Morgarten

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Klassische Stelle Morgarten
Heinrich Zschokkes Katalog der klassischen Stellen, 1836

Mit der Formulierung «klassische Stellen» benutzten Johann Gottfried Ebel und Gerhard Anton von Halem einen Begriff, der 1836 vom Schriftsteller und Politiker Heinrich Zschokke eingeführt wurde. Zschokke hat ihn in seiner Publikation Die klassischen Stellen der Schweiz und deren Hauptorte in Originalansichten in den Titel aufgenommen – ein zweibändiges, mehrfach aufgelegtes Werk, das sich als Mischung von Bildband, Geschichtsbuch, Reisebericht und Reiseführer umschreiben lässt.137 Die von Zschokke ausgewählten und beschriebenen «klassischen Stellen» gelten seit Ebels Anleitung als etablierte Sehenswürdigkeiten der Schweiz.138 Wie wurde die klassische Stelle Morgarten visualisiert?

Das sechste Kapitel von Zschokkes Klassischen Stellen heisst Die Kapelle bei Morgarten und ist mit einem Stich illustriert. Er zeigt die Schlachtkapelle an der Schornen von Süden gesehen, mit einer Frau auf dem Strässchen, die einen Korb trägt, und weit im Hintergrund der Ägerisee und Berghänge.

Zschokke beschreibt den Standort der Schornenkapelle als Mitte zwischen zwei «Siegesfeldern».139 Die Schlacht am Morgarten von 1315 und der Kampf zwischen den Schwyzern und den Franzosen von 1798 werden in einem Atemzug nebeneinandergestellt: «Auf der Höhe, zwischen den beiden Siegesfeldern, steht neuerbaut nun die Schornen-Kapelle, ohnweit dem Morgarten und dem Rothenturm. Sie ist zugleich das Denkmahl der Faustrechtszeiten, vom XIII bis zum XIX Jahrhundert […].»140 Die Schornenkapelle ist die «klassische Stelle», an der sich gleich zwei kriegerische Ereignisse besuchen liessen. Indem Zschokke beide Ereignisse den «Faustrechtszeiten» zuordnet, schafft er einen gemeinsamen Rahmen: Die Wandbilder vergegenwärtigen die mittelalterliche Schlacht, und die Mauern des Turms – das Materielle, nicht die Ansicht des Turms – fungieren als Zeugen des Mittelalters und der Gegenwart.


Abb. 4: Das Frontispiz der ersten Auflage von Heinrich Zschokkes Werk Die klassischen Stellen der Schweiz und deren Hauptorte in Originalansichten (1836) ziert ein Stahlstich, der das Konzept der klassischen Stellen gut ins Bild setzt – ein ländlicher Ort vor beeindruckender Kulisse, bestückt mit «typischen» Figuren und Bauten.


Abb. 5: Die klassische Stelle Morgarten in Zschokkes Werk. Wenige Jahrzehnte später wird eine Postkarte produziert werden, die eine Fotografie der Schlachtkapelle aus derselben Perspektive und ebenfalls mit einer Frau mit Korb auf dem Weg zeigt. Es handelt sich hierbei also um ein Motiv, das in ein neues Bildmedium wandern wird.

Was meint Zschokke mit dem zweiten «Siegesfeld» von Rothenthurm? Im April 1798 gaben die Regierungen von Schwyz, Nidwalden, Glarus und Uri bekannt, dass sie die soeben ausgerufene helvetische Verfassung ablehnten. Gründe waren Ängste um die katholische Religion, um Privilegien der herrschenden Schicht, um die kantonale Souveränität und vor der neuen Staatsordnung.141 Die Verfassung der Helvetischen Republik machte aus der Eidgenossenschaft der zwölf Orte mit ihren «Zugewandten Orten», eigentlichen Untertanengebieten, einen zentral organisierten Staat mit Gewaltentrennung. Die Schwyzer Truppen wurden von Alois Reding angeführt, der nach seiner Rückkehr aus spanischen Kriegsdiensten 1796 zum Landeshauptmann von Schwyz ernannt worden war.142 Redings Truppen besetzten widerstandslos Luzern und erreichten über den Brünigpass das Berner Oberland, zogen sich dann aber wieder nach Schwyz zurück, weil sie im Berner Oberland keine Unterstützung erhielten und weil inzwischen französische Truppen über Zug, Luzern und den Sattel Richtung Schwyz vorstiessen.143 Die Schwyzer Truppen unterlagen den Franzosen bei einem Gefecht bei Schindellegi. Am 2. Mai 1798 schlugen sie jedoch bei Rothenthurm an den Hängen des Morgartenbergs die französischen Truppen zurück. Einzelne Autoren sprechen deshalb von Gefechten bei Morgarten, als Ort und Name des Hauptgefechts gilt jedoch Rothenthurm.144 Angesichts der aussichtslosen Lage stimmte am 4. Mai 1798 die Schwyzer Landsgemeinde einer Kapitulation zu: Die französischen Truppen gewährleisteten religiöse Freiheit sowie Verzicht auf Entwaffnung und Besetzung des Kantons Schwyz. Diese günstigen Kapitulationsbedingungen soll der Respekt gegenüber dem Schwyzer Widerstand bewirkt haben.145

