Gemeindebürger, Niedergelassene und Ausländer

Tekst
0
Recenzje
Przeczytaj fragment
Oznacz jako przeczytane
Czcionka:Mniejsze АаWiększe Aa

1.2 Aufbau der Untersuchung

Kapitel 2 stellt die Herausbildung des Freistaats der Drei Bünde seit dem Spätmittelalter dar. Im Zentrum stehen aber nicht so sehr die Gerichtsgemeinden, sondern der nachbarschaftliche Kommunalismus, da er die eigentliche Grundlage für die lokale Gemeindeautonomie und den Ausschluss der Hintersassen lieferte. Anschliessend gilt es die ersten Spannungen zu umreissen, die sich ergeben haben, als diese altrepublikanischen Demokratievorstellungen im Zuge der Aufklärung und der Französischen Revolution auf moderne Staatsvorstellungen trafen.

Die Kapitel 3 bis 6 erzählen in chronologischer Form die Geschichte des Streits um Eigentumsrechte und Kompetenzen zwischen Gemeindebürgern und Niedergelassenen, wobei Kapitel 6 mit den Bürgervereinen Chur und Igis bereits eine Scharnierfunktion zu den Aktivitäten der Gemeindebürger jenseits dieser Konfliktgeschichte erfüllt. Kapitel 3 zeigt, wie die politische und wirtschaftliche Gleichstellung aller mündiger Schweizer Männer zunächst in der Stadt Chur ein zentrales Problem innerhalb dieses Feldes von allein partizipationsberechtigten Gemeindebürgern auf der einen und demokratischen Erneuerern auf der anderen Seite wurde. Das kantonale Niederlassungsgesetz 1874 brachte den entscheidenden Bruch und eine bis auf wenige Ausnahmen vollständige politische und ökonomisch-rechtliche Gleichstellung aller männlichen Schweizer Gemeindebewohner. Dennoch führten die wenigen den Gemeindebürgern verbliebenen Privilegien vielerorts zum bis heute bestehenden Gemeindedualismus von politischer Gemeinde und Bürgergemeinde. Alsbald kam es zu den ersten Rechtsprozessen zwischen diesen beiden Körperschaften, die unmittelbar damit zusammenhingen, dass die Rechtsstellung der Bürgergemeinde und ihr Verhältnis zur neuen politischen Gemeinde durch das Niederlassungsgesetz und die späteren Kantonsverfassungen ambivalent blieben.67

Kapitel 4 setzt in den 1890er-Jahren an. Der Maienfelder Theophil Sprecher von Bernegg versuchte damals als Kopf eines Initiativkomitees, angesichts der vielerorts unbefriedigenden Rechtslage, die vormodernen Rechtsprivilegien der Gemeindebürger gesetzlich auszubauen und damit die relative Gleichstellung der Niedergelassenen wieder zu schwächen. Die Ende 1899 zur Abstimmung gelangte Vorlage scheiterte, konnte aber in unterschiedlichen Regionen des Kantons eine Mehrheit der Stimmen auf sich vereinigen. Anhand dieses Befundes lässt sich das erste Mal die Wirkmächtigkeit des Fahnenworts der Gemeindeautonomie in so unterschiedlichen Sozialmilieus wie der bürgerlichen und der katholischen politischen Kultur aufzeigen.

