicklung des Anteils Niedergelassener in Verbindung gebracht werden kann. Deren Quote war im Vergleich mit 1806 nur unwesentlich von 65 auf 73 Prozent gestiegen.44

1860 reichte der in Chur niedergelassene Anwalt Julius [Geli] Caduff aus Schluein (Surselva) mit 44 namentlich benannten «Angehörigen» und 31 weiteren Unterzeichnern eine Petition an den Bundesrat ein. Darin wurde das Begehren gestellt, das eidgenössische Heimatlosengesetz von 1850 so abzuändern, dass die Angehörigen einer Gemeinde in der Nutzung des Gemeindevermögens den Gemeindebürgern gleichgestellt seien, sowohl in Bezug auf das Nutzungsvermögen als auch auf die Bürgerlöser.45 Angehörige waren aufgrund des Heimatlosengesetzes aufgenommene Heimatlose,46 die gegenüber Niedergelassenen einige Rechtsprivilegien, aber ebenso wenig kommunale Stimmrechte noch Anspruch auf das Gemeindevermögen hatten.47 Die Träger dieser Petition entsprachen dem Muster der Demokratischen Bewegung in anderen Kantonen: Während die programmatische und organisatorische Führung bei den Bildungsbürgern lag, bestand die Bewegung aus Kleinbürgern, Bauern und Arbeitern. Im Churer Fall finden sich die Berufsbezeichnungen Schuster, Holzhacker, Zimmermann, Buchdrucker oder Hafner.48

Vier Jahre nachdem dieser Petition nicht entspro – chen worden war, liess Julius Caduff in der Churer Schnellpresse von Senti & Hummel das 68-seitige Büchlein Die Einwohner-Gemeinde drucken, in dem er für die politische Notwendigkeit der Bildung von Politischen Gemeinden argumentierte.49 Im folgenden Jahr reichten 18 Niedergelassene der Stadt Chur ein erfolgloses Bittgesuch an die Schweizerische Bundesversammlung, in dem sie forderten, dass das Stimmrecht in Gemeindeangelegenheiten zum Bundesgesetz gemacht werde.50 Nur ein weiteres Jahr später sah sich der Stadtrat selbst zum Handeln veranlasst. Erneut tauchte Peter Conradin von Planta als Akteur im Umfeld dieser Fragen auf. Inzwischen war von Planta Churer Stadtrat, und ihm fiel die Aufgabe zu, eine neue Stadtverfassung zu entwerfen.51 Gemäss seinem Vorschlag sollten die Niedergelassenen eine Minderheit im Kleinen und Grossen Stadtrat stellen dürfen, sodass diese wachsende Gruppe in der verschuldeten Stadt mit verhältnismässig hohen Steuern52 ein gewisses Mitspracherecht erhalten hätte.53 Die Vorlage scheiterte genau wie eine weitere im Jahre 1867, und das Projekt einer Einwohnergemeinde im Februar 1868.54

Da es nicht gelang, einer neuen Norm via Verfassung zur Stabilität zu verhelfen, versuchte die Stadtverwaltung nun, mittels Einbezug von Vorschlägen der Gemeindebürger, einen Konsens zu erreichen. Auf den Aufruf des Stadtrats vom 2. Mai 1868 im städtischen Amtsblatt reichten der Anfang 1868 neu gegründete Bürgerverein, der Kleine Bürgerverein, der Reformverein,55 der Arzt Thomas Gamser und Stadtpfarrer Christian Kind ihre Vorschläge ein. Während dem späteren Churer Bürgermeister Gamser, dem Reformverein und dem Kleinen Bürgerverein eine Politische Gemeinde mit überwiegender Vertretung durch die Gemeindebürger und Ausscheidung des Nutzungsvermögens vorschwebte, sprach sich der Bürgerverein gegen eine Politische Gemeinde und lediglich für die Herabsetzung der Einbürgerungstaxen aus.56 Auf Grund der Vorschläge unterbreitete der Stadtrat knapp zwei Jahre später eine Vorlage für den erleichterten Bürgereinkauf zur Abstimmung. Der Erfolg dieses angenommenen Gesetzes war bescheiden, der längerfristige Zuwachs der Bürgerquote betrug nur 3,5 Prozent.57 Gleichzeitig nahm sich der in Chur erscheinende Bündner Kalender der Frage an und forderte, den Niedergelassenen sei gleich den Gemeindebürgern gegen Entgelt die Nutzung des Gemeindevermögens zu ermöglichen.58

