Informationsorganisation und makrostrukturelle Planung in Erzählungen

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2. Erzählungen
2.1. Einleitung in das Kapitel

Die Datengrundlage für die folgende Arbeit bilden Filmnacherzählungen. Diese Textsorte wurde zum einen gewählt, um eine Vergleichbarkeit der erhobenen Daten zu gewährleisten.1 Zum anderen bildet die Textsorte Erzählung komplexe linguistische Strukturen ab, die einen Einblick in die zugrundeliegenden Organisationsprinzipien gewähren. Erzählungen, die aus einer »sozial erprobten Wissensorganisation« resultieren (Antos 1997: 61), stellen somit eine fruchtbare Analysebasis für die hier formulierten Forschungsziele dar, die sich an der Schnittstelle zwischen psycho- und textlinguistischen Fragestellungen platzieren.

Das folgende Kapitel befasst sich mit der Textsorte Erzählung, welche für diese Arbeit von zentraler Bedeutung ist. Im ersten Unterkapitel wird die Erzählung als solche definiert (Kapitel 2.1.). Es folgen Ausführungen zur Struktur (Kapitel 2.2.) im Hinblick auf ihre Komponenten und zu den Funktionen (Kapitel 2.3), die die Textsorte Erzählung erfüllt. Das Kapitel bietet ferner einen Ausblick auf die kognitiven Leistungen (Kapitel 2.4.), die sich beim Erzählen vollziehen.

2.2. Definition der Textsorte »Erzählung«

Erzählungen stellen seit jeher eine wesentliche Grundform von Kommunikation dar und prägen die Menschheitsgeschichte seit ihren Anfängen. Barthes und Duisit (1975) schreiben hierzu:

Narrative starts with the very history of mankind; there is not, there has never been anywhere, any people without narrative.

Erzählungen stellen somit eine Form des sprachlichen Handelns dar, das als international, transhistorisch und transkulturell zu betrachten ist. Jede Form der menschlichen Gemeinschaft wird geprägt von Geschichten, die in verschiedenen Arten wiedergegeben und tradiert werden (vgl. Chroniken, Bildergeschichten, Volkserzählungen, Interviews, Romane usw.) (Barthes & Duisit: 1975).

Erzählen repräsentiert eine Schlüsselkompetenz in der menschlichen Kommunikation. Das Erschaffen und Interpretieren einer erzählten Welt (vgl. den Begriff story world von Herman 2009) kommt nicht nur beim ausgewiesenen Erzählen zum Tragen, sondern auch in Situationen, in denen Menschen versuchen, unorganisierte Ereignisse zu strukturieren. Erzählen stellt somit ein ordnendes Prinzip dar, das eine sinnstiftende Funktion hat.

Die Definition von Erzählung von Labov und Waletzky (1967: 28), die bis heute als zentral erachtet wird, beruht im Sinne der strukturierenden Funktion von Erzählungen auf der temporalen Verbindung (»temporal junction«) zwischen zwei Äusserungen wie beispielsweise in I shot and killed him. Labov und Waletzky (1967: 20) definieren eine Erzählung folglich als »one method of recapitulating past experience by matching a verbal sequence of clauses to the sequence of events which actually occurred« (zum Ansatz von Labov und Waletzky siehe Kapitel 2.3.; für die strukturierende Funktion siehe Kapitel 2.4.).

Es erstaunt daher nicht, dass aufgrund des breitgefächerten Anwendungsbereichs gleich in mehreren Disziplinen ein wissenschaftliches Interesse an dieser Textsorte besteht (Literaturwissenschaft, Sozialanthropologie, verschiedene Teilbereiche der Sprachwissenschaft, Politik, Rechtswissenschaft, Erziehungswissenschaft, Psychologie und vor allem Kognitionswissenschaft ). Mit der Begrifflichkeit des narrative turn (Fisher 1984, Fludernik 2005) wird in dieser Hinsicht die Zuwendung der Geistes-, Kultur- und Sozialwissenschaften zur Textsorte Erzählung deutlich. Erzähltheoretische Ansätze werden interdisziplinär angewandt, um diese universale Kommunikationsform als Analysegrundlage zu nutzen (beispielsweise in der Psychotherapie im Hinblick auf das Erzählen der Lebensgeschichte für diagnostische Zwecke oder im Rechtswesen in Bezug auf Zeugenaussagen).