Kapitel 5 beginnt mit einem Exkurs in die Zeit zwischen dem Scheitern der zweiten «Bürgerinitiative» (1899) und der Zwischenkriegszeit. Dieser fragt anhand des Beispiels eines Churer Weinhändlers, mit welchen Argumenten ein ausserhalb der Gemeinde wohnender Gemeindebürger seine vormodernen Privilegien geltend machen konnte. Daraufhin soll der Fokus hin zu den juristischen Abhandlungen geöffnet werden, die sich ab ungefähr 1900 als neue Form der Wissensproduktion in die Abgrenzungskonflikte zwischen Gemeindebürgern und Nichtgemeindebürgern einschalteten. Diese neue Wissensform zirkulierte zwischen Fachwissenschaft, Populärwissenschaft und den Rechtsprozessen, wie vor allem die Rekurse der 1930er- und 1940er-Jahre in St. Moritz und Thusis zeigen. Da es trotz grösstem Aufwand nicht gelang, eine verbindliche Rechtsnorm zu stabilisieren, bot der aufreibende Rechtsstreit dem St. Moritzer Gemeindepräsident gar nicht die Möglichkeit, die Rechte der Bürgergemeinde lokal weiter zu beschneiden.

Kapitel 6 bricht mit der chronologischen Erzählweise und rollt angesichts dieser neuen Dimensionen, die der Abgrenzungskonflikt zwischen Gemeindebürgern und Niedergelassenen angenommen hatte, den St. Moritzer Fall noch einmal neu auf. Diese Phase der Geschichte der Bündner Gemeinden kann im Hinblick auf ähnlich gelagerte, kulturprotektionistische Diskurse dieser Zeit erklärt werden, wobei das Kollektivsymbol der «Bodenständigkeit» als kleinster gemeinsamer Nenner fungiert. Anschliessend führt das Kapitel zum vorläufigen Höhepunkt des Streits um Eigentumsrechte und Kompetenzen im Frühjahr 1945, als mithilfe eines übergemeindlichen Komitees ein kantonales Gemeindegesetz verworfen wurde, das unter anderem die Rechte der Bürgergemeinden eingeschränkt hätte. Ähnlich wie 1899 lehnten die katholisch-rätoromanische Surselva und das katholisch-rätoro – manische Mittelbünden das Gesetz ab, obwohl Bürgergemeinden in diesen Regionen praktisch keine Rolle spielten. Als Epilog dieser Geschichte soll erzählt werden, wie 1966 und 1974 zwei weitere Anläufe nötig waren, bis ein Bündner Gemeindegesetz endlich angenommen wurde. Zu diesem heimatschützerischen Impetus der Bürgergemeindeverfechter gehörten schliesslich auch die Bürgervereine von Chur und Igis, deren Aktivität schwerpunktmässig in den 1950er-Jahren beleuchtet wird. Zu fragen ist, in welchen Bereichen sich diese den Gemeindebürgern vorbehaltenen Vereine engagiert haben, mit welchen Bildern und Vorstellungen sie operiert haben und wer die dabei massgebenden Akteure waren.

Kapitel 7 eröffnet den zweiten Zugang zum Thema. Vom schmalen Spektrum der Kompetenzen, das den Gemeindebürgern nach 1874 geblieben ist, rückt zuerst die Einbürgerungspolitik in den Fokus. Das Kapitel unterscheidet eine Phase vor und eine Phase nach dem Wendepunkt des Ersten Weltkriegs, der «die wichtigste Zäsur in der Geschichte des dreistufigen Schweizer Bürgerrechts»68 darstellt. Im Anschluss an die neuere Schweizer Bürgerrechtsforschung gilt es, «die ganz unterschiedlichen historischen Bedingungen dafür zu rekonstruieren»,69 welche die verschiedenen Ausschluss- und Integrationsdynamiken gegenüber Schweizern und Ausländern in beiden Phasen in Gang gesetzt haben. Dabei wird auch zu diskutieren sein, ab wann und mit welchen Argumenten die Gemeindebürger ihre Einbürgerungspolitik für die Sicherung ihres Rechtsprivilegs gegenüber der politischen Gemeinde ins Feld geführt haben. Kapitel 8 verschiebt den Fokus von der Bürgerrechts- zur Boden- und Wasserrechtspolitik. Mit dem Boden kommt jener Gegenstand wieder zur Sprache, um dessen Eigentum und Verfügungsbefugnis einzelne Bürgergemeinden jahrelang mit der politischen Gemeinde gestritten haben. Im Gegensatz zur Analyse der Bürgerrechtspolitik beschränke ich mich im Wesentlichen auf einige wenige Beispielgemeinden, die mit der Industrialisierung oder mit geplanten Kraftwerkbauten vor neue Herausforderungen gestellt wurden: Igis und Domat/Ems im Bündner Rheintal, Sils im Engadin/Segl im Oberengadin und Bondo im Bergell.

