Morgarten

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Rückblende: Geschichtsgebrauch vor 1800

Die 500-Jahr-Gedenkfeier war nicht der erste Anlass, der sich auf die Schlacht am Morgarten berief. Seit dem 16. Jahrhundert sind Schlachtjahrzeiten belegt. In der älteren Literatur wird angenommen, dass die Schlachtjahrzeiten wenige Jahre nach den kriegerischen Ereignissen erstmals durchgeführt worden seien und sich seither unverändert erhalten hätten.233 Meist wird auch davon ausgegangen, dass es sich bei den Schlachtjahrzeiten um typisches eidgenössisches und vor allem innerschweizerisches «Brauchtum» handle.234 Der Historiker Rainer Hugener führte diese Lehrmeinungen wesentlich auf den Einfluss der 1940 erschienenen Quellensammlung Das Schlachtjahrzeit der Eidgenossen nach den innerschweizerischen Jahrzeitbüchern des Klosterarchivars von Einsiedeln Rudolf Henggeler (1890–1971) zurück.235 So wie der Titel von «Das Schlachtjahrzeit» in Singular spricht, verstand Henggeler die Schlachtjahrzeit als singuläres, immer gleich bleibendes, religiöses «Volksbrauchtum». Schlachtjahrzeiten wurden jedoch im Spätmittelalter von benennbaren Akteuren aus bestimmten Anlässen und Absichten eingeführt. Die Obrigkeiten des Spätmittelalters hätten, so Rainer Hugener, die Schlachtjahrzeiten – «liturgische Feiern zum Andenken an bestimmte kriegerische Auseinandersetzungen»236 – angeordnet, um Niederlagen der spätmittelalterlichen Gegenwart zu bewältigen. Zum Beispiel sei das Gedenken an die Schlacht bei Sempach zuerst als Dankfeier für den Sieg gestaltet worden; den Gefallenen gedachte man erst nach der Niederlage von Arbedo 1422.237

Seit wann wurde der Gefallenen von Morgarten gedacht? In den frühesten Jahrzeitbüchern der Innerschweiz wurde die Schlacht nicht erwähnt, die Namen der Gefallenen waren folglich auch nicht überliefert.238 Eine entscheidende Rolle für das Schlachtjahrzeit von Morgarten spielte der Berner Chronist Konrad Justinger.239 Justinger verfasste ab 1420 im Auftrag der Berner Obrigkeit eine Chronik der Geschichte der Stadt Bern von deren Gründung bis in die Gegenwart des frühen 15. Jahrhunderts. In dem später Berner-Chronik genannten Werk brachte Justinger die Schlacht am Morgarten mit der Gründung der Eidgenossenschaft in Verbindung und etablierte einen Kanon der siegreichen eidgenössischen Schlachten, der mit Morgarten beginnt.240 Zudem zog Justinger Parallelen zwischen der Schlacht am Morgarten und zeitgenössischen Berner Kämpfen gegen die Habsburger. Weshalb gab Justinger Morgarten ein grosses Gewicht in seinem Geschichtsbild? Die Berner Regierung wünschte sich vermutlich auch deshalb eine Stadtgeschichte, um Berns Eroberung des Aargaus, seine antihabsburgische Politik und seine aktuelle Bündnispolitik zu legitimieren und zu bestärken.241 Morgarten 1315 und Aargau 1415 hätten mit der Chronik Justingers im Gedenkjahr 2015 als Zusammenhänge gedacht werden können.

Justingers Chronik diente dem Luzerner Melchior Russ als Vorlage für seine 1482–1488 verfasste Luzerner Chronik.242 Russ schrieb grössere Textteile aus Justingers Berner-Chronik ab. Unter anderem übernahm er Justingers Schlachtenkanon, nach dem Morgarten die erste in einem Kanon von «Freiheitsschlachten» gewesen sei, welche die Eidgenossenschaft begründeten.243 Das Urner Jahrzeitbuch aus den 1480/1490er-Jahren wiederum übernahm die Darstellung Morgartens von Justinger/Russ und nannte erstmals Namen von Gefallenen. Hugener zeigt, dass die Urner Verfasser des Jahrzeitbuchs tatsächlich aus Urkunden aus dem frühen 14. Jahrhundert «alt» wirkende Namen auswählten und dass einige der Namensträger auch nach 1315 noch am Leben waren. Als man die Namen der angeblichen Gefallenen niederschrieb, war man einerseits um eine Art historischer Authentizität besorgt, andererseits berücksichtigte man aktuelle Interessen. So bemühten sich herrschende Urner Familien wie die Beroldingen darum, einen ihrer Vorfahren in der Gefallenenliste unterzubringen, weil eine Beteiligung am ersten Freiheitskrieg als symbolisches Kapital der Nachfahren galt, wie Hugener argumentiert.244