Einige der eben summarisch beschriebenen Versuche, die rechtliche Stellung der Niedergelassenen in den Gemeinden zu verbessern, fallen nun besonders ins Auge. Wesentlich scheinen mir vor allem Julius Caduffs gedruckte Abhandlung von 1864, das Bittgesuch an die Schweizer Bundesversammlung von 1865, einige Zeitungsartikel von 1866 und 1868 und die gedruckte Broschüre mit den Vorschlägen der beiden Bürgervereine, des Reformvereins und von Stadtpfarrer Kind und dem Arzt Thomas Gamser.59 Mehr noch als in der Grossratsdebatte um das Niederlassungsgesetz von 1853 wird in diesem Spannungsfeld deutlich, dass die Frage der Exklusion oder Inklusion der Nichtpartizipationsberechtigten zur Frage um bürgerliche Werte schlechthin wurde. Gewisse bürgerliche Werte wurden zugunsten der Niedergelassenen oder der Gemeindebürger in Stellung gebracht, um die Stadt Chur hin zu einer liberal-universalistischen, bürgerlichen Gesellschaft zu öffnen oder den Status quo einer altrepublikanisch geprägten bürgerlichen Gesellschaft zu rechtfertigen – die man treffender vielleicht als Bürgergesellschaft bezeichnen müsste.60 Die Konstruktion dessen, was zum «bürgerlichen Wertehimmel» gehörte, war damit ein wesentliches Produkt des Diskurses, mit dem für oder gegen die Gleichstellung der Niedergelassenen gerungen wurde. Bürgerliche Werte konnten den Gemeindebürgern dabei durchaus streitig gemacht werden.

 

Im Folgenden möchte ich das an einem Zeitungsstreit vertiefen, ohne den Seitenblick auf die anderen Quellen zu verlieren. Der Konflikt entbrannte zwischen Peter Jakob Bauer und dem neu gegründeten Bürgerverein, nachdem das erwähnte Projekt einer Einwohnergemeinde im Februar 1868 von den Churer Gemeindebürgern verworfen worden war. Der Churer Ratssuppleant Peter Jakob Bauer61 sandte im März in sechs Folgen Betrachtungen und Ansichten über die Churer Gemeindwirren an die Bündnerische Volks-Zeitung ein. Er kritisierte, «einzelne Schichten bürgerlicher Bevölkerung» würden sich «in städtischer Politik sehr mangelhaft oder gar nicht orientiren». Im Vorfeld der Abstimmung vom Februar 1868 habe im Bürgerverein eine «gründliche Agitation» seitens der Gegner einer künftigen politischen Gemeinde stattgefunden, sodass «von Bildung einer selbständigen objektiven Ansicht nicht die Rede sein» könne.62 Eine liberal-universalistische bürgerliche Gesellschaft scheiterte in Chur gemäss Bauer einerseits am Bürgerverein, der als politisches Forum nicht demokratisch, sondern immer noch vormodern-oligarchisch funktionierte. Gravierend war für Bauer andererseits die Tatsache, dass die Churer Bürgerschaft aus zu vielen pedantischen Spiessbürgern bestand, die sich nur dann für städtische Politik interessierten, wenn es sich «um Loosholz, Gemeingüter oder Alpen»63 handelte.