Kapitel 9 behandelt schliesslich eine letzte Perspektive auf die Bündner Gemeindebürger. Zunächst stellt sich im Anschluss an eine statistische Analyse einer Reihe von Vereinen und der Churer Unternehmerschaft die Frage, worauf die relative bis absolute Dominanz der Gemeindebürger in diesen Feldern zurückzuführen ist und welches Selbstverständnis damit sichtbar wurde. Schliesslich möchte ich an einigen verstreuten Beispielen aus dem Brauchtum darstellen, wie Nichtgemeindebürger bisweilen ganz von der Teilnahme oder von prestigeträchtigen Funktionen ausgeschlossen wurden. In einer kleinen Rundschau geht es zuerst auf sehr explorative Art und Weise um die Frage, ob und allenfalls wo und in welchen Formen des Brauchtums solche Mechanismen überhaupt feststellbar sind, bevor ich noch einmal zur Frage gelange, welche Funktionen diese Art von «inoffizieller» Abgrenzung für die Gemeindebürger erfüllen konnten.

Terminologie in diesem Buch

1. In dieser Untersuchung ist von «Gemeindebürgern» statt – wie in den Quellen – von «Bürgern» die Rede. Der Terminus Gemeindebürger meint die rechtliche Kategorie der männlichen, mündigen Einwohner einer Gemeinde, die das kommunale Bürgerrecht besitzen, unabhängig davon, ob sie an ihrem Bürgerort, das heisst an ihrem Heimatort, leben. Hingegen verwende ich die Quellentermini Neubürger, Bürgerrat, Bürgerversammlung etc., da bei diesen keine Verwechslungsgefahr mit der kulturellen Kategorie des Bürgers als Mitglied des Bürgertums besteht. Diese Bedeutung bezeichne ich stets mit dem Adjektiv «bürgerlich» oder mit dem Nomen «Bürgerlichkeit», während der rechtlichen Kategorie des Gemeindebürgers das Adjektiv «ortsbürgerlich» entspricht. In den Quellen erscheint für beide Bedeutungen immer der Terminus «bürgerlich».

2. Gibt es für die öffentlich-rechtliche Personalkörperschaft der Bürgergemeinde in der Schweiz eine Fülle von (mitunter irreführenden) Bezeichnungen, so wird diese Vielfalt im dreisprachigen Kanton Graubünden mit seinen verschiedenen rätoromanischen Varietäten zusätzlich vermehrt: «cumün da vaschins» (Engadin, mit Varianten), «vischnaunca burgheisa» (Surselva und angrenzende Regionen, mit Varianten) oder «comune patriziale» (Bergell, Misox, Puschlav). In dieser Untersuchung wird immer von Bürgergemeinden die Rede sein, wie dies auch in den Quellen der deutschsprachigen Regionen Graubündens der Fall ist. Für ihren Gegenpart, die Einwohner- oder Gesamtgemeinde, findet man in den Bündner Quellen fast immer den dazu synonymen Begriff der Politischen Gemeinde. Dieser Terminus, der dem heutigen Sprachgebrauch entspricht, soll in den eigenen Formulierungen auch hier verwendet werden. Wenn alternativ in vereinzelten Fällen von der Gesamtgemeinde die Rede ist, meint dieser Begriff dasselbe.

