Die Salbenmacherin

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Kapitel 11

Konstantinopel, Juli 1408

Laurenz streifte das Behältnis lediglich kurz mit den Augen, ehe er geistesabwesend nickte. Was interessierten ihn jetzt diese vermaledeiten Reliquiare? Bemerkte Philippos denn nicht, wie grausam es war, von Vermählung zu sprechen?

»Sehr schön«, murmelte er. Doch seine Gedanken waren nach wie vor bei Olivera. Wenn er sich vorstellte, was sich alles unter ihren – seiner Meinung nach viel zu bauschigen – Röcken verbarg, wurde ihm ganz heiß. Er wüsste nur zu gerne, was für Köstlichkeiten lockten, wenn die störenden Hüllen fielen! Augenblicklich meldete sich seine Männlichkeit wieder zu Wort. Hastig trat er aus dem Lichtkegel der Öllampe und hoffte, dass Philippos das verräterische Zeichen nicht bemerkte. Warum hatte allein der Gedanke an Olivera diese Wirkung auf ihn? Er schluckte ein Stöhnen. An sich hatte er vorgehabt, sie heimlich – hinter dem Rücken ihres Vaters – zu verführen. Allerdings hatte ihre Krankheit ihm einen Strich durch die Rechnung gemacht. Vier quälend lange Tage hatte er sie nicht mehr zu Gesicht bekommen. Und wie sehr ihr Anblick, ihre Gegenwart ihm gefehlt hatten, war ihm erst vor einigen Augenblicken richtig bewusst geworden. Als er sie im Nebenraum auf ihrem Stuhl hatte sitzen sehen, war es ihm klar geworden: Er musste sie haben! Ganz egal, wie! Er hob einen der armförmigen Behälter auf und gab vor, ihn zu betrachten. Unterdessen arbeitete sein Verstand fieberhaft. Würden ihn in Tübingen nicht alle um diese Frau beneiden? Sie war schön, gebildet und so ganz anders als die deutschen Mädchen, die ihm im Vergleich zu Olivera spröde und langweilig vorkamen. Gewiss, eigentlich hatte er beabsichtigt, sich mit der Tochter eines Richters oder Ratsherrn zu vermählen. Doch diese begegneten ihm mit Hochmut und Verachtung. Er biss die Zähne aufeinander. Vielleicht würde er mit einer Gemahlin aus der Fremde endlich den Makel des Unterstädters abstreifen können. Er legte den Arm zurück und räusperte sich.

»Um ehrlich zu sein, hie und da habe ich doch schon darüber nachgedacht, mir eine Gemahlin zu suchen«, sagte er – um einen ruhigen Tonfall bemüht. Zu seinem Leidwesen klangen die Worte jedoch viel eifriger, als er beabsichtigt hatte. »Gibt es einen Grund für Eure Frage?«, setzte er hastig hinzu.

Philippos ließ sich Zeit mit seiner Antwort. Erst nachdem er zwei weitere Behältnisse in Augenschein genommen hatte, erwiderte er: »Es wird Zeit, einen Gemahl für meine Tochter zu finden.« Er nahm die Öllampe auf und steuerte auf den Ausgang zu. »Und als ihr Vater liegt mir ihr Glück am Herzen.«

Laurenz schloss zu ihm auf. »Hat sie …?«, hub er an, verstummte jedoch, da er nicht wusste, wie er die Frage formulieren sollte. Zurück im Kontor stellte der Grieche die Lampe wieder ab und schenkte Laurenz ein Lächeln.

»Euer Glück liegt mir auch am Herzen«, versetzte er mit einem schelmischen Zwinkern. »Denkt nicht, dass mir entgangen ist, wie Ihr Olivera anseht.« Als Laurenz protestieren wollte, schnitt er ihm mit einem Kopfschütteln das Wort ab. »Nein, nein, haltet mich bitte nicht für einfältig oder blind.« Er zog eine Augenbraue in die Höhe. »Ihr habt ihr einen Papagei gekauft. Dachtet Ihr, ich wüsste nichts davon?«

Laurenz biss sich auf die Lippe. Es war wirklich vollkommen töricht gewesen, diesen Vogel zu erstehen! Ein Grinsen stahl sich auf sein Gesicht. Andererseits hatte er so das Herz des Mädchens gewonnen. Des Mädchens, das vielleicht bald seine Frau werden würde! Die Vorstellung verursachte einen wahren Aufruhr in seinem Körper.