Derselbe Vorgang wiederholte sich nach 1521 in Schwyz, wo etwa die Familie Schorno im Jahrzeitbuch festhalten liess, dass einer ihrer Vorfahren im hohen Alter bei der Schlacht am Morgarten geblendet worden sei.245 Die Erzählung des alten Mannes, der geblendet wird, ist ein bekanntes Motiv zur Darstellung der Grausamkeit und Willkür tyrannischer und illegitimer Herrscher und aus der Geschichte des Vaters von Arnold von Melchtal bekannt.246 Auch die Zuger liessen in den 1470er-Jahren – der Kontext war laut Hugener die Niederlage in der Schlacht von Arbedo – ein neues Jahrzeitbuch schreiben, worin Morgarten an erster Stelle aufgeführt ist. Verwandte Gefallene erwähnten sie aber nicht, weil diese auf der «falschen» Seite gefallen wären und nicht zur neuen Bündnispolitik passten. Die führenden Innerschweizer Familien zogen also Geschichte heran, um die aktuelle politische Ordnung und ihre Stellung darin zu rechtfertigen und somit zu festigen. Hugener nennt diese Form des um 1500 gängigen Geschichtsgebrauchs «Verlängerung der Vergangenheit»: Die eigene Geschichte werde «entlang einer fast kanonischen Reihe von Schlachten» imaginiert.247

1521 beschloss der Rat von Schwyz, der Schlacht am Morgarten am 11. November zu gedenken. Im Jahrzeitbuch waren im Jahr des Beschlusses noch keine Gefallenennamen von Morgarten enthalten, diese wurden erst später eingefügt. Laut Hugener war der Auslöser für diese Renaissance von Morgarten die Schlacht von Marignano 1515, bei der Tausende eidgenössische Söldner ums Leben kamen. Das Gedenken an die siegreiche Schlacht von 1315 sollte helfen, die Verluste und die Niederlage von Marignano zu verarbeiten.248

Die 1521 eingerichtete Schwyzer Schlachtjahrzeit konnte sich jedoch nicht etablieren, weil die Obrigkeit die Feier zwar verordnet, aber ihre Finanzierung nicht geregelt hatte.249 Die eidgenössischen Schlachtengedenkfeiern wurden vom Spätmittelalter bis zur Helvetik mehrmals an zeitgenössische Kontexte angepasst und entsprechend verändert.250 In den 1820er-Jahren, nach dem Ende der Helvetischen Republik, wurden die Schlachtjahrzeiten wiederbelebt und auf eine neue Art gefeiert. Dabei wurde an die Gedenktradition des Spätmittelalters angeknüpft, die religiösen Inhalte jedoch zu patriotischen Reden oder, nach Georg Kreis, zu Festen zivilreligiöser Art umgedeutet, in denen weniger der Toten als der siegreichen Tat gedacht wurde.251 Neben dem lokalen Publikum richteten sich die Gedenkfeiern des 19. Jahrhunderts auch an einen überregionalen, teilweise nationalen Einzugskreis von Zuschauern. Die Funktion dieser neuartigen Gedenkfeiern war es, das Nationalbewusstsein zu fördern.252

