Die Salbenmacherin

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»Als ob du nichts Besseres zu tun hättest«, schalt sie sich selbst und kehrte dem Spiegel den Rücken. Mit einem Kopfschütteln bückte sie sich, um den Deckel einer kostbar verzierten Holztruhe zu öffnen, in der sich Ober- und Untergewänder stapelten – manche einfach geschneidert, andere prunkvoll und aufwendig bestickt. Unentschlossen wühlte sie eine Zeit lang darin herum, zog Kleider heraus, nur um sie gleich darauf wieder hineinzulegen. Auf keinen Fall durfte sie etwas tragen, womit sie das Misstrauen ihres Vaters oder ihrer Großmutter erweckte! Sollten diese auch nur im Geringsten ahnen, was sie vorhatte, war ihr Plan zum Scheitern verurteilt. Nach langem Suchen entschied sie sich schließlich für ein kirschrotes Untergewand mit weiten Ärmeln und ein eng geschnittenes saphirblaues Obergewand, dessen Säume mit Goldfaden verziert waren. Zusammen mit einer silbernen Brosche und einer Korallenhalskette würde sie damit sicherlich Eindruck machen, ohne allzu herausgeputzt zu wirken. Wenn sie sich dann noch das Haar flechten ließ und einige Duftnelken darin verbarg, würde er sich ihrem Zauber nicht entziehen können. Dafür hätte sie am liebsten ein Gebet zum Himmel geschickt. Doch war sie sich seit Langem sicher, dass Gott kein Ohr für die Anliegen der Frauen hatte. Sie faltete die Gewänder sorgfältig zusammen und schlüpfte zurück in die alten Kleider. Dann verließ sie ihre Kammer und eilte in die Badestube. Wenn sie rechtzeitig zum Abendmahl fertig sein wollte, musste sie sich beeilen. In weniger als einer Stunde würde die Sonne untergehen!

Als sie eine halbe Stunde später aus der Badestube zurück ins Freie trat, fühlte sie sich frisch wie eine Blume. Allerdings hatte sich ihre Aufregung mit jeder Minute, die verstrich, verstärkt, sodass es in ihrem Inneren inzwischen summte wie in einem Bienenstock.

»Olivera!«

Der Ruf ließ sie zusammenfahren und erschrocken herumwirbeln. Von dem überdachten Gang im Obergeschoss winkte ihre Großmutter zu ihr hinab. Sie klatschte ungeduldig in die Hände.

»Wo steckst du denn? Das Mahl wird gleich aufgetragen.«

Oliveras Puls machte einen Satz und ein Stich der Vorfreude fuhr ihr in die Glieder. »Ich komme!«, rief sie und raffte die Röcke, um auf ihre Großmutter zuzueilen. Sobald sie die alte Frau erreicht hatte, schüttelte diese tadelnd den Kopf.

»Du weißt doch, dass dein Vater ärgerlich wird, wenn er warten muss«, schalt sie. »Besonders heute, wo er Gäste hat.« Sie ergriff Oliveras Hand und zog ihre Enkelin auf die Stirnseite des Gebäudes zu. Dort – direkt über dem Kontor und den Verkaufsräumen – befand sich die Stube, in der die Familie ihre Mahlzeiten einnahm, wenn Besuch im Haus war. Hinter den bunt verglasten Fenstern herrschte schon reges Treiben. Olivera spürte, wie ihre Hände feucht wurden. Ehe sie sich versah, öffnete ihre Großmutter die Tür und schob sie über die Schwelle in den mit Zierfliesen geschmückten Raum. Die Tafel war bereits gedeckt und die Küchenmägde verteilten frisch gebackene Brotfladen und Krüge mit schäumendem Rotwein. Die Farben des Wandteppichs über der Feuerstelle schillerten im Licht des Kerzenleuchters. Doch Olivera hatte keine Augen für dessen Schönheit. Stattdessen wurde ihr Blick von der Gruppe Männer angezogen, die soeben – heftig diskutierend – aus der angrenzenden Kammer die Stube betraten. Allen voran polterte ihr Vater herein, dicht gefolgt von ihrem Bruder Markos und dem Goldschmied, den Oliveras Freundin bald heiraten würde. Als Letzter erschien der hochgewachsene Fremde im Rahmen. Und Olivera musste alle Selbstbeherrschung aufbringen, um ihn nicht anzustarren. Er überragte seine beiden Begleiter um mehr als Haupteslänge. Das rotblonde Haar war unter einer kleinen schwarzen Kappe verborgen und die dunkle Kleidung betonte seine helle Haut. In seinem Gürtel steckte ein prachtvoller Dolch, dessen Scheide mit Edelsteinen besetzt war. Als er die Augen auf Olivera und ihre Großmutter richtete, durchrieselte die junge Frau ein Schauer. Für den Bruchteil eines Augenblicks hielt sie dem halb prüfenden, halb überraschten Blick stand. Dann senkte sie den Kopf und starrte auf ihre Zehenspitzen. Das Herz in ihrer Brust flatterte wie ein Vogel. Warum hatte sie nur auf ihre Vernunft gehört und nicht ihr bestes Gewand angezogen?, war alles, was ihr durch den Kopf schoss, als er auf sie zutrat.