»Wenn wir uns handelseinig werden«, riss Philippos ihn aus den Gedanken, »dann kann sie schon in wenigen Tagen Euch gehören.«

*

Olivera zuckte zusammen, als sich schwere Tritte näherten. Hastig zog sie das Ohr von der Tür zurück, an der sie gelauscht hatte. Sie machte mit hochrotem Kopf drei Schritte zur Seite und gab vor, etwas vom Boden aufzuheben. Sobald die beiden Träger, die sie aufgeschreckt hatten, an ihr vorbeigestapft waren, huschte sie jedoch zurück zur Tür und horchte weiter.

»… Säcke mit Pfeffer, Safran, Kardamon, Zimt und Muskat«, hörte sie ihren Vater sagen. »Wenn Ihr sie streckt, könnt Ihr die doppelte Menge verkaufen.«

Jemand hustete. Ein Räuspern folgte.

»Wird es nicht Probleme geben wegen des unterschiedlichen Glaubens?«, fragte Laurenz.

Olivera hielt den Atem an. Daran hatte sie noch gar nicht gedacht! Sicher folgte Laurenz der römischen Lehre!

»Ach«, erwiderte ihr Vater, »ich kenne einen Priester, der Euch dennoch traut. Wen interessiert denn schon wirklich, ob Papst oder Patriarch das Sagen haben? Außer den Pfaffen?« Er lachte.

Doch bevor Olivera noch mehr erfahren konnte, näherte sich zu ihrem Leidwesen erneut jemand, sodass sie ihren Horchposten wieder aufgeben musste. Ein Knabe tauchte in dem Durchgang auf, der hinaus auf die Straße führte, und sah sich verunsichert um. Sein Gesicht war gerötet und die Kappe auf seinem Kopf saß schief. Als er Olivera erblickte, eilte er auf sie zu. Er verneigte sich vor ihr und keuchte: »Meine Mutter schickt mich. Ich soll die Kuria Loukia holen. Die Herrin bekommt ein Kind! Es steckt fest!« In seinen Augen lag Furcht. »Sie schreit ganz furchtbar.« Er griff Olivera beim Arm. »Ihr müsst schnell kommen! Und Ihr sollt …«, er dachte einen Moment lang nach, »Nieswurz mitbringen..«

Die Dringlichkeit seiner Bitte ließ Oliveras Neugier in den Hintergrund treten. Auch wenn sie alles dafür gegeben hätte, das Gespräch im Kontor ihres Vaters weiter zu belauschen, wusste sie, dass das Leben der Schwangeren auf dem Spiel stehen konnte. Daher fasste sie den Jungen bei den Schultern und fragte: »Hat man dir sonst noch etwas aufgetragen?«

Er schüttelte den Kopf.

»Warte hier«, befahl Olivera. »Ich bin sofort mit meiner Yiayia zurück.« Daraufhin raffte sie ihre Röcke und hastete zur Salbenküche. Dort hantierte ihre Großmutter mit einem großen Kupferkessel. Leise vor sich hin schimpfend versuchte sie, den Topf an einen Haken über der Feuerstelle zu hängen.

»Yiayia«, schnaufte Olivera, bevor ihre Großmutter fragen konnte, wie es ihr ergangen war. »Da ist ein Junge, dessen Mutter nach dir schickt. Es gibt Schwierigkeiten bei einer Geburt. Das Kind steckt fest und sie brauchen Nieswurz!«

Ihre Großmutter stellte den Kessel ab. Sie tupfte sich den Schweiß von der Stirn und angelte nach einem Korb. »Hat er noch etwas gesagt?«, wollte sie wissen.

Olivera verneinte.