Die Schlachtjahrzeiten fanden bis in die 1940er-Jahre in der Pfarrkirche von Sattel statt, die angeblich auf eine Stiftung der Schwyzer im Gedenken an Morgarten gebaut worden sei.253 1940 verlegte man die Gedenkfeier neu zur Kapelle in der Schornen, der sogenannten Schlachtkapelle. Zur Geschichte dieser Kapelle gibt es nur lückenhafte Angaben. Laut Annina Michel wurde sie 1603 «neu gebaut», man hielt aber in einer Urkunde fest, dass es eine Vorgängerkapelle seit 1501 gegeben habe.254 Dies würde Hugeners These von einer Renaissance des Schlachtgedenkens nach Marignano 1515 widersprechen. In der Literatur wird aber nirgends erwähnt, ab wann die Kapelle «Schlachtkapelle» genannt und mit Fresken zur Schlacht versehen wurde – sie ist zugleich auch eine Jakobskapelle am Pilgerweg. Gonzague de Reynold behauptet, die Kapelle sei 1520 mit einem entsprechenden Wandbild bemalt worden, ohne die Quellen für diese Jahreszahl anzugeben.255

Fazit

1795 erschien Carl Julius Langes Buch Über die Schweiz und die Schweizer, in welchem Lange eine Parodie auf den Reisediskurs über die Schweiz und die Reiseliteratur unter dem Titel Über die Kunst Schweizerreisen zu schreiben. Ein Fragment in Gesprächen einfügte. Im Dialog zwischen den zwei Personen A (Alp) und G (Gletscher) erklärt A (Alp) die «unwiderstehliche Kraft des Wörtchens da», auf die es in einer «Schweizerreise» als malerischem Text ankomme: «A (Alp): Ich meyne das kräftige Wörtchen da, das die Gegenstände so anschaulich verwirklicht.»256 Der historische Ort bietet, so suggeriert der Ratschlag, die Möglichkeit, rhetorisch über die Anschauung Wirklichkeiten zu schaffen. Lange parodierte in seinem Buch die malerische Schwärmerei jedoch als Rezept für erfolgreiche und nichtssagende Reiseberichte. Mit welchen Motiven, in Bezug auf welches historische Material und mit welchen Inszenierungen verbanden die Reiseliteraten den Besuch einer historischen Stätte?

Historische Stätten wurden um 1800 als «klassische Stellen» verstanden. Die Autoren führten meistens die Schlachtkapelle oder die Landschaft für die Verortung an. Diese Anhaltspunkte wurden auch als historisches Material im Sinne einer Ruine wahrgenommen. Die Reisenden und Verfechter des Reisens um 1800 verstanden den Besuch historischer Stätten als ein patriotisches oder auch national-pädagogisches Verhalten. Sie berichteten emphatisch von patriotischen Gefühlen, die sie vor Ort empfunden hatten. So gab die Reiseliteratur eine neue Art vor, wie patriotische Gefühle performativ ausgedrückt werden konnten: Formulierungen wie «Hier wars» oder «Hier wo ich jetzt stehe» tauchen immer wieder auf. Das Interesse der Reisenden an der Geschichte und ihren Stätten beeinflusste auch das Geschichtsbild der Schweiz. Dabei sorgte es im Falle von Morgarten für eine verstärkte nationale Lesart der Schlacht, die Reiseliteratur nutzte aber die Geschichte auch auf eine «globalisierte» Weise für eine internationale Leserschaft.257

 

Zeugen der Geschichte können sowohl die Stätte, deren Besucher, Bauten, die Landschaft oder historisches Material sein. Diese beliebig scheinende Zuschreibung erfüllt vermutlich die Funktion des Beglaubigens – es ist aber nicht klar, was diese Objekte bezeugen sollen. Den richtigen Ort, die wahre Geschichte oder das emphatische Verhältnis zwischen den romantischen Besuchern und dem Ort oder der Geschichte?

Vaterländische Bildungsreisen oder patriotische Wallfahrten waren idealerweise Wanderungen in einer Landschaft, die so etwas wie eine typisch nationale Landschaft darstellt – in der Schweiz etwa die Alpen. Die historischen Stätten wurden als besonders wirkmächtige Orte innerhalb einer Landschaft verstanden. Orvar Löfgren behauptet, dass der Wunsch des 18. Jahrhunderts nach dem Pittoresken und Sublimen die Fähigkeit des «historical daydreaming» entwickelt habe.258 Das historische Tagträumen werde möglich, indem Landschaft und Geschichte machtvoll verbunden würden: Hier, wo wir jetzt stehen, sind unsere Vorväter vor uns gestanden. Dies sei der magische Ort, um mit der nationalen Vergangenheit in Berührung zu treten.259 Doch wie wird diese Verbindung zwischen Landschaft und Geschichte hergestellt?

