Morgarten

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Bildtopos Morgarten?

Was macht nun den «Bildtopos» von Morgarten aus? Gemeinsame Motive der drei Chronikbilder sind: der See im Vordergrund mit Rittern und Pferden darin, ertrinkend oder fliehend (ein Sinnbild für den fallenden Hochmut); die Kampfhandlungen im Hintergrund auf einer Wiese mit Bäumen; die Lanzen sowie die Kennzeichnung einer Gruppe mit Kreuzen auf der Kleidung. Tschachtlan und Schilling verbinden die zugeordneten Fahnen, die roten Federn, Herzog Leopold und Narr Kuoni. Schilling und Stumpf haben das Motiv des Steinwerfens gemeinsam. Jeweils für ein Werk einzigartige Motive sind unter anderem die Burg (Schilling), der Turm (Stumpf) oder der fliehende Ritter (Stumpf).

Vergleicht man nun die Radierungen von 1800 mit diesen spätmittelalterlichen Chronikbildern, fällt auf, dass es keine vorherrschenden motivischen und gestalterischen Verbindungen gibt. Midarts Radierung knüpft zwar an die Bilderchroniken an, die Darstellung ist aber etwas verallgemeinert – kein Narr, keine Kreuze, keine Federn tauchen auf. Hauptmotive sind die Steinlawine und die ertrinkenden Ritter im See. Vermutlich waren die zwei ungedruckten Bilderchroniken um 1800 einem breiteren Publikum gar nicht bekannt, sondern wurden erst im frühen 20. Jahrhundert populär. Einzig Midart könnte sie als Mitglied des bischöflichen Hofs gekannt haben.


Abb. 12: Der Holzschnitt zur Schlacht am Morgarten in Johannes Stumpfs Chronik von 1547/48 wurde später als Einzelblatt vervielfältigt, mit Aquarellfarben koloriert und als Wandschmuck verkauft.181

Es waren andere Bildmedien, die den Bildtopos der Schlacht am Morgarten formten. Einem grösseren Publikum bekannt wurde ein Bildtopos zur Schlacht am Morgarten mit Druckgrafiken Ende des 16. Jahrhunderts, die Morgarten oft zusammen mit anderen Schlachten abbildeten.182 Im 16. und 17. Jahrhundert wurden zudem, teils in privatem Auftrag, Glasscheiben mit Darstellungen der Schlacht am Morgarten bemalt.183 Winterthurer Ofenmaler verwendeten im 17. Jahrhundert aus unbekannten Gründen gerne das Bildmotiv der Schlacht am Morgarten – drei Beispiele zeigen einen Nahkampf mit Speer und Schwert zwischen Fusskämpfern und Rittern vor steilen Felswänden.184 Laut Tomaschett komponierten die Ofenmaler vermutlich verschiedene druckgrafische Vorlagen zusammen. Ebenfalls im 17. Jahrhundert erschienen Druckgrafiken der Schlacht auf Neujahrsblättern.185

Von den Druckgrafiken, Scheiben und Ofenkacheln wanderte das Bild der Schlacht am Morgarten Ende des 17. Jahrhunderts auf die Aussenwände von Gebäuden. Die älteste erhaltene Monumentaldarstellung malte der Urner Zeugherr Karl Leonz Püntener 1719 für die Tellskapelle in Sisikon – ein Ausflugsziel.186 Die Stein- und Baumstammlawine wurde im 18. Jahrhundert allmählich zu einem festen Bestandteil des Bildtopos. Zu Beginn des Jahrhunderts tauchten zwei eher selten aufgegriffene Bildtopoi auf, die sich auf Chroniktexte stützen: die Rückkehr Leopolds nach Winterthur (1808) und der Pfeil des Hünenbergers (1809). Ende des 18. Jahrhunderts traten zwei weitere Topoi in Erscheinung: das Gebet vor der Schlacht (1786) und der Rat des alten Reding vor der Schlacht (1792). Im frühen 19. Jahrhundert wurde erstmals die siegreiche Heimkehr der Schwyzer (1809–1815), wie sie Tschudi beschrieben hatte, auf Leinwand gemalt – ein Topos, der im 19. Jahrhundert starke Verbreitung fand.187 Der Bildtopos zur Schlacht am Morgarten befand sich also um 1800 am Beginn seiner Verbreitung, Standardisierung und Auffächerung in mehrere Motive.