»Sicher ist sicher«, murmelte die alte Frau und griff in einen Tontopf, der getrockneten Baldrian enthielt. Diesen packte sie zusammen mit einem Säckchen geriebener Nieswurz- und Wermutblüten und Aloe in den Korb, den sie Olivera in die Hand drückte. »Wir dürfen keine Zeit verlieren«, drängte sie.

Und keine fünf Minuten, nachdem der Knabe die Durchfahrtshalle betreten hatte, waren die beiden Frauen bei ihm.

»Wo wohnt deine Herrin?«, erkundigte sich Oliveras Großmutter. Als der Junge ein Haus ganz in der Nähe nannte, sah sie sich kurz suchend um. Weit und breit war kein Knecht mehr zu sehen. Daher zuckte sie die Schultern. »Das Leben ist wichtiger als die Schicklichkeit. Wir werden wohl auf Begleitung verzichten müssen«, stellte sie ärgerlich, aber trocken fest. » Lauf und zeig uns den Weg«, befahl sie dem Knaben, der augenblicklich auf die Straße rannte.

Die beiden Frauen folgten ihm etwas langsamer – darauf bedacht, die pralle Sonne zu meiden. Eine Dreiviertelmeile weiter südlich kam der Junge vor einem zweistöckigen Haus zum Stehen. Er reckte sich auf die Zehenspitzen und betätigte den Türklopfer, als wollte er ihn abreißen. Die einfach gekleidete Frau, die kurz darauf im Rahmen erschien, folgte seinem ausgestreckten Zeigefinger mit den Augen und bekreuzigte sich, als sie Olivera und ihre Großmutter erspähte. Sobald auch diese das Gebäude erreicht hatten, sprudelte es aus ihr hervor: »Die Herrin liegt seit Stunden in den Wehen. Die Männer haben alle das Haus verlassen, um ihr Geschrei nicht mit anhören zu müssen.« Sie verscheuchte den Knaben und bat die beiden Frauen in die Eingangshalle. Dort war es angenehm kühl und luftig, und bereits nach wenigen Schritten schlug Olivera der Geruch von Salbei entgegen. Offenbar hatte die Hebamme bereits versucht, die Geburt zu beschleunigen.

Die Magd führte sie ins Obergeschoss, wo in einer kleinen Kammer eine stöhnende Frau auf einem Bett lag. Ihr Unterleib war unbekleidet, ihr Gesicht schweißnass. Langes, schwarzes Haar hing ihr wirr in die Stirn. Eine Hebamme und zwei ihrer Lehrmägde machten sich an der Schwangeren zu schaffen, die in diesem Moment einen ohrenbetäubenden Schrei ausstieß.

»Loukia«, begrüßte die Hebamme Oliveras Großmutter. »Ich habe nach dir schicken lassen. Eine dieser kopflosen Gänse hat vergessen, Nieswurz mitzubringen! Zum Glück ist dein Haus nicht weit entfernt.« Sie warf ihren Mägden einen scharfen Blick zu, woraufhin diese beschämt zu Boden sahen.

»Wie lange quält sie sich schon?«, fragte Oliveras Großmutter. Sie schob eine der Lehrmägde zur Seite und betastete den Bauch der Frau.

»Seit etwas mehr als zwölf Stunden«, erwiderte die Hebamme. »Ich habe ihr bereits ein Bad bereiten lassen, aber es hat nicht geholfen. Wenn das Kind sich nicht bald bewegt, wird es eine Totgeburt.«

Ein weiterer Schrei hallte von den Wänden wider und ließ Olivera schaudern. Es war nicht das erste Mal, dass sie bei einer Geburt zugegen war. Doch jedes Mal entsetzten sie die furchtbaren Schmerzen, welche die Frauen offenbar litten, aufs Neue. Ein Gedanke drängte sich in den Vordergrund ihres Bewusstseins. Würde sie auch bald so auf dem Rücken liegen und sich die Seele aus dem Leib brüllen? Sie schluckte mühsam und beschloss, nicht weiter daran zu denken. Allerdings war dieser Entschluss nicht so leicht in die Tat umzusetzen, da die Schwangere erneut aufschrie.