Kapitel 3

Konstantinopel, Juli 1408

Laurenz Nidhard war erstaunt. Vielleicht war er sogar ein wenig mehr als erstaunt, doch er versuchte, sich seine Überraschung nicht anmerken zu lassen.

»Meine Tochter Olivera«, wiederholte sein Gastgeber.

Und Laurenz verneigte sich hastig vor der jungen Frau, die der Grund für seine Verblüffung war. Konnte diese Schönheit dasselbe Mädchen sein, an das er sich von seinem letzten Besuch erinnerte? Er rang um eine ausdruckslose Miene. Bedauernd riss er sich von dem liebreizenden Anblick los, da er nicht rüde erscheinen wollte. Wenn es sich um dasselbe Mädchen handelt, dachte er, dann ist aus dem hässlichen Entlein ein wahrlich prächtiger Schwan geworden!

»Setzt euch«, lud ihn der alte Philippos ein, bevor Laurenz in seiner Erinnerung nach den Bildern des linkischen Kindes graben konnte, über das er mit dessen Brüdern gescherzt hatte. Weiterhin bemüht, seine Verwunderung nicht zu zeigen, trat er von den Damen zurück und folgte seinem Gastgeber zum Tisch. Doch zu Laurenz’ Leidwesen platzierte ihn der Grieche nicht neben seiner Tochter, sondern neben dem Goldschmied Andreas. Allerdings währte die Enttäuschung nicht allzu lange, da sich die junge Frau auf einem Stuhl gegenüber dem seinen niederließ.

»Lass auftragen«, sagte der Hausherr an eine Magd gewandt, und wenig später füllte sich die Tafel mit allerlei Köstlichkeiten. Einer Eiersuppe mit Safran, Pfefferkörnern und Honig folgten Lamm mit Zwiebeln, gebratenes Huhn in Mandelsoße und eine Pastete aus Krebsfleisch. Ergänzt wurden diese Speisen durch frische Oliven und geröstete Nüsse, von denen der Goldschmied offenbar nicht genug bekommen konnte. »Wo kauft Ihr nur immer diese wundervollen Nüsse«, nuschelte dieser mit vollem Mund und langte erneut zu.

»Auf dem Markt, wo Ihr auch einkauft«, gab Philippos trocken zurück. »Aber wir sind nicht hier, um uns über Nüsse zu unterhalten, sondern um Geschäftliches zu klären«, setzte er hinzu.

Laurenz verkniff sich ein Stöhnen. Nahm die Diskussion denn nie ein Ende? War immer noch nicht alles gesagt? Was änderte all das Reden? Er warf Olivera einen verstohlenen Blick zu und sah zu seinem Entzücken, dass sie errötete. Hatte er noch am Morgen das Los verflucht, das ihn – gegen seinen Willen – erneut nach Konstantinopel geführt hatte, erschien es ihm auf einmal gar nicht mehr so furchtbar.

Wenn er schon warten musste, bis dieser verfluchte Goldschmied endlich die letzten Behältnisse für die falschen Reliquien, mit denen er und die anderen handelten, angefertigt hatte, dann konnte er sich die Zeit sicher auch auf angenehme Art vertreiben. Er schenkte der jungen Frau ein Lächeln, das ihre Wangen erneut mit Feuer überzog.

»Ich habe Euch doch gesagt, dass es nicht meine Schuld ist«, riss ihn das Genörgel des Schmiedes aus den angenehmen Gedanken. »Durch den Zwist zwischen Sultan Bayezids Söhnen sind die Handelswege nicht mehr sicher. Ich bin nicht der Einzige, der vergebens auf seine Waren wartet.«

Laurenz verzog das Gesicht. »Dann nehmt eben etwas anderes als Elefantenzähne und Straußeneier für die …« Er zögerte kurz mit einem Blick auf die Frauen, da er nichts verraten wollte, was diese nicht wissen sollten. »Waren«, setzte er betont hinzu. »Wen interessiert das denn schon?«, brummte er.