Die mit dem narrative turn verbundenen Entwicklungen verknüpfen mit der Erzählung folglich nicht nur eine Form der Kunstproduktion, die im Blickfeld der Narratologie steht, sondern beschreiben diese Textsorte als »grundlegendes Verfahren des Menschen, der Welt und dem eigenen Dasein Sinn abzugewinnen, indem Ereignisse in zeitliche und kausale Zusammenhänge eingebunden werden und so Kohärenz erzeugt wird« (Heinen 2007:1). Besonders die Kognitionswissenschaft widmet der Textsorte Erzählung in diesem Hinblick besondere Aufmerksamkeit, um das »world making« und somit menschliche Denkweisen zu ermitteln (Bruner 1986).

Die Nutzbarmachung der Erzählung für verschiedene Disziplinen impliziert, dass ihre Definitionskriterien je nach Forschungsrichtung unterschiedliche Akzentuierungen aufweisen (Gülich & Hausendorf 2000). Bei der Übertragung von erzähltheoretischen Paradigmen in andere Disziplinen, verwässern jedoch erzähltheoretische Definitionen, wie Narratologen bedauern. Gleichzeitig werden Narratologen vor die Herausforderung gestellt, die Anwendbarkeit von erzähltheoretischen Grundlagen in nicht-narratologische Kontexte sicherzustellen (Fludernik 2005). Die Erarbeitung von Definitionskriterien, die verschiedenen Ansätzen gerecht werden, gestaltet sich daher als herausfordernd. Auch aufgrund der Vielzahl von Erzählarten in ihren verschiedenen narrativen Darstellungsformen (mündlich vs. schriftlich, literarisch vs. alltagssprachlich sowie je nach Gattung und Textsorte) wird die Erarbeitung von Definitionskriterien erschwert (Gülich & Hausendorf 2000). Eine Definition kann daher nur auf einer abstrakten Ebene erfolgen, da Präzisierungen nur auf bestimmte, jedoch niemals auf alle Formen des Erzählens zutreffen (Gülich & Hausendorf 2000).

Ryan (2007) versucht die Heterogenität der Definitionskriterien zu systematisieren und fasst sie unter drei semantischen und einer formal-pragmatischen Dimension zusammen.

Zu den semantischen Dimensionen der Erzählung gehören die räumliche, die zeitliche und die mentale Dimension. Räumlich bedeutet, dass die Erzählung in einer Welt angesiedelt ist, die von ausgewiesenen Handlungsträgern (individuated existents) besiedelt ist. Zeitlich heisst, dass die erzählte Welt in einer bestimmten Zeit verankert ist, in der sich signifikante Veränderungen vollziehen. Als sogenannte rekursive Gattung (Luckmann 1986) spezifiziert die Erzählung, dass die Darstellung des Ablaufs realer oder fiktiver Ereignisse in Bezug auf den Erzählzeitpunkt zurückliegt (Gülich 2000). Veränderungen in der erzählten Welt werden dabei von physikalischen Ereignissen verursacht, die nicht habituell sind (non-habitual physical events). Mental bezeichnet, dass einige der Handlungsträger, die die Ereignisse verursachen, intelligent Handelnde (intelligent agents) sind und somit über Geist und Emotionen verfügen. Einige dieser Ereignisse müssen willentlich von den Handelnden ausgeführt werden.

In Bezug auf die formal-pragmatischen Dimensionen führt Ryan aus, dass die Ereignissequenz eine geschlossene Kette bilden muss, die zu einem Abschluss führt. Mindestens eines der erzählten Ereignisse muss als ausgewiesene Tatsache in der Erzählwelt gelten. Die Erzählung als solche muss eine für die Hörerschaft sinnstiftende Mitteilung kommunizieren.