 

»Ich habe außer Nieswurz auch etwas Wermut zur Wehenförderung mitgebracht«, informierte Oliveras Yiayia die Hebamme. Sie zog das Beutelchen aus dem Korb hervor und schüttete etwas davon auf ihre Hand. An Olivera gewandt sagte sie: »Lass einen Aufguss aus Baldrian zubereiten. Sobald das Kind da ist, muss sie schlafen. Sonst überlebt sie die nächsten Tage nicht.«

Olivera tat, wie geheißen. Als sie etwas später mit einer Kanne zurückkehrte, hatte die Schwangere aufgehört zu schreien. Stattdessen nieste sie in kurzen Abständen so heftig, dass ihr ganzer Körper geschüttelt wurde. Über zwei Dutzend Nieser zählte Olivera, bis schließlich eine milchige Flüssigkeit an den Schenkeln der Frau entlanglief.

»Es hat gewirkt!«, rief die Hebamme. »Das Niesen hat das Kind in Bewegung gebracht!« Sie beugte sich über die immer noch niesende Schwangere und fühlte ihren Puls. »Es wird nicht mehr lange dauern«, sagte sie zu ihren Mägden. Sie trat an einen Tisch, auf dem mehrere Haken, Scheren, ein kleiner Spiegel und eine Zange lagen. Dann zog sie einen Stuhl in die Mitte des Raumes, den Olivera erst jetzt bemerkte. Seine Lehne war stark geneigt, und seine Sitzfläche hatte ein großes Loch. »Helft ihr in den Gebärstuhl«, trug die Hebamme ihren beiden Helferinnen auf.

Während die Mädchen der Schwangeren auf die Beine halfen, trat die Frau auf Oliveras Großmutter zu und ergriff ihre Hände. »Danke Loukia«, sagte sie. »Ich hätte nicht gedacht, dass das Kind sich so lange nicht vom Fleck rühren könnte.«

Die alte Salbenmacherin nickte. »Wenn du mich noch brauchst, bleibe ich gerne«, erwiderte sie.

Die Hebamme lächelte. »Das wird nicht nötig sein. Für alles, was jetzt geschehen kann, bin ich gerüstet.« Sie warf einen Blick über die Schulter und verfolgte, wie ihre Lehrmägde die Schwangere in dem Stuhl zurechtrückten. »Ich werde dir die Bezahlung schicken lassen.«

»Es eilt nicht«, gab Oliveras Yiayia zurück. »Gott sei mit ihr.«

Mit diesen Worten gab sie Olivera ein Zeichen, den Korb aufzuheben, und verließ kurz darauf mit ihrer Enkelin das Haus. »Ich hoffe, sie ist stark genug«, seufzte sie. »Es wird nicht leicht für sie werden.«

Olivera zog unwillkürlich den Kopf ein. Das, was sie in der Kammer gesehen hatte, machte ihr Angst. Es hatte ihr schon immer Angst gemacht – seit sie das erste Mal Zeugin einer Geburt geworden war. Doch jetzt, da ihre Vermählung mit Laurenz in greifbare Nähe rückte, verwandelte sich ihre Furcht in etwas weitaus Stärkeres. Starb nicht jede dritte Frau am Kindbettfieber? Sie fasste sich unwillkürlich an den Bauch. Bevor ihre Einbildung ihr die schrecklichsten Szenen vorgaukeln konnte, erreichten sie jedoch das Haus ihres Vaters. Mit der Rückkehr dorthin verschwanden die dunklen Wolken der Sorge genauso schnell, wie sie gekommen waren. Und ihre Aufregung vertrieb alle anderen Gedanken. Ob Laurenz und ihr Vater sich einig geworden waren?

Kapitel 12

Konstantinopel, Juli 1408

Die Antwort auf diese Frage ließ nicht lange auf sich warten. Sobald Olivera und ihre Großmutter den Hof wieder betreten hatten, eilte die osmanische Sklavin Lale auf sie zu.