 

3. Für die Bezeichnung des Eigentums der Bürgergemeinden am Gemeindevermögen folge ich der Unterteilung des geltenden Gemeindegesetzes in a) Armengut, b) Bürgerlöser oder nach 1874 erworbene Grundstücke und c) Nutzungsvermögen.70 In den allermeisten Fällen war es das Eigentum am Nutzungsvermögen, bestehend aus Weiden, Alpen und Wäldern, das bis zum Erlass des Gemeindegesetzes von 1974 im Gemeindedualismus zwischen politischer Gemeinde und Bürgergemeinde umstritten war.

4. Schliesslich eine Bemerkung zu den Termini «souverän» und «autonom», die in den Quellen bisweilen vermischt werden. Souveränität zerfällt in die beiden Aspekte «Souveränität gegen aussen» und «Souveränität gegen innen».71 Als einziger wäre hier letzterer von Belang, der sich in der Rechtssetzung, der Verwaltungsausübung und der Justiz manifestiert. Der Einfachheit halber (und weil der Begriff der Gemeindeautonomie im 20. Jahrhundert den der Gemeindesouveränität offenbar verdrängt) ziehe ich den Autonomiebegriff vor.

1.3 Zugänge zur Kultur der Politik

Die bisher skizzierten Konturen einer Abgrenzungsgeschichte der Bündner Gemeinden verlaufen entlang der Beschreibung von Selbstbildern, Werten, Haltungen, Vorstellungen, Wahrheiten und dergleichen mehr. Wenn danach gefragt werden soll, wie diese verschiedenen Wirklichkeitsentwürfe entstanden sind – wie und warum also, mit anderen Worten, diese Abgrenzungsgeschichte innerhalb der Bündner Gemeinden möglich wurde –, impliziert dies eine grundlegende Einsicht, wie sie von allen Strömungen der Kulturgeschichte geteilt wird: Die soziale Wirklichkeit ist etwas, das immer historisch hervorgebracht wird, d.h. nicht a priori vorgegeben oder «schon da» ist.72 Das Schlüsselkonzept für diesen Konstruktionsprozess sämtlicher Bereiche des historischen Lebens ist ein Kulturbegriff, wie er seit den 1980er-Jahren in die Geschichtswissenschaft eingedrungen ist.73 Kultur ist in diesem Verständnis

fundamental, so umfassend wie die Sprache, die auch die erste Form von Kultur ist und das Modell für Kultur als ein System von Zeichen, ein symbolisches System. Im Netz dieser Zeichen richten wir unsere Welt ein, versehen wir mit Bedeutung, was um uns ist und setzen wir auch uns selbst in Beziehung mit allem anderen – ja, versehen uns selbst mit Bedeutung.74

Das kritische Nachdenken über den Menschen als «symbolerzeugendes und symboldeutendes Wesen»75 findet sich bereits bei einem der berühmtesten Gäste Graubündens der Belle Epoque, bei Friedrich Nietzsche. In Sils i.E./Segl führte er nach 1881 das Nachdenken über die Entstehung von Werten weiter, das er bereits 1872 in Über Wahrheit und Lüge im aussermoralischen Sinne begonnen hatte.76 Darin hatte er zum ersten Mal die Frage nach der Genealogie des bürgerlichen «Begriffshimmels» gestellt, für Nietzsche «jenes ungeheure Gebälk und Bretterwerk der Begriffe, an das sich klammernd der bedürftige Mensch sich durch das Leben rettet».77 Er forderte eine Dekonstruktion dieses von Menschen geschaffenen «Wertehimmels».78 Dazu müsse man darstellen, «wie man auf Erden Ideale fabrizirt».79