Rückblick: Die klassische Stelle Morgarten in Text und Bild, 1800

Die «klassische Stelle» Morgarten wurde bis 1830 nicht nur als Ort eines konkreten historischen Geschehens mit patriotischer Aufladung besucht, sondern auch als Idee – jener der «Freiheit», verstanden im Sinne des Freiheitsbegriffs um 1800, der in einer Ursprungserzählung in die mittelalterliche Geschichte um 1300 zurückprojiziert wurde. Das Motiv der Freiheitsschlacht ist bei Zschokke als «immaterieller Erinnerungsort» präsenter als die klassische Stelle selbst.188 Die romantischen Geschichtsinszenierungen werden durch die Historienmalereien an der Kapelle unterstützt, die vor Ort die gängigen Imaginationen des historischen Geschehens sichtbar machen.

Historisches Material im Sinne mittelalterlicher Überreste waren für eine klassische Stelle nicht notwendig, unverzichtbar war hingegen ein Narrativ. Homi K. Bhabha schrieb 1990 in Nation and Narration, dass die Nation eine Vorstellung sei, die in ihrem Konstruktionsprozess einer Erzählung (Narration) gleiche.189 Die Reiseerzählungen des 18. Jahrhunderts, so lässt sich daran anknüpfen, sind Imaginationen, die das nationale Selbstbild in einem Narrativ konstruieren, dabei performativ von der Nation sprechen und diese auch lokalisieren. In der Helvetischen Republik griffen die Propagandisten des neuen Bundesstaats die narrativen Idealbilder der Schweiz und der Schweizer aus der Reiseliteratur auf und verwendeten sie als nationaltypische Integrationsbilder. Historische Narrative waren zentral für den Prozess der Nationalstaatsbildung und wurden bereits durch die Reiseliteratur popularisiert, die entsprechende Motive aus populären Geschichtsdarstellungen, etwa von Tschudi und von Müller, übernahmen. Reiseschriftsteller erzählten diese mit einer performativen Rhetorik weiter: «Hier, wo ich jetzt stehe, haben unsere Väter…». So erzeugte die Reiseliteratur und ihr Konzept der «klassischen Stellen» eine Herkunftsgeschichte der Nation als Ort, zu dem sie eine Wahrnehmungsanleitung mitlieferte. Die «klassische Stelle», die «historische Stätte» blieb nicht ein Narrativ, sondern wurde zu einem realen Ort gemacht.

Die Schlacht am Morgarten und ihr Schlachtfeld wurden um 1800 auch ausserhalb von Reiseführern ins Bild gesetzt, etwa auf Druckgrafiken oder Fresken. Das zweite Unterkapitel fragte nach einer Motivgeschichte dieser Bilder, die zwar immer auch für den Besuch des Schlachtfeldes warben, aber auch zeitgenössische Vorstellungen spiegelten, wie die Vormoderne aussah. Die Illustrationen in den spätmittelalterlichen Bilderchroniken waren den Besuchern um 1800 wahrscheinlich kaum bekannt. Damit liesse sich erklären, weshalb die Radierungen von 1800 keine Anleihen an die Bilder von Tschachtlan und Schilling machten.