»Euer Vater wünscht, Euch zu sehen«, ließ das Mädchen Olivera wissen. »Er hat bereits nach Euch suchen lassen.«

Olivera spürte, wie das Blut aus ihren Wangen wich. Plötzlich und völlig unsinnigerweise überkam sie die Befürchtung, dass der Besuch bei der Schwangeren all ihre Träume zunichtemachen könnte. Was, wenn Laurenz ärgerlich war, weil er hatte warten müssen? Sie betastete ihr Haar und steckte sich fahrig einige verirrte Strähnen hinter das Ohr. Und was, wenn er oder ihr Vater es sich anders überlegt hatten? Oder die beiden über der Mitgift in Streit entbrannt waren? Ein Teil von ihr wusste, dass diese Sorgen unbegründet waren. Doch ein anderer Teil fühlte sich an wie ein Kessel, in dem es mächtig brodelte.

»Gib mir das«, sagte ihre Yiayia und griff nach dem Korb. »Geh!«, setzte sie mit einem Lächeln hinzu, als Olivera eine Winzigkeit lang zögerte.

Es war, als wüssten ihre Beine nicht, was zu tun war. Erst, als Lale zur Seite wich, um ihr den Vortritt zu lassen, fiel die Erstarrung von ihr ab und sie setzte sich in Bewegung. Hätte sie daran geglaubt, dass Gott sich auch nur im Entferntesten für ihre Belange interessierte, hätte sie ein Stoßgebet zum Himmel geschickt. Allerdings war sie sich aufgrund des eben erst mit angesehenen Leides der Gebärenden aufs Neue sicher, dass dem Allmächtigen das Los der Frauen vollkommen gleichgültig war. Daher nahm sie all ihren Mut zusammen und rang ihre Unsicherheit nieder. Wenig später klopfte sie das zweite Mal an diesem Tag an die Tür des Kontors.

Als sie über die Schwelle trat, wusste sie vor Aufregung zuerst nicht, wohin sie blicken sollte. Mitten im Raum stand Laurenz – die breiten Schultern gestrafft, das Kinn energisch vorgereckt. Die Kappe, die sonst auf seinem rotblonden Schopf saß, lag neben ihm auf einem Stuhl, von dem er offensichtlich soeben aufgesprungen war. Seine grauen Augen glänzten beinahe fiebrig, und sein Brustkorb hob und senkte sich heftig. Ihr Vater streifte den jungen Mann mit einem erheiterten Blick, ehe er sich seiner Tochter zuwandte.

»Olivera«, begrüßte er sie. Anders als sein junger Gast wirkte Philippos in keinster Weise aufgewühlt – eine Tatsache, die Olivera nicht zu deuten vermochte.

»Baba«, erwiderte sie den Gruß.

Laurenz schenkte sie ein schüchternes Lächeln. Ihr Vater erhob sich und trat hinter seinem Schreibtisch hervor. Als er vor den beiden jungen Leuten angekommen war, ergriff er ihre Hände und legte Oliveras Rechte in Laurenz’ Linke.

»Laurenz hat um deine Hand angehalten«, erklärte er und machte eine bedeutungsvolle Pause. »Die ich ihm hiermit gewähre.«

Laurenz’ Finger schlossen sich fester um Oliveras Hand. Es war, als presse er damit gleichzeitig allen Atem aus ihren Lungen. Schwindelig vor Glück sah sie zu ihm auf. Während sich ein unbeschreibliches Gefühl in ihr ausbreitete, wünschte sie sich, er würde sich zu ihr hinabbeugen und sie küssen. So überwältigend war der Taumel der Gefühle, dass sie die nächsten Worte ihres Vaters kaum hörte.

»Ihr werdet noch in dieser Woche Hochzeit feiern«, wiederholte Philippos und löste die Hände der beiden voneinander. »Pater Antonio wird alles Nötige in die Wege leiten.«

Olivera glaubte, ihren Ohren nicht zu trauen. »Noch diese Woche?«, hauchte sie.