Von diesem Wirklichkeitsverständnis ausgehend, hat eine Kulturgeschichte der Politik «hergebrachtes politisches Handeln und politische Institutionen vor Augen und möchte diese mit kulturhistorischen Fragen in neuem Licht erscheinen lassen».80 Deshalb fragt sie «nach der Herstellung und den Funktionsweisen politischen Handelns und politischer Strukturen».81 Eine Kulturgeschichte der Politik darf sich dabei «nicht als die Untersuchung eines Gegenstandsbereichs verstehen, sondern als eine spezifische Perspektive auf jede Art von Politik».82 Schliesslich ist Politik, um mit Roger Sabloniers Untersuchung des spätmittelalterlichen Rätiens zu sprechen, «nicht nur eine Sache von Organisationen, Institutionen, Recht und Gewalt, sondern ebenso sehr von sozialen Beziehungen, Vorstellungen, Kommunkationsweisen und Handeln».83

Mit dem Anspruch einer Kulturgeschichte der Politik taucht die Frage nach politischer Kultur oder politischen Kulturen auf. Zwei Aspekte dieses Begriffs sollen in dieser Untersuchung in den Blick rücken: Erstens meint politische Kultur bestimmte politische Deutungsmuster und ihre sozialmoralischen Milieus.84 In diesem Sinne sind es zwei politische Kulturen, die in einer interregionalen Abgrenzungsgeschichte der Bündner Gemeinden Unterschiede und Gemeinsamkeiten deutlich werden lassen: die liberal-freisinnige und die katholisch-konservative. Trotz unterschiedlicher sozialmoralischer Milieus und politischer Handlungsformen wird zu zeigen sein, dass diese politischen Kulturen mindestens einen zentralen Code geteilt haben.

Zweitens ist zu klären, was alles zu diesen politischen Kulturen gehört, insofern «alles irgendwie politische Dimensionen hat».85 Mit einem Kulturbegriff, der potenziell immer politisch affiziert ist, wird gewiss die Schwäche eines umfassenden Begriffs von «politischer Kultur» deutlich, doch können zwei Relativierungen angebracht werden: Zum einen ist ein solch umfassender Begriff von politischer Kultur einer Beschränkung auf das «Kulturelle an der Politik», das heisst einer Beschränkung auf Demonstrationen, historische Festspiele und Denkmäler, vorzuziehen.86 Zum anderen muss auch eine Analyse von Vereinsstrukturen und dergleichen konkrete politische Dimensionen aufzeigen können. Nimmt man einen soziologischen Begriff von Politik «als eines kommunikativen Modus, dessen Codes auf die Herstellung kollektiv bindender Entscheidungen gerichtet sind» zum Ausgangspunkt, muss zumindest «die Integrationsfunktion, die jeder Politik auf die Dauer innewohnen muss», Gegenstand einer solchen Analyse sein.87 Eine Kulturgeschichte der Politik soll demnach «artifizielle Differenzierungen welcher Art auch immer, die Politisches von Nichtpolitischem zu trennen versuchen, hinter sich […] lassen»88 und sich in diesem potenziell weiten Feld «der Herstellung von Bedeutung, der Produktion von Sinn, der Prägung von Identitäten sowie der Konstruktion von Wirklichkeit durch Menschen der Vergangenheit»89 annehmen.

Bereits wurde erwähnt, dass die erste Form von Kultur die Sprache ist. Eine Möglichkeit, die Rolle der Sprache, oder allgemeiner, semiotischer Zeichensysteme für die Kultur einer Gesellschaft zu erfassen, geht vom Diskursbegriff des französischen Kulturwissenschaftlers Michel Foucault aus:90 Es sind Diskurse, die alle möglichen (abstrakten) «Gegenstände» oder Sachverhalte wie Bürgergemeinden, Gemeindeautonomie oder Wertungen wie «assimiliert» oder «bodenständig» (um nur einige zu nennen) erst hervorbringen und strukturieren.91 Diskurse sind «regelmässige, strukturierte und sich in einem systematischen Zusammenhang bewegende Praktiken und Redeweisen, die einen gewissen Grad der Institutionalisierung erreicht haben».92 Der Fokus liegt somit auf den Praktiken, die ihre Objekte «machen».93 Dies kann eine rechtswissenschaftliche Dissertation, eine Abstimmung während einer Bürgergemeindeversammlung oder der Ausschluss eines Niedergelassenen von einem wichtigen Amt in einem Verein sein. Eine Institution wie die Bürgergemeinde beispielsweise ist nichts anderes als das Korrelat der mit ihr verbundenen Praktiken: Wenn sich die Praktiken verändern, verändert sich der Inhalt beziehungsweise die Funktion der Bürgergemeinden.94 Um einen äusserst erfolgreichen Versuch, solche Bedeutungen festzulegen, handelt es sich beispielsweise beim Begriff des Staats. Er «existiert nur, indem über ihn gesprochen wird. Und doch wird er behandelt als existiere er in Form einer Wesenheit».95