Der Gastgeber hob beschwichtigend die Hände. Als der Goldschmied vom Lateinischen ins Griechische wechselte und etwas hervorstieß, das wie eine Schimpfkanonade klang, fuhr er ihn barsch an: »Sprecht Latein, damit Euch alle am Tisch verstehen können! Ihr vergesst die Gebote der Gastfreundschaft!«

Der Gescholtene knurrte etwas Unverständliches und stopfte sich einen Bissen Hühnerfleisch in den Mund. Nachdem er diesen geschluckt hatte, fauchte er: »Ich dachte, Ihr wollt Eure Ware so teuer wie möglich verkaufen!« Auch er bedachte die Frauen mit einem Blick, dann funkelte er Laurenz zornig an. »Gewiss könnte ich Ochsenhörner verwenden. Aber wer würde Euch dann den Preis zahlen, den Ihr fordert?« Sein rundes Gesicht glühte. »Wenn Ihr nicht endlich aufhört, mich dafür verantwortlich zu machen, müsst Ihr Euch eben einen anderen suchen!«

Laurenz seufzte. Der Mann hatte ja recht. Allerdings hatte ihn die Vorstellung, länger in der Stadt bleiben zu müssen, bis vor wenigen Minuten noch mit Missmut erfüllt. Sein Blick kehrte wie magisch angezogen zu der Tochter des Hausherrn zurück. Seine Mundwinkel stahlen sich kaum merklich nach oben. Was sein Gastgeber wohl sagen würde, wenn er seine Gedanken lesen könnte? Er zwang sich, ein ernstes Gesicht zu wahren, und lenkte die Aufmerksamkeit zurück auf den Goldschmied.

»Es tut mir leid, Andreas«, entschuldigte er sich lahm. »Aber Ihr wisst, dass ich nicht ewig hierbleiben kann. Die Nachfrage steigt und die Käufer werden immer ungeduldiger.«

»Ja, ja«, schnaubte der Goldschmied. »Aber mit Ungeduld kommt man nicht weit.«

»Warum vertreibt Ihr Euch die Zeit nicht auf dem Markt?«, warf Philippos ein, um den Streit zu schlichten. »Kauft etwas für Eure Gemahlin, bringt ihr Geschmeide oder Stoffe mit.«

Laurenz lachte. »Wenn ich eine Gemahlin hätte, würde ich Euren Rat vermutlich befolgen.« Ein gepresster Laut, der in ein Husten überging, veranlasste ihn, den Kopf zu wenden und Olivera anzusehen.

Diese schien sich an einem Stückchen Lammkeule verschluckt zu haben. Ihre Großmutter beugte sich mit besorgtem Gesicht zu ihr hinüber und klopfte ihr auf den Rücken.

 

»Iss langsam, Kind«, ermahnte die alte Frau das Mädchen.

Und Laurenz stellte erstaunt fest, dass sie ebenso Latein sprach wie die Männer. Wie ungewöhnlich!, dachte er. Aber Philippos’ nächste Bemerkung führte dazu, dass er seine Aufmerksamkeit wieder seinem Gastgeber zuwandte.

»Begleitet mich morgen zu dem venezianischen Glaser«, schlug der Grieche vor. »Sein Glas ist so rein, dass es einem Bergkristall gleicht.« Er legte Daumen und Zeigefinger aneinander, sodass sie einen Kreis bildeten, und küsste seine Fingerspitzen. »Wenn Andreas dieses Glas in die Behältnisse einfügt, dann werden Eure Gewinne Euch für die Wartezeit entschädigen, glaubt mir.«

Laurenz hob erstaunt die Brauen. »So rein wie ein Kristall?«, fragte er ungläubig. Wenn das stimmte, dann würde der Wert seiner Waren in der Tat ins Unermessliche steigen. Sein Gewissen wollte sich zu Wort melden, aber er vertrieb die Reue mit einem Kopfschütteln. Was sollte er denn tun? Schließlich war das Ganze nicht sein Einfall gewesen! Gewiss, er steckte bis zum Hals mit in der Sache. Aber nur, weil er so dumm gewesen war, einem angeblichen Freund einen Gefallen zu tun. Diese Reise würde seine letzte sein, und der Teufel sollte ihn holen, wenn er nicht das Beste daraus machte! Daher hob er seinen Becher und prostete Philippos zu. »Ihr habt mich überzeugt«, sagte er. »Aber dennoch darf sich die Angelegenheit nicht so sehr verzögern, bis die Herbststürme beginnen.« Denn dann wäre die Heimreise ein größeres Wagnis, als den Schultheißen seiner Heimatstadt Tübingen in sein Haus einzuladen!