»Ja«, entgegnete ihr Vater mit einem Lächeln. »Dann könnt ihr vor Anbruch des nächsten Monats die Reise antreten.«

Einen Augenblick vermeinte Olivera Bedauern in seiner Stimme mitschwingen zu hören. Doch dann lachte Philippos und wandte sich an Laurenz.

»Was haltet Ihr davon, den Glasmacher noch einmal aufzusuchen?« Er warf seiner Tochter einen kurzen Blick zu. »Jetzt, wo diese Angelegenheit geklärt ist …«

Laurenz nickte. Aber all die Zeit über ließ er Olivera nicht aus den Augen. Es war, als könne er sich nicht an ihr sattsehen. Oliveras Herz hüpfte vor Glück. Auch sie hätte ihn stundenlang einfach nur anstarren und seinen Anblick in sich aufsaugen können, um sich jede Einzelheit seines Gesichtes unauslöschlich einzuprägen. Ihre Fingerkuppen kribbelten, da sie kaum der Versuchung widerstehen konnte, ihn zu berühren. Die Erinnerung daran, wie sich sein Körper beim Besuch des Marktes an den ihren gepresst hatte, raubte ihr beinahe den Verstand. Wie hart und stark er sich angefühlt hatte! Und wie unglaublich es gewesen war, als er ihr ins Ohr geflüstert hatte, dass er sich einen Kuss von ihr wünschte. Sie unterdrückte ein Seufzen. Wenn sie doch nur sofort Mann und Frau werden könnten!

»Wir werden heute Abend ein Festmahl zur Feier Eurer Verlobung abhalten«, unterbrach ihr Vater ihre Gedanken. »Bis dahin verrichtet jeder sein Tagwerk wie gewohnt.«

Die Worte waren an Olivera gerichtet, die zuerst nicht darauf reagierte. Als ihr Vater jedoch ungeduldig die Stirn runzelte, begriff sie, was er meinte. Widerwillig riss sie sich von Laurenz’ Anblick los. Sie nickte den beiden Männern zum Abschied zu. In wenigen Stunden würde sie ihn wiedersehen! Und bald, sehr bald schon würde er niemals wieder von ihrer Seite weichen!

Noch nie war ihr der Weg über den Hof so fremd erschienen. Beinahe war es, als habe das, was im Kontor vorgefallen war, nicht nur ihr Leben, sondern auch ihre gesamte Wahrnehmung verändert. Der staubige Boden erschien ihr mit einem Mal nicht mehr so schmutzig; das müde Grün der Kräutergärten wirkte frischer und saftiger; und die Hennen, die überall im Dreck scharrten, schienen ihr neugierig nachzusehen und ihr gackernd Glückwünsche hinterherzuschicken. Nicht einmal die Hitze störte sie, sodass sie den Hof direkt überquerte, anstatt den Schatten des Arkadenganges zu suchen. Mit jedem Schritt, den sie tat, verstärkte sich das Hochgefühl in ihr. Am liebsten hätte sie lauthals gesungen, ihre Freude herausgeschrien und jeden umarmt, der ihr entgegenkam. Da dies jedoch vollkommen undenkbar war, lachte sie lediglich in sich hinein und eilte beschwingt zur Salbenküche.

»Yiayia!«, rief sie, kaum dass sie die Tür aufgestoßen hatte. »Ich werde Laurenz’ Frau!«, brach es aus ihr heraus. Sie fiel ihrer Großmutter so stürmisch um den Hals, dass diese eine Platte Bienenwachs fallen ließ. »Wenn du nicht gewesen wärst«, versetzte Olivera atemlos, »dann hätte Baba mich so lange warten lassen, bis ich alt und bucklig bin!« Sie drückte ihre Großmutter an sich.

Diese protestierte mit einem »Vorsicht, Kind!« und befreite sich von ihrer Enkelin. »Du bringst mir alles durcheinander«, schimpfte sie halbherzig. Sie betastete ihr Haar und zupfte sich die Kleidung zurecht. Auf ihren faltigen Zügen hielten Freude und Traurigkeit Widerstreit.