Eine Fahne und ihre Inszenierungen
Zwei Objekte und die 500-Jahr-Feier von 1815

Für Reiseautoren um 1800 war kein historisches Material notwendig, um die Vergangenheit zu evozieren. Gab es um 1800 überhaupt Material, das mit der Schlacht in Verbindung gebracht wurde? In der Zeitspanne von 1780 bis 1830 waren zwei Objekte bekannt, die der Schlacht zugeschrieben wurden: Die sogenannte Morgartenfahne und der Hünenberger Pfeil. Wie wurden diese Objekte in den 500-Jahr-Gedenkfeiern von 1815 in Schwyz inszeniert?

Nach dem Rückzug der französischen Truppen aus der Schweiz 1813 herrschten grosse innenpolitische Spannungen, die die Schweiz an den Rand eines Bürgerkriegs brachten. Am Wiener Kongress 1814/15 verhandelten Gesandte über die Neuordnung Europas und der Schweiz nach den Revolutionskriegen. Unter diesem diplomatischen Druck einigten sich die zerstrittenen Kantonsvertreter in der Schweiz im Sommer 1815 auf einen neuen Bundesvertrag, der einen losen Staatenbund von 24 souveränen Kantonen und Halbkantonen begründete. Der Bundesvertrag wurde am 7. August 1815 in Zürich feierlich beschworen.190

Wenige Wochen später, vom Sonntag, dem 24., bis Mittwoch, den 27. September 1815, feierte man während drei Tagen in Schwyz die 500-Jahr-Feier der Schlacht am Morgarten. Vom Programm der Feierlichkeiten geben die Quellen leicht abweichende Auskünfte. Zeichnet das Tagebuch des Schwyzer Pfarrers Joseph Thomas Fassbind, der dem Anlass mit gemischten Gefühlen gegenüberstand und dessen Tagebuch nur in einer Abschrift aus dem 19. Jahrhundert erhalten ist, ein zuverlässigeres Bild als der möglicherweise überholte Programmentwurf der vorbereitenden Kommission an den Regierungsrat?191 Am Montag, 25. September, sowie am Mittwoch und Freitag sei abends «ein dramatisches Spiel, oder die Morgarten-Schlacht, allemal treffliche Musik und Musik-Konzert» aufgeführt worden, schreibt Fassbind. Der Eintritt für das Drama habe 26 Dublonen betragen. Möglicherweise fanden auch ein Konzert und ein Schiessen statt – Fassbind spricht allgemein von «Schiessen, Comedien, Musik usw.»192 Der Kommissionsentwurf hatte für Dienstagmittag eine Tafel, an der jeder sein Essen bezahlt, vorgeschlagen, über deren Umsetzung Fassbinds Tagebuch jedoch schweigt.193

Fassbind und die Kommission erwähnen einstimmig eingeladene Musiker aus den Nachbarkantonen, die mit Schwyzer Musikern zusammen das Jubiläumsorchester gebildet hätten. Fassbind beziffert die Zahl der eingeladenen Musiker mit 40. Diese seien «in alle Häuser einquartiert worden».194 So erübrigte sich vielleicht das «Lustlager», eine Art Gästeunterkunft, für welches die Kommission «1 Offizierszelt und 50 andere Zelte» aus Bern bestellen wollte.195 Die Organisatoren rechneten jedenfalls mit mehr auswärtigen Gästen, als die Gasthöfe in Schwyz aufnehmen konnten.