2.3. Zur Struktur von Erzählungen

Erzählungen lassen sich in verschiedene Komponenten aufteilen, deren Organisation hierarchisch strukturiert ist. Von der Organisation der Komponenten lassen sich bestimmte narrative Strukturen ableiten, die für die Erzählung typisch sind. Die Struktur von Erzählungen wird hier aufgrund dreier Grundlagen skizziert:

1 Gesamtstruktur von Erzählungen

2 Strukturierende Elemente innerhalb der Erzählung

3 Struktur der Erzählung als Ergebnis einer Textplanung

In Bezug auf die Gesamtstruktur von Erzählungen hat sich im Bereich der textlinguistischen Fragestellungen der Ansatz des narrativen Schemas (narrative schema) von Labov & Waletzky etabliert (vgl. den Band von Bamberg 1997, der sich mit der Nachhaltigkeit dieses Ansatzes in der Forschung auseinandersetzt). Die grundlegende Studie von Labov & Waletzky (1967) verdeutlicht einerseits, dass mündliche Erzählungen, wie oben ausgeführt, temporal aufgebaut sind, da sie durch die Verknüpfung von Ereignissen eine temporale Sequenz bilden (vgl. I shot and killed him). Andererseits werden funktionale Einheiten bestimmt, aus denen sich Ereignisse zusammensetzen. Für mündliche Erzählungen stellen Labov und Waletzky fest, dass ihre Komponenten häufig in einer bestimmten Anordnung organisiert werden.

 Abstract (abstract)

 Orientierung (orientation)

 Komplikation (complication)

 Evaluation (evaluation)

 Auflösung (resolution)

 Coda (coda)

Im Abstract, das nicht zwingend vorhanden ist, wird ein Gesamtüberblick über den Inhalt der Erzählung angegeben. In der Phase der Orientierung werden Angaben zu Personen, Ort, Zeit und Handlungssituation gemacht, die an der dargestellten Ereignissequenz beteiligt sind (Komplikation). Die Komplikation enthält folglich einen Verweis auf eine Ereigniskette, die schliesslich in der Evaluation reflektiert wird. In der Evaluation sind Kommentare oder expressive Ausdrücke in Bezug auf die Komplikation enthalten. Auf die Evaluation folgt die Auflösung, in welcher der Ausgang der Komplikation geschildert wird. In der Coda wird die Sprecherperspektive wieder auf den Zeitpunkt der Gegenwart gelenkt und schlägt den Bogen zum Abstract zurück.

 

Um mündliche Erzählungen zu strukturieren, können grammatische, lexikalische und intonatorische Mittel ausgeschöpft werden (Gülich 2004). Über grammatikalische Markierungen am Verb kann in Bezug auf dargestellte Ereignisse verdeutlicht werden, welche Ereignisse als Hintergrundhandlungen bzw. als Vordergrundhandlungen zu verstehen sind (vgl. das Inzidenzschema bzw. aspektuelle Oppositionen zwischen passé simple und imparfait im Französischen, vgl. hierzu Pollak 1988 und insbesondere Weinreich 1964).

Zu den lexikalischen Mitteln gehören beispielsweise die sogenannten Gliederungssignale, die als universales Merkmal der gesprochenen Sprache eine ordnende Funktion innerhalb des Erzählungsaufbaus haben. Durch diese Form der Gesprächswörter werden innerhalb des Textes Markierungen geschaffen, die den Anfang einer Erzählung, ihren Abschluss oder Exkurse in Bezug auf das Hauptthema signalisieren (vgl. Gülich 1970, Quasthoff 1979, Berretta 1984, Bazzanella 1994). Für die Festlegung von Relevanz und für die Hervorhebung von bestimmten Komponenten innerhalb einer mündlichen Erzählung können u.a. intonatorische Verfahren genutzt werden (vgl. Gülich 2004).