*

Olivera rang immer noch nach Luft. Der verteufelte Bissen steckte irgendwo tief in ihrer Kehle, wo sie ihn weder schlucken noch freihusten konnte. Zwar hatte das Klopfen ihrer Großmutter ein wenig geholfen. Aber sie griff dennoch nach ihrem Becher und nahm gierig einen viel zu großen Schluck Wein. Kaum hatte dieser ihren Magen erreicht, spürte sie, wie ihr Kopf leicht und ihre Beine schwer wurden. Sie hatte ohnehin schon viel zu viel getrunken – in dem vergeblichen Versuch, ihre Unsicherheit zu überspielen. Warum hörte ihre Hand nicht auf zu zittern? Sie umklammerte das Trinkgefäß mit aller Kraft, um beim Abstellen nichts zu verschütten. Wenn er sie noch einmal so ansah wie vor einigen Augenblicken, dann würde sie vor Scham im Boden versinken. Wieso hatte sie sich auch verschlucken müssen? Sie spürte, wie der Wein ihre Wangen noch heißer machte, als sie ohnehin schon waren. Doch da die Aufmerksamkeit ihres Gegenübers auf Andreas und ihren Vater gerichtet war, ebbte das Gefühl wenig später wieder ab. Zu ihrer Erleichterung fiel ihr auch das Atmen wieder leichter – offensichtlich hatte der Wein die erwünschte Wirkung gezeigt. Mit gesenktem Kopf stocherte sie in dem Essen auf ihrem Teller herum, während die Worte des Fremden – dessen Namen sie nun endlich kannte – in ihrem Kopf nachhallten.

»Wenn ich eine Gemahlin hätte, würde ich Euren Rat vermutlich befolgen.« Erneut spürte sie, wie ihr Herzschlag sich beschleunigte und in ihre Kehle stieg. Es musste ein Wink des Schicksals sein, dass diese wichtigste aller Fragen so schnell beantwortet worden war. Obschon sie fürchtete, ein weiteres Mal Missfallen zu erregen, schielte sie unter halb gesenkten Lidern über den Tisch.

»Eure Begleiter sind über den Ställen einquartiert«, ließ ihr Vater den Besucher soeben wissen. »Ich kann sie aber auch in einem Gasthof unterbringen lassen.«

»Nein, nein«, erwiderte Laurenz mit einer wegwerfenden Geste. »Es sind Knechte. In meinem Haus schlafen sie über der Küche. Wenn Ihr sie zu sehr verwöhnt, dann habe ich in Zukunft nichts als Scherereien.« Er lachte, und es war dieses Lachen, das Olivera endgültig das Herz stahl.

Wie unglaublich er war! Ein Prickeln kroch über ihren Rücken und ließ sie frösteln. Sommersprossen tanzten auf seiner Nase und seine Augen leuchteten, als er sich ihr unvermittelt zuwandte.

»Was denkt Ihr?«, sprach er sie an. »Wenn das Gesinde seinen Platz nicht kennt …« Er ließ den Satz unbeendet, da Oliveras Großmutter ihm einen strafenden Blick zuwarf. Ganz gewiss fand ihre Yiayia es ungehörig von dem Fremden, die Tochter des Hauses bei Tisch anzusprechen. Wenn Gäste im Haus waren und die Männer sich unterhielten, schwiegen die Frauen – so verlangte es die Tradition. Dass Laurenz Olivera um ihre Meinung fragte, war vollkommen unziemlich.

»Ja, kleine Schwester, was denkst du?«, mischte sich ihr Bruder ein.

Olivera funkelte ihn wütend an, da sie ganz genau wusste, was er vorhatte. Zu oft hatten er und seine Brüder sich als Kinder einen Spaß daraus gemacht, sie vor Fremden zu ärgern; hatten sie hinter dem Rücken der Erwachsenen ausgelacht, wenn sie scheu von einem Bein auf das andere getreten war und nicht gewusst hatte, was sie sagen sollte. Sie räusperte sich und überlegte fieberhaft, was wohl die richtige Antwort auf die Frage sein mochte. Doch zum Glück kam ihre Großmutter ihr zur Hilfe.

»Das sind Angelegenheiten der Männer«, sagte diese und bedeutete Olivera aufzustehen. »Es ist an der Zeit, dass wir Euch alleine lassen. Dann könnt Ihr über solcherlei Dinge reden.« Sie erhob sich und griff nach dem Arm ihrer Enkelin, damit Olivera sie aus dem Raum führen konnte.