Ich möchte diese grundlegenden Überlegungen abschliessend in fünf Punkten präzisieren.

1. Diskurse haben einen materiellen wie produktiven Charakter.96 Deshalb umfasst eine «diskursive Praxis» ein ganzes Ensemble mit Institutionen, Regelungen, autoritativen Sprechern usw.97 Zum Diskurs gehören die damit «verknüpften Praktiken», die genauso für die Konstituierung ihres Gegenstandes relevant sind.98

2. Wenn man Bürgergemeinden oder die Vorstellung von «Bodenständigkeit» als Ergebnis von Diskursen fasst, geht es «nicht um die abstruse Frage, ob es noch etwas anderes als Texte gebe, sondern darum, wie die nichtsprachlichen Dinge ihre Bedeutung erlangen».99 Bürgergemeinden sind allein schon deshalb real, weil sie durch ihre Beschlüsse sehr reale Wirkungen zeitigen können. Eine Kulturgeschichte der Politik schliesst zudem wirtschaftliche oder soziale Gegebenheiten als die «harten» Bedingungen menschlicher Existenz durchaus mit ein. Auch hier lautet die Frage nicht, ob sie existieren. Entscheidend ist, mit welcher Bedeutung beispielsweise wirtschaftliche Not oder ein Erdbeben ausgestattet werden und welche Konsequenzen daraus zu ziehen sind.100

3. Wenn die Gegenstände, die der Diskurs bildet, nur «in einer Praktik und durch eine Praktik» existieren, führt das zur Frage der Macht. Bevor sich Tatsachen – zumal prekäre wie der Bündner Gemeindedualismus – stabilisieren können, durchlaufen sie meist einen langen, konfliktreichen und nichtlinearen Weg.101 Politisches Handeln ist immer kommunikatives Handeln, das nicht einfach als eindimensionaler Akt gefasst werden kann, bei dem «von oben nach unten dekretiert, regiert, entschieden wird».102 Eine Abgrenzungsgeschichte der Bündner Gemeinden soll zeigen, wie Macht nichts anderes bedeutet als «Kräfteverhältnisse, die durch ihre Ungleichheit unablässig Machtzustände erzeugen, die immer lokal und instabil sind».103 Wodurch also das politische Kollektiv (die Bürgergemeinde, der Kanton, die Politische Gemeinde, der Bundesstaat usw.) entsteht, auf das sich Entscheidungen beziehen, ist historisch variabel und selbst «immer schon das Ergebnis von Bedeutungszuschreibungen». Deshalb bedürfen kollektive Akteure wie Bürgergemeinden oder der Kanton «institutionalisierte[r] Zurechnungsverfahren»,104 um zur Existenz zu gelangen.