Gemäss Peter Jakob Bauer blockierten diese Defizite die Überwindung altrepublikanischer Partizipationsstrukturen. Ein weiterer Missstand war für ihn, dass verfassungsmässig korrekt in Chur oft nur 100 bis 120 Gemeindebürger für das absolute Mehr bei Abstimmungen und noch weniger bei Wahlen genügten, um «über 7000 Seelen regieren» zu können. Dies stelle «widersinnige, nicht sonderlich republikanische Zustände» dar.64 Er forderte ein aufgeklärt-republikanisches Denken, wie es Napoleon im Nachgang der Französischen Revolution in die Helvetische Republik exportiert hatte: Dieses ruhte nicht auf abgeschlossenen kommunalen Korporationen, sondern auf einer viel universalistischeren bürgerlichen Gesellschaft. Gemäss Bauer wäre ein liberales Republikanismuskonzept ein Entwurf «im Sinne des Friedens und der billigen Berücksichtigung gerechter Wünsche der Niedergelassenen»65 gewesen.

Bauers publizistischer Angriff rief einen (wie es kurze Zeit später in der gleichen Zeitung hiess) «berühmt gewordenen Artikel» des Bürgervereins hervor, hinter dem sich M.[atheus] Risch, [Ratsherr Heinrich] Honegger, [Ratsherr Luzius] Simmen und A.[nton] Lendi verbargen.66 In ihrer Replik in der Bündnerischen Volks-Zeitung nahmen sie zunächst eine «persönliche […] Abfertigung»67 Bauers vor, bei der sie deutlich machten, dass er mit seinem Angriff die Grenzen des Sagbaren überschritten hatte. Es sei «einfach nicht wahr», dass man «nur prädisponierte und unsichere Leute» eingeladen habe, und «sodann hinter verschlossenen Thüren mit allen Mitteln einer schlauen Beredtsamkeit auf dieselben eingewirkt» habe,68 wie Bauer behaupte. Damit verteidigten sie die Fähigkeit der Churer zur selbstständigen Meinungsbildung, war doch nicht nur, so betont die Bürgertumsforschung, der «offene Zugang für alle» ein grundlegender bürgerlicher Wert, sondern auch «der kritische und freie Dialog untereinander».69

Risch, Honegger, Simmen und Lendi bekräftigten auch, dass sie nicht am «Bürgerprinzip» festhielten, weil die Gemeindebürger ⅗ der Churer Steuern zahlten.70 Sie wehrten sich dagegen, die angegriffene Versammlung des Bürgervereins pauschal als «‹Zopf- und Philistertum›» bezeichnen zu lassen.71 Diese Begriffe tauchten inklusive dem des «Spiessbürgers» in Graubünden im Kontext des rechtlichen Verhältnisses von Gemeindebürgern und Niedergelassenen immer wieder zur Bezeichnung nur auf ihren «Eigensinn» fixierter Gemeindebürger auf.72 Spiessbürger waren, um mit dem Konservativen (!) Wilhelm Heinrich Riehl zu sprechen, «soziale Philister». Als solche hielten sie ängstlich am Überkommenen und am eigenen Reichtum fest, statt zu versuchen, im Sinne der «Bürger von guter Art» (Riehl) Neues zu schaffen.73 «‹Zöpfe, engherzige Philister, Krautbürger›» waren auch für die Mitglieder des Churer Bürgervereins abwertende Bezeichnungen für ängstliche, nur auf die Sicherung ihres eigenen finanziellen Vorteils bedachte Gemeindebürger, denen jeglicher «Bürgersinn» abging.74 Das zeitgenössische Pendant zum «Bürgersinn», das auch in der Bündnerischen Volks-Zeitung auftauchte, war der «Eigensinn», das eigennützige, am egoistischen Eigeninteresse orientierte Handeln.75 Ein zu hohes Mass an «Eigensinn», so stellt auch Manfred Hettling in seiner Analyse kultureller Normen des bürgerlichen Basels am Ende des 18. Jahrhunderts fest, «disqualifiziert den einzelnen geradezu, verhindert sein ‹Bürger-Sein›».76 Deshalb argumentierten die Mitglieder des Bürgervereins, ihnen gehe es vielmehr um «ideelle Motive». Diese liessen sich nicht «nach dem Franken und Rappen berechnen».77 Nur der Verband der Gemeindebürger sei nämlich «eine Quelle der Heimatliebe, der Hingebung und selbstbewussten Bürgersinns», was der blosse Wohnsitz nicht zu leisten vermöge, wie der Bürgerverein rund zwei Monate später in seinem Reformvorschlag an den Stadtrat präzisierte.78