»Endlich darf ich in die weite Welt hinaus!«, frohlockte Olivera. Sie nahm die Hände der alten Frau in die ihren und küsste die Handflächen. »Stell dir nur vor, wie es sein wird, mit ihm in ein anderes Land zu reisen! All die Dinge, die wir unterwegs erleben werden!« Sie strahlte ihre Großmutter an. »Ich kann es kaum erwarten!«

Bevor ihre Yiayia etwas erwidern konnte, fragte Olivera: »Ob wir auf einem der großen Segelschiffe reisen werden? Oder auf einer Galeere? Was denkst du, wie lange die Reise dauern wird?« Sie wippte aufgeregt auf den Fußballen auf und ab.

»Zuerst einmal solltest du dich ein wenig beruhigen«, riet die alte Frau. Sie fasste ihre Enkelin beim Arm und führte sie zu einem Schemel. »Setz dich und atme tief ein und aus«, riet sie. »Dann kannst du mir in allen Einzelheiten erzählen, was im Kontor vorgefallen ist.«

Nachdem Oliveras Aufregung sich etwas gelegt hatte, berichtete sie ihrer Yiayia haarklein, was ihr Vater gesagt hatte. »Muss ich wirklich den Rest des Tages hierbleiben?«, fragte Olivera. Sie sah flehend zu ihrer Großmutter auf. »Ich muss mich doch für das Festmahl zurechtmachen!«

»Das kannst du auch später noch«, erwiderte die alte Griechin. »Aber wenn du Laurenz eine gute Gemahlin sein willst, musst du lernen, dich in Geduld und Gehorsam zu üben.« Sie hob mahnend den Zeigefinger. »Kein Mann schätzt eine ungestüme oder gar widerspenstige Frau.«

Olivera stöhnte innerlich auf. Wo sollte sie nur die übermenschliche Kraft hernehmen, die dafür nötig war? Sie konnte doch nicht so tun, als ob nichts geschehen wäre! Ihre Großmutter zog sich einen zweiten Schemel heran und ließ sich neben ihr nieder.

»Ich weiß, wie du dich fühlst«, sagte sie. »Und ich weiß auch, dass du dir nichts sehnlicher wünschst, als endlich zu bekommen, was du begehrst.« Sie suchte einen Augenblick lang nach Worten. »Aber wir werden tun, was dein Vater befohlen hat.«

Als Olivera etwas erwidern wollte, schmunzelte sie. »Es spricht allerdings nichts dagegen, dass wir uns mit Dingen beschäftigen, die das Ehegemach betreffen«, fügte sie listig hinzu. »Immerhin solltest du wissen, was dich erwartet«, sagte sie etwas ernster. Und für den Bruchteil einer Sekunde kehrte die Angst zurück, die Olivera in der Kammer der Gebärenden überkommen hatte.

Diese verflüchtigte sich jedoch sofort wieder, als ihre Großmutter zurück auf die Beine kam und ein Buch aus einem der Regale nahm. Der in Leder gebundene Band enthielt allerhand Rezepte und Beschreibungen von Heilmitteln, aber auch Zeichnungen der menschlichen Anatomie.

»Du weißt sicher, dass der weibliche Körper kälter, schwächer und poröser ist als der des Mannes.« Es war eine Feststellung, keine Frage.

Olivera nickte.

»Der Mangel an Wärme ist der Grund, warum der weibliche Körper die Nahrung nur bis zur vorletzten Stufe, dem Blut, verkochen kann«, fuhr ihre Yiayia fort. »Der Mann hingegen verkocht die Nahrung bis zur letzten Stufe, dem Samen.« Sie deutete auf die Zeichnung eines Tropfens, in dem eine Gestalt kauerte. »In diesem Samen ist ein winziger Mensch, ein Homunculus, der in der Gebärmutter der Frau ausgebrütet wird«, erklärte die alte Frau weiter. »Wenn dein Gemahl in der Hochzeitsnacht – und auch später – bei dir liegt, wird er den Samen in dich einbringen.« Sie hielt inne und sah Olivera an. »Verstehst du, was ich meine?«

 

Obgleich Olivera sich nicht ganz sicher war, bejahte sie. Immerhin hatte sie in Trotulas De passionibus mulierum schon oft genug Zeichnungen des männlichen Geschlechtsorganes gesehen, um sich auszumalen, was ihre Yiayia meinte.