Weitere Ansätze für die Beschreibung der Struktur von Erzählungen beziehen eine Planungskomponente ein. Van Dijk, der in diesem Sinne eine Vorreiterrolle einnimmt, setzt für Texte und somit auch für Erzählungen eine Planung voraus, die für den Sprecher semantisch fundiert, aber noch nicht linear ist. Danach besteht jeder Text aus einer Makrostruktur, die hierarchisch aufgebaut ist und sich aus Mikrostrukturen zusammensetzt. Makrostrukturen bilden zum einen den semantischen Rahmen eines Textes (van Dijk, 1972, Kintsch & van Dijk, 1978) und umfassen Propositionen, die das »Informationsskelett« des Textes bilden. Ferner konstituieren schematische Makrostrukturen die formale Struktur eines Textes (Bierwisch, 1965; van Dijk, 1995). Jeder Text stellt für van Dijk das Produkt von angewandten »Makroregeln« dar, nach denen die Konstituenten eines Textes zu einem übergeordnetem Ganzen verbunden werden. Ein Text beruht in diesem Sinne auf einer »vom Sprecher programmierten noch nicht linearen, semantisch basierten Struktur (…), die dann durch Transformationen schrittweise in eine Textoberflächenstruktur überführt wird« (Vater 2001: 67).

Nach diesem einleitenden Kapitel, in dem Erzählungen definiert und im Hinblick auf ihre Struktur beschrieben wurden, werden in den folgenden Abschnitten die Funktionen aufgezeigt, die Erzählungen innehaben.

2.4. Zur Funktion von Erzählungen

Im obigen Abschnitt wurde bereits angedeutet, dass der interdisziplinäre Zugang zu Erzählungen ihre Funktion im Sinne einer identitäts- und kohärenzstiftenden Tätigkeit sieht. Erzählungen werden von der Tatsache gekennzeichnet, dass sie von einem dominanten Erzähler wiedergegeben werden (Gülich & Hausendorf 2000), der deutlich macht, wie er in einem interaktiven Engagement die Beschaffenheit seiner referentiellen Welt zum Ausdruck bringt. So schreibt Bamberg:

The way the referential world is put together points to how tellers »want to be understood,« how they index their sense of self. (Bamberg 2009: 140)

Erzählen ist somit jene Diskursform, die »die Sinnbildungsoperation des Thematisierens (Erlebens) ist« (Gumbrecht 1980: 409). Durch das Erzählen wird der erlebten Welt ein Sinn verliehen, der in einer kohärenten Struktur1 resultiert. Die kohärente Struktur ist nicht zuletzt das Ergebnis einer Verknüpfung von Ereignissen (»temporal junction« nach Labov und Waletzky 1967: 20). Diese Verknüpfung stellt eine grundlegende sowie eine ordnende Eigenschaft von Erzählungen dar. Die identitätsstiftende Funktion von Erzählungen wird besonders aus der Perspektive der Psychologie untersucht. Die Kompetenz des Erzählens, die vom Kindesalter an erworben wird, dient zum einen dem Aufbau der eigenen Identität, zum anderen zeigt die sogenannte narrative Identität auf, welche Verbindungen zur Gesellschaft bestehen:

The stories we construct to make sense of our lives are fundamentally about our struggle to reconcile who we imagine we were, are, and might be in our heads and bodies with who we were, are and might be in the social contexts of family, community, the workplace, ethnicity, religion gender, social class, and culture (…) The self comes to terms with society through narrative identity. (McAdams 2008: 243).