Alois Reding, der «Sieger von Rothenthurm», wurde zu einer wichtigen Symbolfigur, der Gedichte, Schauspiele, Reiseberichte und historiografische Werke huldigten.146 Schon bald besuchten Reisende die Kampforte von 1798. Heinrich Zschokke, neu helvetischer Regierungskommissär, freundete sich mit Alois Reding an und berief sich in seiner Schilderung des Schwyzer Widerstandskampfs Geschichte vom Kampf und Untergang der Schweizerischen Waldkantone, besonders des alten eidgenössischen Kantons Schwyz von 1801 symbolkräftig auf Redings Angaben.147 Zschokke verglich in dieser Publikation den Kampf gegen die Franzosen von 1798 mit den Heldentaten der mittelalterlichen Eidgenossen und rückte folglich die Schlacht am Morgarten in die Nähe des Gefechts bei Rothenthurm und der Gegenwart: «Europa hat kein Land, worin die Geschichten der vaterländischen Vorzeit so unvergessen und neu geblieben, […] als in jenen Gebirgen. Seit den Thaten Tells und dem Kampfe von Morgarten scheinen nur so viele Jahre verflossen zu seyn, als es Jahrhunderte waren.»148 Ist an der «klassischen Stelle» Geschichte präsent, weil die Zeit dort nur sehr langsam vergeht? Der Historiker Eric Godel formulierte den Gedanken von der «Vorstellung einer immobilen Geschichte in den Alpen».149 Dieses Geschichtsbild sei von Aufklärern konstruiert worden und finde sich in der Literatur und in Reiseberichten. Die Vorstellung einer immobilen Geschichte legt nahe, dass eine Zeitreise möglich sei, wenn man diese Gegenden aufsuche. Eine Formulierung Heinrich Zschokkes von 1822 lässt sich in diese Richtung deuten: «Die Eidsgenossenschaft stand zuletzt [im 18. Jh.] in der Mitte des verwandelten Welttheils einsam da; doch merkwürdig, oder ehrwürdig, wie eine Ruine fremder Zeit.»150

Die Eidgenossenschaft, wie sie bis 1798 bestand, wird von Zschokke als unverändertes Produkt des Mittelalters dargestellt.151 Die Reisenden seien begeistert gewesen von der anmutigen und majestätisch wilden Natur und ihrer Bevölkerung «im Einklang» damit.152 Und dies, so betont Zschokke, obwohl die meisten Schweizer in Unfreiheit gelebt und die einzelnen Orte sich bekämpft hätten. «Klassische Stellen» sind ein Anziehungspunkt für diese Zuschreibungen: Es sind Orte, die eine Bühne für das Vergegenwärtigen einer Vergangenheit bieten. Sie werden auch bei Zschokke an Gedenkorten wie der Kapelle in der Schornen festgemacht. Die Frage um die exakte Einheit des Raums mit dem historischen Ereignis kümmert nicht, solange die Blickrichtung und die Gefühlslage vorgegeben sind. Was für eine Rolle spielten die klassischen Stellen für das Geschichtsbild der helvetischen Republik?

Auch die zentralistische Helvetische Republik legitimierte sich damit, dass sie von den Alten Eidgenossen, dem friedlichen Hirtenvolk in den Alpen, abstammen würde. Geschichte diente in der Helvetischen Republik als Integrationsmittel.153 Dabei übernahmen die nationalen Propagandisten der Republik Idealbilder «der Schweiz», «des Schweizers» und Narrative seiner Geschichte aus der Reiseliteratur.154 Reiseberichte lieferten die Vorlagen für Beschreibungen der eigenen Nation. Zwei Verfasser bekannter Reisebeschreibungen, Johann Gottfried Ebel und Johann Michael Affsprung, erhielten quasi für ihre nationalen Verdienste das Helvetische Bürgerrecht verliehen.

(Reise-)Schriftsteller hatten in den zeitgenössischen Bewohnern der Schweiz die direkten Nachfahren der Eidgenossen gesehen, die für die Freiheit gekämpft hatten – zum Beispiel Gerhard Anton von Halem 1790. Acht Jahre später kennen die französischen Eroberer diese National- und Geschichtsbilder aus der Literatur und die Helvetische Regierung propagiert sie für eine nationale Einigung.