Hin- und hergerissen zwischen Erleichterung und Verstimmung nickte die junge Frau Laurenz und ihrem Vater zu und murmelte: »Gute Nacht.« Leises Bedauern schwang in seiner Stimme mit, als er ihr ebenfalls eine gesegnete Nachtruhe wünschte.

Viel zu schnell fand sie sich mit ihrer Yiayia draußen auf dem überdachten Säulengang wieder, der inzwischen von Fackeln erleuchtet wurde. Auch im Hof hatten die Bediensteten Fackeln entzündet. Der von Westen her aufkommende Wind ließ die Flammen wild hin und her zucken. Nur wenige Sterne standen am Himmel und der sichelförmige Mond lugte scheu hinter einer Wolke hervor. Der Geruch von Regen lag in der Luft. In weiter Ferne zuckten Blitze über den Horizont, allerdings war das Unwetter zu weit entfernt, weshalb Olivera keinen Donner hörte.

»Ein gänzlich ungesitteter junger Mann«, schimpfte ihre Großmutter. »Ich frage mich, aus was für einem Land er kommt. Offenbar herrschen dort barbarische Sitten!«

Olivera verkniff sich ein Grinsen. Wenn ihre Yiayia doch nur nicht so entsetzlich altmodisch wäre! Sicher kam Laurenz aus einem wundervollen Land, dachte sie. Aus einem Land, das genauso golden war wie sein Haar. Sie verdrehte die Augen über ihre eigene Schwärmerei. Nun, vielleicht nicht unbedingt golden. Aber bestimmt anders als Konstantinopel, das nicht nur die Alten eine sterbende Stadt nannten.

»Bring mich zu meiner Kammer«, forderte ihre Großmutter. Als sie dort angekommen waren, bot sie ihrer Enkelin die Wange, damit diese einen Kuss darauf drücken konnte. »Vergiss dein Nachtgebet nicht«, ermahnte sie Olivera. Noch bevor die junge Frau etwas darauf erwidern konnte, fiel die Tür ins Schloss. Oliveras Hand zuckte zu dem silbernen Kruzifix an ihrem Hals und sie seufzte. Wie viel einfacher alles wäre, wenn sie den blinden Glauben ihrer Großmutter teilen könnte! Diese hatte bestimmt nicht ständig mit Zweifeln und sündigen Gedanken zu kämpfen. Sie blies die Wangen auf und ließ das Kreuz wieder los, bevor sie sich auf den Weg zu ihrer eigenen Kammer machte. Unterwegs hielt sie an einem der von wildem Wein umrankten Stützbalken an. Sie starrte hinüber auf die andere Seite des Gebäudes, wo die Männer immer noch tafelten. Ob sie wohl über sie sprachen? Die Vorstellung trieb ihr erneut das Blut in die Wangen, und sie verfluchte ihren Körper für dieses verräterische Zeichen. Wenn sie nicht achtgab, würde Laurenz sie für eine alberne Gans halten! Sie legte den Kopf in den Nacken und sog die laue Nachtluft ein. Hoffentlich tat er das nicht schon, weil sie sich beinahe durch diesen dummen Hustenanfall verraten hätte!

Die tiefen Atemzüge machten sie schwindelig. Die Wirkung des Weins war immer noch nicht ganz abgeklungen. Sie sollte sich besser auch schlafen legen, wenn sie morgen früh frisch und erholt sein wollte! Nach einem letzten Blick auf die erleuchteten Fenster der Stube löste sie sich vom Geländer des Ganges und betrat kurz darauf ihre eigene Kammer. Dort war es inzwischen wesentlich kühler als am Nachmittag. Um keine Stechmücken anzulocken, schälte Olivera sich im Dunkeln aus ihren Gewändern, legte diese auf dem Tisch neben ihrem Bett ab und löste ihr Haar. Unbekleidet und aufgewühlt ließ sie sich auf ihre Matratze sinken und lauschte auf die Geräusche der Nacht. In irgendeinem Garten zirpten Grillen und eine Eule stieß in regelmäßigen Abständen lang gezogene Rufe aus. Das Unwetter schien inzwischen näher gekommen zu sein, da sie das ferne Grollen von Donner vernahm. Der Wind frischte immer mehr auf, und sie spürte, wie er durch das Fenster über ihren Körper strich.