Gumbrecht plädiert daher für einen anthropologisch fundierten Narrations-Begriff. Durch das Erzählen komme ein sinnbildender Prozess zustande, da

subjektive Bewusstseinsabläufe die Ergebnisse subjektiver Erfahrungsprozesse und subjektive Motive in den intersubjektiven Raum der Kommunikation holen. (Gumbrecht 1980: 408–409)

Innerhalb dieser sinnbildenden Funktion kommt das oben erwähnte Charakteristikum zum Tragen, dass Erzählungen von menschlichen oder menschenähnlichen Charakteren getragen werden. Es werden Identitäten von Handlungsträgern aufgebaut, die willentlich Aktionen ausführen und Ereignisse verursachen. Die Entwicklung von Intentionalität, die sowohl den Handlungsträgern als auch den Erzählenden zugrunde liegt, liefert die notwendige mentale Voraussetzung für das Produzieren und Verstehen von Erzählungen (McAdams 2008). Diese kognitiven Prozesse werden im folgenden Abschnitt beleuchtet.

2.5. Die kognitive Komponente beim Erzählen

Mit Blick auf eine Funktion von Erzählungen, die im obigen Abschnitt als sinnstiftend bezeichnet wurde, wird deutlich, dass Erzählungen mit Bedeutungszuweisung verknüpft sind. Durch das Erzählen werden Erlebnisse klassifizierbar, erkennbar und erinnerbar gemacht (Nünning 2012). Aus diesem Grunde sieht Herman Erzählungen als ein Werkzeug für das Denken an und bezeichnet sie als

Pattern-forming cognitive systems that organize all sequentially experienced structure, which can then be operationalized to create tools for thinking. (Herman 2003: 171)

Das grundlegende, kognitive Potential beim Erzählen ist verknüpft mit der Auswahl von Ereignissen, die in einen kausalen Zusammenhang gebracht und somit strukturiert werden (Pethes 2008). Zu den kognitiven Prozessen für die Entstehung einer Erzählung gehören nach von Stutterheim und Kohlmann (2003: 466 ff):

1 Die Bezugnahme auf dynamische Sachverhalte und deren Perspektivierung im Sinne einer Wiedergabe von einzelnen Phasen eines Geschehens oder dem Geschehen als Ganzes.

2 Die Selektion von Ereignissen aus der Wissensbasis

3 Die Schaffung eines kohärenten Musters

4 Die Linearisierung im Sinne einer Übertragung der Ereignisse auf eine lineare Struktur

Diese Prozesse resultieren in einer komplexen linguistischen Struktur, die mentale Prozesse dieser Art abbilden. Im Zusammenhang mit kognitiven Leistungen, die für das Erzählen relevant sind, stehen Intentionalität und Vorstellungskraft (untersucht von der analytischen Philosophie), Wahrnehmung und Kategorisierung (untersucht von der kognitiven Psychologie) sowie Textinterpretation (untersucht von der Linguistik) im Vordergrund. Erzählen wird dabei stets als kognitive Fähigkeit wahrgenommen, die Einblicke in die menschlichen Denkprozesse erlaubt. Die Prozesse, die der Erschaffung einer erzählten Welt (worldmaking) zugrunde liegen, sind komplex. Dies gilt besonders im Hinblick auf die Konfigurierung einer narrativen Welt, in der Bezüge zu einem WAS, WO und WANN aufgebaut werden, die miteinander verknüpft sind. Aus diesem Zusammenspiel resultiert ein ontologisches Make-up, das kognitiv fundiert ist (Herman 2009).

Die kognitive Komponente von Erzählungen, die in dieser Arbeit im Vordergrund steht, bezieht sich auf die Konzeptualisierung von Ereignissen. Im Sinne der Bildung eines »begrifflichen Entwurfs« in der konzeptuellen Makroplanung (Rickheit & al. 2002: 88, Levelt 1989), die der Produktion von Erzählungen zugrunde liegt, werden in dieser Arbeit sprachspezifische, von der Grammatik gesteuerte Präferenzen bei der Konzeptualisierung von Ereignissen beim Erzählen untersucht. Der kognitive Aspekt kommt bezüglich der Makroplanungsebene zum Tragen, auf deren Ebene relevante Entscheidungen für den Aufbau einer storyworld wirksam werden.