Um nochmals deutlich zu machen, dass der Blick auf die Gegend und ihre Geschichte unter anderem von und für Reisende geschrieben wurde, dient ein Beispiel aus der ausgehenden Frühzeit des Tourismus. Der aus Lyon stammende Genfer Kaufmann Louis Simond schrieb 1822 in seinem Buch Voyage en Suisse fait dans les années 1817, 1818 et 1819 über seinen Besuch des Rütlis und der Tellkapelle Folgendes: «Le lac, le roc, la chapelle bâtie sous les yeux de cent quatorze contemporains du héros, enfin la tradition existante dans le pays, ont tout à coup donné à Guillaume Tell la realité qui lui manquait.»260 Der See, der Fels, das im Angesicht von Zeitzeugen Tells gebaute Baudenkmal und die «Tradition» des Gedenkens hätten Wilhelm Tell auf einen Schlag die Realität verliehen, die ihm gefehlt hatte. Der konkrete Ort verleiht der Erzählung eine eigentümliche Konkretheit.

Simonds Voyage zeigt auch einen Wandel der Reiseführer in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts: Die historischen Ausführungen werden ausgelagert, entweder in separate Geschichtswerke oder, wie es Simond macht, in einen zweiten Band.261 Diese Auslagerung ermöglicht einen Gegentrend zu den knapper werdenden Einzeleinträgen in Reisehandbüchern wie dem Baedeker und sind zugleich Ausdruck eines grossen Interesses für Schweizer Geschichte – in Simonds Fall in der Westschweiz und sogar in Frankreich, dem Land der gerade wieder abgereisten Besetzer. Der Schriftsteller Karl Viktor von Bonstetten schrieb am 26. Juni 1822 an Heinrich Zschokke, man lese in Frankreich und auch in Genf «Simonds Reise durch die historischen Gefilde der Schweiz […] wie eine Geschichte des Monds».262

Mit der einsetzenden Industrialisierung des Tourismus ab 1830 werden die historischen Stätten mit Denkmälern und mit einer touristischen Infrastruktur versehen. Die anhaltend hohe Zahl an Besuchern bewirkt den Bau von Dienstleistungsangeboten, die sich spezifisch an – nun darf man das Wort brauchen – Touristen richten. Weil das Ägerital nicht an den grossen Reiserouten liegt, kommt dieser Prozess erst in den 1880er-Jahren in Gang.

Gasthaus Morgarten, 1880–1908

Die Herstellung des Orts Morgarten
Fremdenindustrie

Zwischen 1830 und der Jahrhundertwende wurde in der Schweiz eine dichte touristische Infrastruktur, ein «technisch-geschäftlicher Apparat»263 für Reisende und Ausflügler gebaut. Neue Eisenbahnlinien und Dampfschiffkurse, verbesserte Strassen, neue Hotels, Reiseagenturen und Reiseführer beschleunigten, vereinfachten und verbilligten ab Mitte des 19. Jahrhunderts das Reisen.264 1882 wurde die Gotthardstrecke eröffnet und 1891 die Südostbahn, die über die Hochebene von Sattel führte. Regionale Reiseführer, wie der Illustrierte Führer Zug (1884) von Fernando Kaiser, verfestigten Standards. Tourismusakteure gründeten auch in kleinen Orten wie Unterägeri Verkehrs- oder Verschönerungsvereine, gaben Werbebroschüren und Fremdenblätter heraus und investierten in neue Attraktionen. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts wurden die Ideen des Reisens und der Freizeit populär und ab 1890 beteiligten sich auch die wenig begüterten Gesellschaftsschichten daran.265 Laurent Tissot bezeichnet die Phase der Schweizer Tourismusgeschichte ab 1830 als Ausweitung des Tourismus und setzt um 1880 dessen Glanzzeit an, die mit dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs endet.266 In der Ausweitungs- oder Erschliessungsphase entwickelte sich der Tourismus zu einer eigentlichen Industrie, im damaligen Sprachgebrauch wurde er auch so bezeichnet: als «Fremdenindustrie».