»Wenn ich eine Gemahlin hätte, würde ich Euren Rat vermutlich befolgen«, hörte sie Laurenz erneut sagen – so deutlich, als wäre er bei ihr im Raum. Ein Zittern durchlief sie, das nichts mit dem kühlen Wind zu tun hatte. Auch wenn sie die Kühnheit ihres Planes zuerst erschreckt und sie gefürchtet hatte, der Mut könne sie verlassen, war sie sich inzwischen sicher. Sie durfte diese Gelegenheit nicht ungenutzt verstreichen lassen! Wenn sie es richtig anstellte, dann würde der Mann, von dem sie so oft geträumt hatte, sie bald als seine Gemahlin mit in seine Heimat nehmen. Dafür würde sie alles tun, ganz egal, was für Folgen es haben mochte!

Kapitel 4

Konstantinopel, Juli 1408

Als am nächsten Morgen der Hahn krähte, erwachte Laurenz aus einem Traum, der gewiss etwas mit dem schmerzhaften Pochen zwischen seinen Beinen zu tun hatte. Widerwillig öffnete er nach einigen Momenten die Augen und vermeinte, immer noch die verlockenden Bilder zu sehen, welche ihm den Schlaf versüßt hatten. Mit einem Stöhnen rollte er sich auf die Seite und versuchte, seine erregte Männlichkeit zu ignorieren. Durch das offene Fenster seiner Kammer fiel bereits die Sonne auf den bunt gefliesten Boden. Das Klappern von Eimern verriet, dass das Gesinde schon längst auf den Beinen war. Eine Zeit lang lag er regungslos da, bis sich sein Blut etwas beruhigte und er klar denken konnte. Es war ein Traum gewesen, nichts weiter! Vielleicht sollte er bei nächster Gelegenheit ein Freudenhaus aufsuchen, um seine Körpersäfte wieder ins Gleichgewicht zu bringen! Er fuhr sich mit den Fingern durchs Haar und wischte sich den Schweiß von der Stirn. Dann setzte er sich auf. Es war schon wieder unglaublich heiß, hatte in der Nacht kaum abgekühlt. Sein Mund war wie ausgetrocknet. Gierig griff er nach dem Krug auf dem Tisch neben seinem Bett und nahm einen tiefen Schluck mit Wasser verdünnten Weins. Nicht ein Lüftchen regte sich, und der Geruch von heißem Staub schien überall zu sein. Er leerte den Krug, leckte sich die Lippen und starrte auf seine nackten Füße. Die Hitze erschöpfte ihn. Obwohl er eigentlich ausgeruht und frisch sein sollte, fühlte er sich wie gerädert. Lange Zeit saß er einfach nur da, während der Schweiß auf seiner bloßen Haut allmählich trocknete. Als schließlich ein Klopfen an der Tür ertönte, war er gerade dabei, nach Bruch und Beinlingen zu angeln, um sich anzuziehen.

»Ich komme«, rief er. Aber erst, als sein Latz fest angenestelt war, öffnete er der Magd. Diese, ein junges Ding mit rosigen Wangen, huschte zu dem Waschgestell in der Ecke des Raumes und füllte die Schüssel mit frischem Wasser aus dem Brunnen im Hof.

»Der Herr wartet in der Stube auf Euch«, informierte sie Laurenz. »Er hat mir aufgetragen, Euch daran zu erinnern, dass Ihr ihn zu dem Glaser begleiten wolltet.« Sie mied seinen Blick.

»Ach, ja, der Glaser«, brummte Laurenz. Die Wonnen des Traumes hatten alle Gedanken an den bevorstehenden Besuch vertrieben. Nachdem die Magd die Kammer wieder verlassen hatte, wusch er sich Gesicht und Hände, brachte sein Haar in Ordnung und kleidete sich fertig an. Dann trat er in den Hof hinaus, der trotz der frühen Stunde bereits in der Sonne buk. Nicht mehr lange, dann würde der Sand unter seinen Sohlen wieder so heiß sein, dass er ihn durch das dünne Leder spüren konnte. Er sah sich um – in der Hoffnung, einen Blick auf Olivera zu erhaschen. Allerdings war von dieser weit und breit keine Spur zu entdecken. Wie sie wohl den Tag verbringen würde?

Das gleißende Weiß der Gebäude blendete ihn, sodass er schließlich blinzelnd den Blick senkte und den Schatten des Arkadenganges suchte. Im Wipfel eines Olivenbaumes trällerte ein bunt gefiederter Vogel – als ob ihm die Hitze nicht das Geringste ausmachen würde. Vermutlich tat sie das auch nicht, dachte Laurenz. Bereits wieder schwitzend erklomm er die Treppe ins Obergeschoss und betrat wenig später die Stube.