Aufgeführt wurde das Schauspiel Morgarten, oder der erste Sieg für die Freiheit. Ein helvetisches Staats-Schauspiel in drei Aufzügen, welches der Politiker Karl Müller-Friedberg bereits 1781 drucken und 1791 in Solothurn aufführen liess.196 Gewidmet den «freyen Männern von Uri, Schwyz und Unterwalden, Urvätern der helvetischen Freyheit», pries das langatmige Stück die Tugend, Freiheitsliebe und Todesbereitschaft der Heldenväter.197 Als kurzer Einblick in den Wortlaut seien zwei Zeilen zitiert: «Stauffach: So rächt sich der Edle, der Helvetier. Er verachtet, und vergisst.»198 Und: «Das Eisen schmilzt wie Wachs unter der schweren Hellebarde.»199 In der Schlachtdarstellung folgt Müller-Friedberg grösstenteils Tschudis Erzählung und betont, dass die Waldstätter auch in grösster Not die Hilfe der Verbannten ablehnten. Das «ehrwürdige», «geweihte» Panner von Schwyz hat in Müller-Friedbergs Schauspiel ebenso seinen Auftritt200 wie der Pfeil von Hünenberg, dessen Absender ein aargauischer «Edelmann» sei.201 Unter den Urner Mitkämpfern findet sich auch Tell, der den Pfeil schiesst, «der schon einmal für die Freyheit flog».202 Nicht nur der Warnpfeil kommt also im Stück vor, sondern auch jener Pfeil, den Tell auf den Apfel geschossen hat, fliegt während der Schlacht nochmals durch die Luft – sozusagen ein Pfeil aus der Vergangenheit.

 

Der Höhepunkt des Jubiläums fand am Mittwoch, 27. September statt. Die weltlichen und geistlichen Amtsträger versammelten sich um halb acht Uhr beim Rathaus. Um acht Uhr begleiteten die Herren einen Umzug zur nahen Kirche. Ein Schwyzer in alter Tracht trug das «Panner, so an der Morgartnerschlacht gebrauchet worden», vom Rathaus in die Kirche, begleitet von zwölf Männern, die «in alter Schwyzer Tracht mit Hellenparten erschienen, 4 von Schwyz, 4 von Uri, 4 von Unterwalden».203 Laut Fassbind gingen 100 Soldaten voraus und weitere 100 folgten dem Festzug. Ein «Knäblein trug einen Schild, worauf die Namen der Schlachten geschrieben standen, an denen dieses Panner wehte».204 Nach dem Gottesdienst brachte dieselbe Gruppe die Morgartenfahne «unter militärischer Bedeckung» zurück ins Haus von Alois Reding, der die Fahne in seinem Privathaus aufbewahrte, wie es der Bannerherr üblicherweise tat.205 Das «Panner» wurde wie eine Reliquie inszeniert: exklusiv in einer Prozession und einem Gottesdienst präsentiert und dann wieder aus den Augen des Publikums gebracht.

Laut Dekan Gissler, der gleich eine Rede halten sollte, war die Fahne an den Schlachten in Morgarten, Laupen, Sempach, Murten, Grandson und Bellenz, also von 1315 bis 1503 sechsmal, «das Vereinigungszeichen der Schwyzer» gewesen. Dieser Kumulierung von Schlachten unter einer Fahne widerspricht die neuere Forschung.206 Die Schwyzer haben dieser zufolge im 14. Jahrhundert eine Fahne nur einmal für eine Schlacht verwendet. Im Bundesbriefmuseum in Schwyz sind heute auch die Schwyzer Standespanner von Laupen 1339 und Sempach 1386 ausgestellt.207


Abb. 13: Die Morgartenfahne: Das Seidentuch wurde in den 1980er-Jahren textilhistorisch untersucht und auf den Anfang des 14. Jahrhunderts datiert.

Beim Banner, heute meist Morgartenfahne genannt, handelt es sich um ein rechteckiges, an den Rändern leicht angegriffenes Seidentuch, das ursprünglich rot eingefärbt, aber ohne Aufdruck war. In einer Ecke des Seidentuchs ist ein Zettel aus Pergament befestigt, auf dem die Fahne in Ich-Form Auskunft gibt: «Ao. Mcccxv. Den xcj. Wintermonat, halfen die von Schwytz mit hilf deren von Ury unndt Unterwalden under mir hertzog Lüpolt von Österrich obsigen am Morgarten.»208 Der Zettel wurde allerdings erst im 16. oder 17. Jahrhundert verfasst.209 Auch auf den anderen Schwyzer Landesfahnen wurden in derselben Zeit Zettel mit ähnlichem Wortlaut befestigt, was die «Personifikation dieser Feldzeichen» zeige, wie der Historiker Oliver Landolt schreibt.210 Die Morgartenfahne gilt heute laut der Historikerin Annina Michel als «einziges Objekt, das direkt mit der Schlacht am Morgarten in Zusammenhang steht».211 In der Morgartenfeier von 1815 erfüllte sie eine wichtige Funktion in der öffentlichen Inszenierung der Schlacht und wurde als Reliquie und Denkmal behandelt.