Fassen wir nun dieses Unterkapitel zusammen: Es wurde verdeutlicht, dass Erzählungen eine universelle Kommunikationsform darstellen, die interdisziplinär untersucht wird, da in ihr sinn-, kohärenz- und identitätsstiftende Eigenschaften zum Tragen kommen, die einen Blick in kognitive Prozesse ermöglichen. Der in diesem Zusammenhang bereits gefallene Begriff der Komplexität bezieht sich nicht nur auf die kognitiven Grundlagen bei der Produktion von Erzählungen, sondern auch auf ihre sprachliche Realisierung sowie ihre Einbettung in eine bestimmte kommunikative Situation. Die Analyse von derart komplexen Texten, wie Erzählungen sie darstellen, bedürfen eines klar definierten Instrumentariums, um Planungsprozesse und sprachliche Strukturen im Hinblick auf die Informationsorganisation beschreiben zu können.

Erzählungen werden in der vorliegenden Analyse im Sinne des Quaestio-Ansatzes, der im folgenden Kapitel ausführlich behandelt wird, als eine komplexe Antwort auf eine einleitende Frage aufgefasst. Im folgenden Kapitel wird erläutert, wie sich eine einleitende Frage auf den Aufbau der Erzählung auswirkt und wie der Quaestio-Ansatz als Analyseinstrument für das Datenkorpus nutzbar gemacht werden kann.

3. Der Quaestio-Ansatz

Der Quaestio-Ansatz (vgl. Klein & von Stutterheim 1987, 1992, 2002 sowie von Stutterheim 1997) versteht einen Text und somit auch Erzählungen als komplexe Antwort auf eine explizite oder implizite Frage (= die Quaestio) im Sinne eines Redeanlasses, der die Produktion eines Textes einleitet. Die Quaestio wird als Auslöser für den Textplanungsprozess gesehen, der auf einer globalen Planung basiert (von Stutterheim und Klein 2008).

Ein Erzähltext baut beispielsweise auf folgende Fragen auf:

Was geschah zum Zeitpunkt tn?

Was geschah zum Zeitpunkt tn +1?

Was geschah zum Zeitpunkt tn +2?

Was geschah zum Zeitpunkt tn +3?

Die Frage schafft eine Gesamtvorstellung bzw. einen Rahmen für eine Antwort, innerhalb dessen sich der Sprecher für die Beantwortung der Frage bewegt. Die Frage hat somit als Strukturierungsgröße die Funktion, unterschiedliche Komponenten der relevanten Informationen kontextgerecht zu verbinden (Klein und von Stechow 1982). Im folgenden Kapitel werden der Quaestio-Ansatz sowie seine Relevanz für die vorliegende Arbeit behandelt.

Im Kapitel 2.3. wurde bereits auf die Struktur von Erzählungen sowohl im Hinblick auf ihren prototypischen Aufbau (vgl. narrative schema nach Labov und Waletzky 1967) als auch in Bezug auf die Makrostruktur eingegangen, die nach van Dijk (1977) der Planung eines strukturierten und kohärenten Textes zugrunde liegt. Kohärenz entsteht nach van Dijk durch die Überführung von einzelnen Sätzen in eine übergeordnete Makrostruktur. Ein Text beruht somit auf einer hierarchischen Struktur, die sich aus Makro- und Mikrostrukturen zusammensetzt (van Dijk 1977).

Diese Konzeption des Textes erfasst jedoch nicht alle relevanten Eigenschaften, die in folgenden Fragen thematisiert werden (vgl. von Stutterheim & Carroll 2018):

1 Wie lässt sich das Verhältnis in Bezug auf den Textaufbau zwischen Makro- und Mikrostrukturen beschreiben?

2 Inwiefern kommen beim Aufbau einer Makrostruktur einzelsprachliche Faktoren zum Tragen?

Der Quaestio-Ansatz versucht die oben erwähnten Lücken mit folgenden Mitteln zu kompensieren:

Der Quaestio-Ansatz führt durch eine redeeinleitende Frage (die Quaestio) einen makrostrukturellen Rahmen ein, innerhalb dessen sich Äusserungssequenzen einer Antwort auf eine gegebene Frage zu einem kohärenten Text zusammensetzen.