Dass diese Bürgergesellschaft nicht auf egoistischen «Eigensinn» reduziert werden konnte, sollte mit dem Vorschlag des Bürgervereins für eine «liberale […] Eröffnung» des Bürgerrechts untermauert werden. So trete «die republikanische Tugend der Billigkeit ins Mittel, gibt nach, wo sie eigentlich nicht nachzugeben braucht, opfert von dem, was ihr von Rechtswegen gehört79 und führt dadurch das schwankende Schifflein des Gemeinwesens wieder in sichern Port».80 Dass sie auch an die eigenen Interessen dachten, gaben Risch, Honegger, Simmen und Lendi natürlich zu. Einen massvollen Eigennutz machten sie genauso als bürgerlichen Wert stark, wobei ein gewisser, massvoller «Eigensinn», das heisst, so Manfred Hettling, «das Recht auf Eigentum und damit auch dessen Mehrung», als Gegensatz zum «Bürgersinn» durchaus Teil des «bürgerlichen Wertehimmels» war. Letztlich war es die «erstrebte Kombination dieser Eigenschaften», die das bürgerliche Ideal ausmachte.81 Deshalb könne es, so meinten die Vertreter des Bürgervereins, «nicht so weit gehen, dass man, um einem Anderen gerecht zu werden, sich selbst aufgibt; selbst der Schutzpatron Chur’s, der hl. Martin, der doch ein Heiliger war, hat nur die eine Hälfte seines Mantels weggegeben.»82 Das altrepublikanische Paradigma der korporativen Selbstverwaltung der Gemeinde wurde damit in den bürgerlichen «Wertehimmel» integriert, der mitnichten rückständig oder spiessig war, sondern den eigenen Besitz aus idealistischen Motiven sicherte.

Neben den vorgebrachten bürgerlichen Werten schien am Rande das Geschichtsbild der altrepublikanisch organisierten Korporation – im Falle Churs zielte das auf die Zünfte – als Garantin fundamentaler Werte auf. Der bürgerliche Sinn für das Gemeinwohl fusste danach auf einer Mischung von ahistorischen bürgerlichen Werten und historischer Leistung. Es brauche nämlich einen «feste[n] Kern», dem «Natur, Verfassung und Geschichte» die Lenkung der Gemeinde zusprechen würden.83 Dies war der «Kern von Menschen, der durch die Bande der Pietät und des dauernden Interesses» an das Gemeinwesen gebunden war.84 Solche antimodernen Positionen waren durchaus typisch für das Bürgertum, denn «seit der Romantik waren immer auch Bürger die schärfsten Kritiker der eigenen Ausgestaltung von Bürgerlichkeit».85 Das staatsrechtliche Projekt einer liberal-universalistischen bürgerlichen Gesellschaft zerstöre die bewährten Traditionen,86 lautete die Kritik der konservativen Bürgerlichen am Projekt der liberalen Bürgerlichen. Bereits im 18. Jahrhundert setzte die Romantik den Organismus dem mechanischen, rationalen Denken der Aufklärung gegenüber: «Natur, Staat und Gesellschaft bilden danach einen gewachsenen Körper, der sich nicht ungestraft in seine Bestandteile zerlegen lässt.»87 Diese Art der Verhaftung mit der Vormoderne, die darin nicht nur Gemeinsamkeit stiftende, abstrakte Tugenden und Helden sah, sondern konkrete, erhaltenswerte politische Institutionen, war in ihrem konservativen Gestus etwas dezidiert anderes als die Erinnerungsfeiern und der Historismus der freisinnigen Schweiz.88 Diese Kritik an der liberalen Moderne sollte in Graubünden, getragen von einer liberalen Rechten, aufseiten der Gemeindebürger in späteren Jahrzehnten noch um einiges elaborierter ausfallen – und sich gleichzeitig von der Formulierung bürgerlicher Werte entfernen.