Die Morgartenfahne und andere Schwyzer «Siegestrophäen», wie sie der Schwyzer Kanzleidirektor Martin Styger 1915 nennt, waren angeblich während der Helvetik nach Bern gebracht worden und kamen wohl erst kurz vor 1815 nach Schwyz zurück. Martin Styger berichtet, dass die «Pergamenturkunde» an der Morgartenfahne versehentlich am Burgunder- und Schwabenkriegpanner gelandet und in Schwyz von Landammann Styger «nach genauer Prüfung, namentlich an Hand der Beschreibungen früherer Pannerfeste» wieder am richtigen Banner befestigt worden sei.212 Das Morgartenbanner war ein bereits bekanntes Inszenierungsmittel schwyzerischer Autonomie, in den Worten Oliver Landolts, der schwyzerischen «Landesehre», 213 das, vorübergehend verloren, nun wieder öffentlich in Besitz genommen wurde.

Nachdem die Morgartenfahne 1815 in einer feierlich-triumphalen Prozession vom Rathaus in die Schwyzer Pfarrkirche getragen worden war, wurde sie während der Rede des Dekans Gissler und des Hochamts in der Mitte der Kirche aufgestellt. Die Rede des Pfarrers von Attinghausen, dem betagten Dekan Gissler, druckte noch im selben Jahr der Verlag Benziger und Eberle in Einsiedeln als «Gelegenheits-Rede bey der fünfhundertjährigen Erinnerungsfeyer der Morgarter Schlacht».214 Gissler erzählte die Geschichte der Schlacht am Morgarten gemäss Tschudi und setzte sie mit längeren Bibelzitaten in Bezug zur Geschichte der Makkabäer und zum Kampf David gegen Goliath. Absicht seiner Rede war es, die jüngeren politischen Ereignisse in der Schweiz und vor allem den neuen Bundesvertrag in das Narrativ vom freien Vaterland einzuordnen und als Weg zu einer neuen Eintracht zu beschwören. Vor allem aber zielte Gisslers Rede darauf, das Bild der patriotisch Gesinnten als fromme und treue Beschützer der Kirche zu bestärken, wie es deren heldenhafte Väter gewesen seien. «Ja Brüder! Waldstätter! Ich beschwöre euch bey der heiligen Asche eurer Väter, […] ich beschwöre euch bey dieser ehrwürdigen Fahne, unter welche diese Treue und Eintracht geschworen, und sie am Morgarten zum Kampf und Siege angeführt hat […]». Und an die «Hochansehnlichen» unter den Gästen: «Verlassen Sie diese heilige Kriegsfahne, dieses kostbare Denkmal väterlicher Tapferkeit nicht, bis Sie unter demselben Nachfolge den Vätern, Treue den Bünden, und Eintracht den Brüdern gelobet haben […]».215 Es folgte ein Segen des Standes Schwyz und der «ganze[n] hochlöbliche[n] Eidsgenossenschaft»: «Bewahre, segne, heilige uns alle. Amen.»216 Nach dieser patriotischen und religionspolitischen Rede hielt der Abt des Klosters Einsiedeln, Konrad Tanner, das Hochamt, welches ein Schwyzer Orchester, das mit den eingeladenen Musikern aus den Nachbarkantonen verstärkt war, begleitete.217 Gissler bezieht sich in seiner Rede immer wieder auf die Morgartenfahne («ehrwürdige Fahne», «heilige Kriegsfahne», «kostbares Denkmal väterlicher Tapferkeit») und inszeniert sie als Beweis für die Taten der «Väter» und bindendes Schwurmittel für die anwesenden stilisierten «Söhne».