 

»Ihr seht erschöpft aus«, begrüßte Oliveras Vater Philippos ihn. »Habt Ihr nicht gut geschlafen?«

»Zu Hause wird es nie so warm«, erwiderte Laurenz. Er ließ sich auf einem der Stühle nieder und wartete, bis eine Bedienstete ihm eine Schüssel mit Hirsebrei gefüllt hatte. Dazu gab es gezuckerte Feigen, Datteln, Nüsse und Honig.

Philippos lachte. Die schwarze Kappe auf seinem Kopf erschien Laurenz viel zu warm – genau wie die prunkvollen Gewänder, deren Gold- und Silberstickereien im Licht funkelten. In dem grauen Bart des Griechen glitzerten einige Tropfen, doch diese waren das einzige Anzeichen, dass auch ihm die Hitze zusetzte.

»Seid froh, dass die Winde vom Meer her wehen«, versetzte Philippos. »In den vergangenen Jahren war es weitaus unangenehmer zu dieser Jahreszeit.«

Laurenz lutschte an einer Dattel. »Dann kann ich wohl von Glück sagen«, erwiderte er trocken. Dann widmete er sich seinem Hirsebrei und versank in Gedanken, während Philippos ihm von dem reinsten Glas vorschwärmte, das er je gesehen hatte.

Sobald die beiden Männer ihr Mahl beendet hatten, befahl der Grieche einem Knecht, die Pferde zu satteln. Diese warteten bereits ungeduldig neben dem Stallgebäude, als Laurenz und sein Gastgeber sich schließlich in den Hof hinab begaben. Laurenz’ Rappe warf den Kopf und stieß ein freudiges Wiehern aus.

»Ein wirklich schönes Tier«, lobte Philippos. Er erklomm mithilfe eines seiner Männer den Rücken einer lohfarbenen Stute.

Laurenz nickte. Der Hengst war das Erste gewesen, das er sich geleistet hatte, als er begriffen hatte, wie einträglich das Geschäft mit Reliquien war. Schon als Knabe hatte er sich ein feuriges Ross mit glänzendem Fell gewünscht – genau wie das Tier, in dessen Sattel er sich soeben schwang. Stolz tätschelte er dem Pferd den Hals, ritt an und genoss das Gefühl der unter ihm spielenden Muskeln.

»Es ist nicht weit bis zu dem Phiolarius – dem Glaser«, erklärte Philippos, als sie den Hof verließen und sich auf der Straße nach Süden wandten. »Er hat seine Werkstatt unten am Hafen.«

Auch wenn Laurenz am liebsten davongeprescht wäre, um den kühlenden Wind auf seiner Haut zu spüren, gewann seine Neugier allmählich die Oberhand. Während sie an ummauerten Gärten, Basaren, Läden und Faktoreien vorbeiritten, fragte er sich, ob Philippos nur aufgeschnitten hatte. Sollte es stimmen, was der Grieche behauptete, und das Glas des Venezianers tatsächlich so rein sein wie ein Kristall … Er brach den Gedanken ab, da sie eines der Tore erreichten, welche die Bezirke der Venezianer, Florentiner, Katalanen, Ragusaner und Juden voneinander trennten. Zwei Bewaffnete vertraten ihnen den Weg, hoben drohend die Lanzen und fordernd die Hände. Ein kurzer Wortwechsel auf Griechisch sorgte dafür, dass sie die Waffen senkten. Mit einer leichten Verbeugung öffneten sie die Flügel des Tores, damit Philippos und Laurenz ungehindert passieren konnten. Hinter der Mauer fielen die Hügel sanft zum Meer ab. Je dichter die Häuser beim Ufer standen, desto mehr Abstand befand sich zwischen ihnen, desto saftiger und farbenprächtiger lockten die Gärten. Eine sanfte Brise fächelte die Gesichter der erhitzten Reiter. Und mit jedem Schritt, den sie sich dem Wasser näherten, vermeinte Laurenz, leichter atmen zu können. Zahllose Schiffe tanzten in der Ferne auf den Wellen – viele davon bauchige Koggen oder schlanke Galeeren aus der Serenissima, der venezianischen Republik. Immer weiter ritten sie gen Süden, bis sie schließlich ein Gebäude erreichten, neben dem sich übermannshohe Holzstapel türmten. Aus mehreren Kaminen quoll dicker, schwarzer Rauch, und ein beißender Gestank brachte Laurenz zum Husten.

»Wir sind da«, sagte Philippos. »Tränk die Pferde«, trug er dem schmutzigen Burschen auf, der auf sie zugeeilt kam. »Wo ist Matteo?«, fragte er den Jungen.

»In der Hütte«, erwiderte der Knabe. Er wies mit dem Daumen auf das Gebäude, aus dem laute Stimmen ins Freie drangen.