In other words, the quaestio introduces a macro structural frame which provides sufficient criteria for the speaker to construct information at the micro-level in accordance with requirements for coherence at a global level. (von Stutterheim & Carroll 2018)

Dieser Ansatz, der für die vorliegende Arbeit als Analysewerkzeug für die Untersuchung von Erzähltexten genutzt wird, bietet aus folgenden Gründen ein geeignetes Analyseinstrument für die zentralen Fragestellungen dieser Arbeit:

 

1 Der Quaestio-Ansatz leistet einen fundamentalen Beitrag zur Integration der makro- und mikrostrukturellen Ebene eines Textes, da sowohl die globale Organisation von Texten (vgl. Unterscheidung Vordergrund und Hintergrund oder Episodengliederung) sowie ihre mikrostrukturelle Umsetzung auf Äusserungsebene (anaphorische Mittel, Wortstellung, Thema-Rhema-Gliederung) berücksichtigt wird (Klein und von Stutterheim 1992, 2002). Der Ansatz liefert in diesem Sinne Einblicke in die Art und Weise, wie Informationen in den hier zugrundeliegenden Erzähltexten organisiert werden. Er verdeutlicht die Prinzipien, nach denen der Sprecher Informationen selegiert und strukturiert, um einen kohärenten Text zu produzieren. Die Quaestio stellt folglich einen Zusammenhang zwischen der Gesamtstruktur des Textes und der Informationsorganisation einzelner Äusserungen her (Klein & von Stutterheim 1992).

2 Aufgrund des Zusammenhangs, der zwischen der globalen und lokalen Ebene der Textplanung hergestellt wird, stellt der Quaestio-Ansatz somit ein Instrument dar, um informationsstrukturelle Organisationsmuster nicht nur auf Satzebene, sondern auch auf Textebene herausarbeiten zu können (was in Bezug auf informationsstrukturelle Studien noch kaum durchgeführt wird, Lambrecht 1994).

3 Als Ansatz, der sich an der Schnittstelle zwischen psycho- und textlinguistischen Fragestellungen platziert, wird die Komplexität des Textplanungsprozesses ausgehend vom Sprecher betrachtet, bei dem die syntaktischen, semantischen und pragmatischen »Fäden« für die Planung von Texten zusammenlaufen. Der Text wird in diesem Sinne als Ergebnis eines dynamischen Prozesses und nicht als statisches Produkt angesehen (Klein & von Stutterheim 1992). Der Sprecher trifft dabei Entscheidungen, die Einblicke in makrostrukturelle Planungsprinzipien ermöglichen.

Der zentrale Ausgangspunkt für die Erfassung des Quaestio-Ansatzes beruht auf der strukturierenden Kraft, die einer redeeinleitenden Frage innewohnt. Durch eine Frage, sei sie explizit wie »Wie sieht eigentlich Euer neues Haus aus?« oder nur gedacht bzw. implizit, werden Beschränkungen für die Antwort auferlegt.

Die Quaestio wirkt sich auf die folgenden textkonstituierenden Prozesse aus (von Stutterheim & Carroll 2018):

1 Selektion von Informationen, die in der Antwort verbalisiert werden.

2 Die Muster für die Kohärenzbildung und die Ereignisverknüpfung bzw. Linkage (von Klein und von Stutterheim als referentielle Bewegung bezeichnet).

3 Die Informationsstruktur (Topik-Fokus-Organisation, vgl. Kapitel 3.3. für eine Diskussion der Begrifflichkeiten Topik und Fokus).

Die Wahl der sprachlichen Mittel seitens des Sprechers, um innerhalb des gegebenen makrostrukturellen Rahmens seine Antwort zu spezifizieren, wird von Vorgaben beeinflusst, die als inhaltliche und strukturelle Vorgaben bezeichnet werden (von Stutterheim 1997, Klein und von Stutterheim 1992, 2002).