Um 12 Uhr stand laut Fassbind «eine prächtige Mahlzeit […] für mehr als 100 Personen» bereit, an welcher der Abt Tanner Platz nahm.218 Nicht Geladene bezahlten ihr Essen selbst.219 Es seien «über 50 frömdi Priester […] und unzählig viel hiesig und frömdes Volk» dabei gewesen.220 Um 3 Uhr nachmittags gab das Orchester nochmals ein Konzert. Laut dem Kommissionsentwurf hätte abends um 8 Uhr ein Ball stattfinden sollen, Fassbind erwähnt für den Mittwochabend sowohl eine erneute Aufführung des Morgarten-Schauspiels als auch ein Konzert und eine «Komedie», an welcher der Einsiedler Abt teilnahm. Laut Fassbind habe es Abt Konrad Tanner an der 500-Jahr-Feier in Schwyz gefallen, und am Donnerstagmorgen sei er mit seiner Begleitung – fünf Pater, «2 Tozet Sänger, Kammerdiener, Sigrist und 2 Bedienten» – «hochvergnügt» wieder abgereist.221 Fassbinds Tagebucheintrag gibt einen gespaltenen Eindruck wieder. Unzufrieden notierte er, dass für «die Comedie» die Gottesdienste verschoben werden mussten. Das Jubiläum sei aber insgesamt «in speciem solemnissime», also auf höchst feierliche Weise abgehalten worden.222

Wer organisierte die 500-Jahr-Feier von Morgarten im turbulenten Sommer 1815? Der Text der Einladung spricht dafür, dass die aktuellen politischen Umstände den Anlass zur Feier gaben: «Man zählte gerade 500 Jahre seit der folgereichen Schlacht am Morgarten, von welcher die gesicherte Freyheit und Unabhängigkeit der Urkantone sich datiert und welchem wichtigen Ereignisse auch die übrigen Kantone ihre Freyheit und Selbständigkeit in der Folge zu verdanken haben. Es ist ein besonderes Zusammentreffen, dass gerade […] diese erkämpfte Freyheit neuerdings von den grossen Mächten Europas bestätigt und garantiert wird.»223 Dreimal wird in dem zitierten Ausschnitt der Begriff «Freyheit» erwähnt: Die Freiheit, die sich die Urkantone 1315 sicherten, die Freiheit, die daraus auf ungenannte Weise für die übrigen Kantone erwuchs, und die Freiheit, die in der Gegenwart 1815 am Wiener Kongress bestätigt werde. Über den elastischen Begriff der Freiheit schlagen die Veranstalter der Gedenkfeier einen Bogen von der Schlacht am Morgarten in die politische Gegenwart von 1815.

Im September 1815 wurde in Schwyz die Schlacht am Morgarten auf neuartige Weise in einem Festspiel mit Unterhaltungsprogramm sowie anhand von Objekten, die die Geschichte verkörperten, inszeniert: Fahne, Hellebarden und Trachten. Die Fahne wurde als Reliquie und als Symbol für die Vorsehung Gottes in einer Reihe siegreicher Schlachten gefeiert. Diese Nutzung der Banner, die es bereits vor 1798 gab, verstärkte sich im Lauf des 19. Jahrhunderts. Ab 1822 wurden an den Schützenfesten die Schlachtfahnen mitgetragen und, laut Frei, «hoch verehrt».224