»Ihr werdet staunen«, prophezeite Philippos. Ohne auf eine Antwort zu warten, steuerte er auf die Hütte zu und öffnete die Tür.

Laurenz folgte ihm und musste augenblicklich erneut husten. Der stechende Geruch war im Inneren des Gebäudes wesentlich stärker als draußen, wo der Wind ihn gemildert hatte. Schwer und metallisch hing der Gestank in der Luft – so überwältigend, dass Laurenz einen Augenblick lang den Eindruck hatte, danach greifen zu können. Zudem erfüllten dichte Dampfschwaden die Hütte, sodass er die Männer an den gemauerten Öfen erst sah, als Flammen aus den großen, runden Öffnungen schlugen. Mit ledernen Schürzen geschützt, hantierte ein halbes Dutzend Glaser mit rot glühenden Klumpen an langen Stöcken, die sie immer wieder an den Mund führten. Während die Männer ihre Werkzeuge hin und her drehten, schaufelten rußverschmierte Knaben Holz in die Befeuerungsluken der Öfen und sammelten die Asche in Körbe. Diese warfen sie in einen Kessel mit Schmelze, in dem ein Hüne mit einem Metallstab herumrührte. Neben ihm standen je ein Karren voller durchsichtiger Steine, zerriebenem Marmor und Salz.

»Ihr kommt zu früh«, knurrte der Glaser anstatt einer Begrüßung. »Das Crystallo ist noch nicht fertig. Wir hatten Probleme mit der Schmelze.«

Philippos winkte wegwerfend ab. »Wir sind nicht hier, um die Ware abzuholen.« Er deutete auf Laurenz. »Ich wollte ihm nur zeigen, wie rein dein Glas ist.«

Der Phiolarius griff in das Salz und warf eine Handvoll davon in die Schmelze, die zischend Blasen warf. »Es ist noch nicht viel, aber die fertige Ware lagert nebenan«, ließ er seine Besucher wissen. »Ich habe auch Lattimo – Milchglas – gemacht. Falls Ihr davon auch eine Ladung benötigt.«

Ohne Antwort fasste Philippos Laurenz am Arm und schob ihn an den Öfen vorbei zu einer Tür, die in einen Nebenraum führte. Dort hingen ebenfalls Rauchschwaden in der Luft, aber wenigstens hatte man nicht das Gefühl, sich im Fegefeuer zu befinden. Der Gedanke an die läuternden Flammen, in denen die Sünder ihre Strafe verbüßten, bereitete Laurenz Unbehagen, weshalb er froh war, als der Grieche ihm einen Gegenstand unter die Nase hielt.

»Ist es nicht von unglaublicher Reinheit?«, schwärmte er. Tatsächlich war das Gefäß in seiner Hand so durchsichtig wie ein Bergkristall – ganz so, wie Philippos behauptet hatte.

Staunend betastete Laurenz die glatte Oberfläche. Es war wirklich unglaublich! Wie konnte etwas von solch vollkommener Reinheit sein?

»Offenbar gelingt es nicht immer«, fuhr Philippos fort. Er deutete auf einen Haufen Scherben, bei denen es sich allem Anschein nach um Abfall handelte. Laurenz’ Fingerkuppen strichen über die makellose Oberfläche. Dadurch würde man tatsächlich alles sehen, was sich dahinter verbarg – anders als bei dem grünlich gefärbten Waldglas, das er bisher kannte. Trotz der Hitze kroch ihm ein Schauer über den Rücken, als er sich vorstellte, was die Augen der Käufer erblicken würden, wenn sie die gefälschten Reliquiare in Händen hielten.

»Matteo ist einer der Besten weit und breit«, unterbrach Philippos seine Gedanken. »Sein Buntglas ziert die Fenster so mancher Kirche bis weit, weit in den Osten.«

Laurenz nickte. Er nahm einen weiteren Gegenstand in die Hände und hielt ihn gegen das Licht, das durch einen schmalen Fensterspalt hereinfiel.

»Unglaublich«, murmelte er. Die Beklemmung verwandelte sich in Ehrfurcht. Dieses Glas würde den Wert der Behältnisse tatsächlich so gut wie verdoppeln. Ein Grinsen stahl sich auf sein Gesicht. Schon bald würde er ein sehr, sehr reicher Mann sein! Zusammen mit Philippos sah er sich noch eine Zeit lang in dem Lager um, dann verabschiedeten sie sich von dem Glaser. Es würde noch einige Tage dauern, bis alles fertig war. Aber was machte das, wenn alle Stücke von solch kristallener Klarheit waren?