Gleichzeitig erlebte die Geschichte der Schlacht am Morgarten in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts eine Phase der Popularität im politischen Geschichtsgebrauch. Laut Roger Sablonier stand Morgarten, wie die Befreiungsgeschichte überhaupt, während der nationalen Einigungszeit für den gemeinsamen Ursprung im Mittelalter.267 Das Geschichtsbild von Morgarten sei aber erst in den Jahrzehnten nach 1891 erfolgreich in den Kanon eidgenössischer und nationaler Geschichte integriert worden. Zuvor sei Morgarten eine «regionale, altschwyzerische Tradition»268 gewesen, die in der nationalen Geschichtskultur keine grosse Rolle gespielt habe. Zu einer ausgeprägten Militarisierung sei nun eine Nationalisierung des Gedenkens an Morgarten vor Ort gekommen. Wie beeinflussten diese postulierten Veränderungsprozesse den touristischen Geschichtsgebrauch? Wie gingen die verschiedenen Formen der Geschichtsnutzung – nationalpolitisch, militärisch, touristisch und lokalpolitisch – nebeneinander her, wann harmonierten sie und wann entstanden Konflikte?

Ein Beispiel dafür, wie ein Tourismusakteur in diesem Zeitraum mittelalterliche Geschichte und Tourismus miteinander verknüpfte, sind die Aktivitäten des Kantonsschreibers, Zeitungsredaktors, Verlegers und Politikers Ambros Eberle (1820–1883).269 Eberle war Mitgründer und -besitzer des 1869 erbauten Hotels Axenstein bei Morschach, das international bekannt war. Laut dem Historischen Lexikon der Schweiz hatte Eberle die Morgartenfeier von 1865 ins Leben gerufen und die Idee lanciert, den Mythenstein im Vierwaldstättersee in einen Gedenkstein für Friedrich Schiller umzuwandeln.270 Der 100. Geburtstag Schillers diente ihm 1859 als Anlass, diese Idee umzusetzen. Eberles Hotelpalast war für eine wohlhabende Oberschicht gebaut worden, für die Eberle die Lage am «anerkannt schönsten Punkte am Vierwaldstättersee» in einem Prospekt von 1875 umschrieb: Sie sei «in der Mitte der grossartigen Natur und der historisch-klassischen Stätten der Urschweiz (Rütli, Tellsplatte, Mythenstein, Brunnen)».271 Den Begriff klassische Stätten versah er noch mit den zwei Zusätzen «historisch» und «Urschweiz», um die Referenz auf die Geschichte und deren Bedeutung zu verstärken.

Kinderkur und Dampfschiff

Wie wurde der Ort Morgarten vom Tourismus beeinflusst und genutzt? Die Tourismusgeschichte von Ägeri liest sich wie eine Erfolgsgeschichte: Der junge Arzt Josef Hürlimann aus Unterägeri kurierte im Jahr 1876 einen schweren Erschöpfungszustand in Baden und auf der Rigi. Dabei beobachtete er, wie kurende Kinder die übrigen erholungsbedürftigen Gäste störten. Hürlimann erkannte, dass die Kinder ein brachliegendes Kundenpotential darstellten, dem der Kurbetrieb bisher nicht Rechnung trug. Fünf Jahre später setzte Hürlimann die Idee, eine eigens eingerichtete «Kinderheilstätte» einzurichten, in Unterägeri um. Im Mai 1881 eröffnete er zusammen mit seiner Frau Sophie Hürlimann die Kinderkuranstalt Hürlimann, in der geschwächte, von Hürlimann als «anämisch» beschriebene Stadtkinder durch Licht, Luft, Bewegung, Spiel, gesunde Kost sowie Lebertran wieder zu Kräften kamen.272