»Manchmal wollen Frauen die Empfängnis beschleunigen«, sagte die Salbenmacherin. »Aber manchmal wollen sie eine Empfängnis auch verhüten.«

Etwas in ihrer Stimme ließ Olivera aufblicken. Doch das Gesicht ihrer Großmutter verriet keine Gemütsregung.

»Zur besseren Empfängnis zerstößt man getrocknete Eberhoden und trinkt diese, in Wein aufgelöst, nach der monatlichen Blutung. Zum Verhindern der Empfängnis muss man dafür sorgen, dass die Gebärmutter zu feucht und zu warm ist. Dann kann sich der Samen nicht einnisten.«

Sie hielt einen Moment lang inne und blätterte in dem Buch.

»Lammfleisch, Gans und Ziege sind warme und feuchte Nahrungsmittel. Wenn man jedoch sichergehen will, sollte man ein in Essig getränktes Schwämmchen einführen, bevor man mit seinem Gemahl liegt. Das kann allerdings sehr schmerzhaft sein.«

Ihre Fingerkuppe wanderte zu einem Rezept.

»Besser ist, man braut einen Trank aus diesen Zutaten und spült den Samen nach dem Verkehr mit dem Mann heraus.« Sie sah von dem Folianten auf. »Alles andere, wie das Herumtragen oder Lutschen an bestimmten Steinen, ist nichts als barer Aberglaube.«

Olivera starrte eine Zeit lang schweigend auf die Seiten des Buches. Dann hob sie den Blick. Ihre Großmutter schien die Frage darin lesen zu können.

»Jede Frau greift zu solchen Mitteln. Dafür kommen sie zu uns Salbenmachern. Es ist nichts, wofür sie sich schämen müssen. Aber es ist auch nichts, was ihre Ehemänner jemals erfahren dürfen.«

Was sie damit meinte, war klar. Sie schloss das Buch, erhob sich und zog einige weitere Bände aus dem Regal. Diese enthielten weitere Rezepte, Anleitungen zur Herstellung von Pessaren und Räucherungen sowie zahllose Zeichnungen von Frauen vor, während und nach der Niederkunft.

Die nächsten Stunden vergingen wie im Flug. Und schneller, als Olivera gedacht hatte, neigte sich der Tag dem Ende. Um die siebente Stunde war es endlich so weit. Nachdem sie ihrer Großmutter beim Aufräumen geholfen hatte, eilte sie voller Vorfreude und Unruhe in ihre Kammer. Dort streifte sie die Röcke ab und wusch sich mit kaltem Wasser, in das sie etwas Rosenöl träufelte. Für ein Bad war zu ihrem Leidwesen nicht mehr genug Zeit. Dann wählte sie eines der Kleider aus, die ihr Onkel ihr geschenkt hatte, und schlüpfte hinein. Dieses war aus einem schillernden blauen Stoff gewoben. Kleine silberne Sterne waren in den Kragen eingestickt, und den Gürtel zierte eine Spange in Form eines Sichelmondes. Lale bürstete ihr Haar, flocht es und steckte es in Schlaufen an ihrem Hinterkopf auf. Sobald die letzte Klammer befestigt war, warf Olivera sich einen Seidenschleier übers Haar. Sie kniff sich in die Wangen, um diese zu röten, und betonte die Kontur ihrer Augen mit einem Kohlestift. Nach einem letzten Blick in den Spiegel reckte sie das Kinn und trat zurück, hinaus in den heißen Sommerabend. Der Papagei, dem sie immer noch keinen Namen gegeben hatte, schickte ihr ein schrilles Kreischen hinterher. Ihre Yiayia wartete bereits am anderen Ende des Ganges auf sie. Während sie versuchte, das Summen und Brummen tief in ihrem Inneren unter Kontrolle zu bringen, fragte sie sich, ob sie überhaupt dazu imstande sein würde, etwas zu essen.