Ebenfalls wichtige Inszenierungsmittel an der Gedenkfeier von 1815 waren Hellebarden und Trachten. Die Verbindung von Hellebarden mit der Schlacht am Morgarten kann sich auf die Chronik von Johannes von Winterthur berufen, der in seiner Schlachterzählung von 1340 die «helnbarta» erwähnt.225 1815 werden die Hellebarden als typisch mittelalterliche Waffen der Schwyzer inszeniert. Trachten waren 1815 hingegen ein neues Inszenierungsobjekt. Im Historischen Lexikon der Schweiz werden sie als regionsspezifische, dem Wandel bewusst entzogene, festliche Kleidung einer ländlichen Bevölkerung beschrieben, die im 18. Jahrhundert im Sinne einer «Erfindung von Tradition» (Eric Hobsbawm) kreiert wurde.226 Trachten zeigten 1815 ein gewachsenes kantonales und ländliches Selbstverständnis und sollten eine «typische» Schweizer Bevölkerung ins Bild setzen. Vermutlich wurde die Nachfrage nach Trachtenbildern auch von einer touristischen Käuferschaft angeregt.

Ein weiteres Inszenierungsobjekt von Morgarten ist der Pfeil von Hünenberg.227 Zwar taucht er in den Quellen über die Schwyzer Feierlichkeiten von 1815 nicht auf, doch soll im selben Jahr der Luzerner Patrizier Anton Zurgilgen den Pfeil der Goldauer Familie Zay geschenkt haben. Diese bestätigte schriftlich den Besitz des Pfeils 1862.228 In den 1880er-Jahren war der Pfeil im Hotel Rigi in Arth als Wandschmuck ausgestellt. 2015 wurde jener Pfeil, den die Korporation Unterallmeind in Arth als «originalen» Hünenberger Pfeil ausgestellt hatte, archäologisch und mit Radiokarbonanalyse auf sein Alter überprüft. Das Ergebnis war eine Datierung sowohl der Geschossspitze als auch des Holzes in die zweite Hälfte des 14. Jahrhunderts, wobei festgehalten wurde, dass das Holz erst nach 1315 zu einem Pfeil verarbeitet wurde.229 Es ist vermutlich kein Zufall, dass ein Hünenberger Pfeil genau im Jahr 1815 verschenkt worden sein soll. Die Gedenkjahre erhöhen die Nachfrage nach historischem Material, mit dem sich einzelne Personen, Familien oder die Obrigkeit inszenieren können.

Obwohl man 1815 in Schwyz plante, wieder jährlich eine Morgartenfeier zu veranstalten, waren die Gedenkfeiern der 1820er- und 1830er-Jahre nur kleine Feiern, die 1833 versandeten. 1821 gründeten Schweizer Studenten, die an ausländischen Universitäten studierten, in Aarau den sogenannten Sempacherverein, der Reisen zu den alteidgenössischen Schlachtfeldern organisierte, wo die Mitglieder Erinnerungsfeiern abhielten.230 Ziel des Vereins war es, die Vaterlandsliebe zu stärken und «die heiligen Stätten des Vaterlandes, geweiht durch die Grossthaten unserer edlen Väter, in eidsgenössischer Eintracht zu besuchen […]». Diese als «patriotische Wallfahrten» bezeichneten Ausflüge führten den Sempacherverein nach Sempach, auf die Ufenau bei Stans, nach Murten, Näfels, Stoss, Schwaderloh und nach St. Jakob an der Birs. 1829 löste sich der Sempacherverein wieder auf. Morgarten fehlte aus unbekannten Gründen auf der Ausflugsliste des Sempachervereins.231

 

Trotz dieser wenig erfolgreichen Fortsetzungen kann man behaupten, dass mit der Inszenierung von 1815 ein Schema von Morgartenfeiern erfunden wurde. Das historische Gedenkjahr, das sich auf eine runde Zahl berufen kann, wurde in grossem Rahmen mit Unterhaltungsangeboten als Symbol für Eigengeschichte gefeiert, womit eine Beziehung zwischen Vergangenheit und Gegenwart hergestellt werden sollte.232