Innert weniger Jahre wurden im Ägerital weitere Kindersanatorien, Kinderheilstätten, ein Töchtersanatorium und auch Kinderheime gebaut. Die jungen Kurgäste blieben im Durchschnitt drei bis vier Monate. Mit dem guten Ruf der Kinderkuranstalten kamen zunehmend auch gesunde Kinder als Ferienkinder ins Ägerital. Die meisten stammten aus Zürich und Basel, mit den Jahren gesellten sich Kinder aus ganz Europa, Nord- und Südamerika, Australien und aus dem Fernen und Nahen Osten dazu.273 Für tuberkulöse und rachitische Kinder wurde 1885 mit Spendengeldern die «Zürcherische Heilstätte bei Ägeri für scrophulöse und rhachititsche Kinder von Zürich und Umgebung» gebaut. Der Initiant Heinrich Kerez, Arzt an der Zürcher Poliklinik, begründete die Wahl Ägeris mit «der reichlichen, subalpinen Vegetation von würziger, ozonreicher, absolut staubfreier Luft»274 – eine Werbeformel, die man auch in zeitgenössischen Werbeschriften findet.275

1884 gründete Josef Hürlimann mit neun Mitstreitern den Kur- und Verkehrsverein Unterägeri, «bezweckend Einführung des Fremdenverkehrs in Unterägeri».276 In der ersten Werbebroschüre, die der Kurverein ungefähr Ende der 1880er-Jahre herausgab, warb er mit dem Slogan «Kinderparadies» und versprach: «Unterägeri ist ein Ferienidyll auch für Erwachsene.»277 Um diesen Anspruch zu erfüllen, benötigte das Ägerital weitere Attraktionen und Ausflugsmöglichkeiten. In den ersten Jahren seines Bestehens kaufte der Kurverein Bauplätze und Wegrechte, liess einen Panoramaweg bauen, engagierte sich für eine neue Strasse auf den Zugerberg und gründete 1890 die Dampfbootgesellschaft für den Ägerisee.278



Abb. 14a/b: 1923 fotografierte der Posthalter von Alosen, Eduard Rogenmoser, das auf dem Trockenen liegende Dampfboot «Morgarten II», welches die «Morgarten I» ersetzte.279 Von 1923 an sanken die Benutzerzahlen. Fünf Jahre später wurde die Schifffahrt auf dem Ägerisee privatisiert, die Schiffe hiessen «Basilea», «Josy», «Annemarie», «Morgarten III», «Ägeri» und «Victory». 1928 wurden die Schifffahrtsgesellschaft Ägerisee liquidiert und die «Morgarten II» an den Thunersee verkauft.280

14 Pferde schleppten im August 1890 das Dampfboot «Morgarten I» von der Werft Escher-Wyss in Zürich an den Ägerisee, wo es an Maria Himmelfahrt mit einem Volksfest empfangen wurde. Drei Transparente des Malers Meinrad Iten bildeten die Festdekoration und zeigten einen fischenden Pfahlbauer – inspiriert vom aktuellen Interesse für die Vorfahren der Urzeit und die jüngsten Funde am Ägerisee –, einen fröhlichen Touristen, der aufs Dampfboot wartete, und ein Schweizerkreuz mit Sternenkranz und dem Spruch «Heil dem Fortschritt».281 Herkunftsgeschichte, Tourismus und national aufgeladener Fortschrittsoptimismus standen der Verkehrserschliessung Pate.

Von Böllerschüssen begleitet fuhr das Dampfboot auf seiner Jungfernfahrt geladene Gäste von Unterägeri nach Morgarten. Die Neue Zuger Zeitung berichtete: «Hier, unter freiem Himmel, auf dem klassischen Boden, wo die Eidgenossen zum ersten Mal für die Freiheit ihr Blut verspritzten», 282 habe der Unterägerer Pfarrer Alois Staub vor den Schiffsgästen eine begeisternde Rede gehalten. Das seiner Form wegen «Halbschueh» genannte Boot mit 40 Plätzen transportierte in den ersten Betriebsjahren fünf Mal täglich Touristen von Unterägeri via Oberägeri, Ländli und Eierhals nach Morgarten.283