4. Damit ist noch einmal ein umfassender Begriff von politischer Kultur angesprochen. Für die Rekonstruktion diskursiver Praktiken soll nämlich ein ebenso weiter Symbolbegriff zur Hand genommen werden: Institutionalisierte Zurechnungsverfahren zielen auf die «fundamentale Konstituierung der sozialen Welt»105 durch das Handeln von Institutionen, wie es sich in Protokollen, Korrespondenzen, Verfügungen, Entscheiden, Abstimmungen usw. manifestiert. Dies heisst nicht, dass sich analytisch nicht

eine besondere Spezies von Zeichen, die […] über sich selbst hinaus auf etwas anderes, auf einen grösseren Zusammenhang verweisen, also sprachliche Metaphern, Bilder, Artefakte, Gebärden, komplexe symbolische Handlungssequenzen wie Rituale und Zeremonien, aber auch symbolische Narrationen usf.106

unterscheiden liesse. Zu dieser besonderen Kategorie von Zeichen gehören das Kollektivsymbol «Bodenständigkeit/bodenständig» oder das Fahnenwort Gemeindeautonomie. So wird zu zeigen sein, wie die Gemeindeautonomie als identitätsstiftender Kampfbegriff «bewusst gewählt und dezidiert verwendet» wurde, um «in Konfliktsituationen, aber auch für das Selbstverständnis ‹Flagge zu zeigen›».107 Auch am Auftauchen des Begriffs «Bodenständigkeit/bodenständig» soll dargestellt werden, wie dieser Komplexität reduzieren und realitäts- und identifikationsstiftend wirken konnte. Anders als dem Fahnenwort Gemeindeautonomie kam ihm als Kollektivsymbol die Funktion zu, mehrere Diskurse miteinander zu verbinden.108 Gilt es bei beiden einerseits die historische Herkunft zu klären, können andererseits sowohl die Gemeindeautonomie als auch die «Bodenständigkeit» zeigen, «welch fundamentale Rolle symbolische Praktiken und diskursive Strukturen schon bei der Konstitution von politischen Institutionen, Ordnungskategorien, Geltungs- und nicht zuletzt Herrschaftsansprüchen spielen».109

5. Es gehört schliesslich zu den fundamentalen Einsichten diskurstheoretischer Ansätze, dass Wissen zirkuliert. Erstens bedeutet dies, dass Wissen keinen Ursprung an einem einzigen Ort hat, der womöglich zwingend mit der akademischen Wissenschaft zu identifizieren wäre, auch wenn rationales Wissen seinen «Kristallisationskern» seit der Moderne in den sich ab dem 19. Jahrhundert etablierenden Wissenschaften findet. Doch selbst um diesen «Kristallisationskern» herum entwickelt und verändert sich Wissen «immer wieder neu durch die Zirkulation zwischen verschiedenen gesellschaftlichen Sphären, bis es sich darin möglicherweise ‹verbraucht› und wieder verschwindet».110

 

Zweitens folgt daraus, dass Wissen einen hybriden Charakter hat. Wissen ist daher nie in einer Reinform vorhanden, vielmehr ist davon auszugehen, dass sich «auch in gut begründeten wissenschaftlichen Systemen» häufig «mehr oder weniger deutliche Spuren der Herkunft, der kulturellen, politischen oder sozialen Existenzbedingungen von Wissen» finden.111

Am Ende dieser theoretischen Überlegungen ist zu fragen, was diese erkenntnistheoretischen Überlegungen für die eigene wissenschaftliche Forschung bedeuten. Es liegt auf der Hand, dass auch eine Kulturgeschichte der Politik nicht «ausserhalb» ihres Forschungsgegenstandes steht. Vielmehr konstruiert sie «die eigene ‹Objektivität› nicht anders als andere Akteure».112 Wenn sich diese Untersuchung auch auf das «genaue Beobachten von Unterschieden» beschränken will, so ist bereits dieser Vorgang durch die Auswahl des Untersuchungsgegenstandes oder normative (Vor-)Annahmen geprägt, während Explikation und Argumentation sich an wissenschaftlichen Kriterien der Sachlichkeit, Informativität, Präzision und Relevanz orientieren, mit denen man sich bei einem umstrittenen Gegenstand wie den Bürgergemeinden zwangsweise «unbequem» machen wird.113