Die «Morgarten I» sank zweimal, 1896 wegen eines Föhnsturms und 1911 wegen Schneefall, der Kessel explodierte (1905), das Steuerruder brach (1912) und einmal sprang eine vom Schiffspfiff erschreckte Kuh über Bord. Bundesrat Philipp Etter will als Knabe vom Heizer angebrüllt worden sein, er bringe «die Galeere» ins Wanken.284 1897 wurde die «Morgarten I» auf einen Benzinmotor umgerüstet und sieben Jahre später wieder auf den zuverlässigeren Dampfantrieb zurück.285 Das Dampfschiff rentierte aber nicht und musste bald mit öffentlichen Geldern unterstützt werden. Der Preis einer Fahrt blieb für viele unerschwinglich hoch: 1896 kostete die Fahrt von Unterägeri nach Morgarten 40 Rappen, was zwei Stundenlöhnen eines Spinnereiarbeiters entsprach.286

 

Die Geschichte des Dampfboots ist nicht nur eine amüsante Anekdote von Visionen, Pannen und Konkursen, wie sie die Tourismusgeschichte mit Vorliebe erzählt. Die Gründung von Dampfbootgesellschaften stand an vielen Schweizer Seen am Beginn einer touristischen Entwicklung. Bootsfahrten gehörten in der Ausweitungsphase des Tourismus zu den schnellsten Reisemitteln und beliebtesten Freizeitvergnügen für Touristen und Einheimische.287 Die «Morgarten I» stellte im zeitgenössischen Schiffbau noch eine sehr bescheidene Variante dar. Die Geschichte dieses Dampfboots zeigt aber auch, dass das Stichwort «Morgarten» bereits zu Beginn der touristischen Erschliessung Ägeris als Marke eingesetzt wurde. Auch Wirtshäuser und Herbergen benannte man gerne nach der Schlacht: 1904 boten vier Gasthäuser mit diesem Namen zwischen der Landestelle Morgarten und der Schlachtkapelle ihre Gaststuben an, zwei auf Zuger, zwei auf Schwyzer Seite.

Neue Verkehrsmittel waren auch bei der Bevölkerung, etwa Arbeitern der Spinnerei Unterägeri, gefragt.288 Ab 1904 verkehrte ein Autobus der Marke Orion mit zwölf Sitzplätzen zwischen Zug und Ägeri, ab 1913 eine elektrische Strassenbahn, das sogenannte Ägeritram, welches über die 1907–1910 errichtete Lorzentobelbrücke fuhr.289 Zahlenmässig lässt sich rückblickend nicht aufschlüsseln, wie gross der Anteil der Freizeitnutzung am Schiffs- und Strassenverkehr war. Renato Morosoli spricht von 100 Passagieren, die in den ersten Betriebsjahren das Dampfboot pro Tag benutzten.290 An Sonntagen um die Jahrhundertwende fuhr sowohl auf dem Ägerisee als auch auf der Strasse ein Kurs mehr als an Werktagen.291

Auch die Strassen wurden im Hinblick auf touristische Nutzer propagiert und gestaltet. Ende des 19. Jahrhunderts spielte in den Strassenbaudiskussionen im Ägerital das Argument einer schönen, aussichtsreichen Strasse eine wichtige Rolle.292 Einzelne Gasthäuser boten in den 1890er-Jahren eigene Fahrgelegenheiten nach Sattel und Schwyz oder nach Ägeri an, andere warben mit Stallungen und Autogaragen. Autos fuhren ab 1904 durchs Ägerital. 1906 warb das Fremdenblatt Zug bereits mit «delightful automobile runs»293 nach Baar, Menzingen und Ägeri. Im selben Jahr schlug das Zuger Fremdenblatt unter den eintägigen Ausflügen folgende Strecke vor: «Zu Fuss oder per Fuhrwerk nach Unterägeri, Oberägeri, per Schiff nach Morgarten, per Fuhrwerk oder zu Fuss nach Sattel, per Bahn nach Arth-Goldau, per Schiff nach Zug oder umgekehrt.»294 Die Kombination unterschiedlicher Fortbewegungsmittel scheint dieser touristischen Rundtour nicht abträglich gewesen zu sein.


Abb. 15: Im Illustrierten Führer Zug, den Fernando Kaiser 1885 publizierte, wurde das Ägerital als «Kurort für Brustkranke, Nervenleidende und Blutarme» angepriesen. Hervorgehoben wurden das milde Klima, die Ruhe sowie ein «Reichthum an Naturschönheiten und geschichtlichen Erinnerungen».295

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