Heinrich Zschokke schliesst seinen Text über die «klassische Stelle» Morgarten mit einer Landschaftsbeschreibung: «Hirtenwohnungen», aber keine Bewohner bevölkern das Bild – die imaginierten Gestalten der Geschichte stehen an ihrer Stelle. Der Schornenturm harrt als «Zeuge des barbarischen Mittelalters» besserer Zeiten. Was für eine Rolle spielt die Landschaftsbetrachtung für die klassische Stelle? Zschokke führt aus: «Es ist hier wohl eine der heiligsten Stätten des Schweizerlandes; aber auch, hier ob Morgarten, eine der schönsten, weitumher. Der Blick verliert sich träumerisch in einer wunderlieblichen Idyllenwelt.»155 Zschokkes Klassische Stellen erzählen nicht nur von den Ereignissen, deren man an jenen Orten gedenkt, sondern geben immer auch eine Blickempfehlung für den ästhetischen Genuss mit.156

Dass eine heilige Stelle auch schön und eine Hirtenidylle mit Alpenkranz ist, entspricht dem Konzept. Dieses besagt, dass der Ort eines wichtigen historischen Ereignisses, sei dieses schrecklich oder schön, eindrucksvoll und erhaben zu sein habe. Der Historiker Daniel Frei schreibt, dass man in der Helvetik zwei anschauliche Vorstellungen einer Schweiz propagiert habe. Man reduzierte die Schweiz auf die Orte der Befreiungstradition oder man konzentrierte sich auf die Darstellung einer «typisch schweizerischen» Ideallandschaft. Die Vorstellung der Schweiz als Landschaft der Befreiungstaten habe die vielfältige Schweiz in Form von «Szenen» veranschaulicht, die Mythen durch Lokalisierung greifbar gemacht und das Territorium in geweihten, klassischen Boden der Freiheit, den es zu verteidigen galt, verwandelt.157 Der Morgarten-Stich in Zschokkes «klassischen Stellen» ist sowohl typisch schweizerische Landschaft («Idyllenwelt») als auch lokalisierte, greifbar und anschaulich gemachte Befreiungsgeschichte («hier ob Morgarten»).

 

Georg Simmel sah den «Reiz der Ruine [darin], dass hier ein Menschenwerk schliesslich wie ein Naturprodukt empfunden wird.»158 Zschokkes Konzept der «klassischen Stelle» verwandelt auf ähnliche Weise die Schauplätze von Geschichte in pittoreske Szenen, in zeitentrückte Ansichten, die ohne Vermittlung überdauert hätten und deshalb für die Evokation von «merkwürdiger» Geschichte und damit verbundener Vorstellungen geeignet sind.159 Die historische Stätte muss dabei offensichtlich kein Überrest aus der Zeit des Ereignisses sein. Auch Gedenkkapellen, ein Denkmal, ein Wohnhaus oder Landschaftselemente (und Geschichte) können wie eine Ruine, wie ein Naturprodukt, wahrgenommen werden.

Morgarten in Radierungen um 1800

Ruinen, Kapelle, Landschaft – wer stellte Bilder der «klassischen Stelle» Morgarten her und was zeigten diese Bilder? Die folgenden zwei Bilder sind heute als golden gerahmte Einzelblätter in Archiven und Bibliotheken sowie auf Online-Verkaufsportalen zu finden. Sie zierten im 19. und 20. Jahrhundert vermutlich bürgerliche Wohnzimmer. Hergestellt wurden diese Bilder aber um 1800 als Illustrationen von Publikumsliteratur über die Schweiz und als gut verkäufliche Einzelblätter, deren Käufer Ansässige und Reisende waren.

Heinrich August Ottokar Reichards Malerische Reise durch einen grossen Theil der Schweiz von 1805 ist mit 56 Kupferstichen illustriert, einer davon ist mit «Morgarten am Aegeri-See» betitelt.160 Heinrich Füssli zeichnete ein alleinstehendes Holzhaus an einer Seebucht und locker bewaldete Berghänge im Hintergrund. Am linken Bildrand ist ein Uferweg zu sehen. Reichards Variante lehnte sich nahe an die kolorierte Radierung des Basler Künstlers Achilles Benz an, die 1796 in Heinrich und Johann Heinrich Füsslis Merkwürdige Gegenden der Schweiz erschien.161 Die Radierung liefert die Sehanleitung für Morgarten mit: Der Bildbetrachter schaut einer am Boden sitzenden Frau und ihrem Begleiter mit Hut und Spazierstock, der Richtung See und Haus deutet, über die Schultern. Sie lenken den Blick auf die Sehenswürdigkeit, zeigen den touristischen Blick und fordern den Bildbetrachter auf, sich an ihre Stelle zu begeben.163 Zwei Männer spazieren, leicht vom Schilf verdeckt, rechts vom Haus dem Uferweg entlang. Die Zeichnung zeigt keine Bezüge zur Schlachtgeschichte. Der Ort Morgarten, den man spazierend besuchen sollte, ist ein sehenswürdiges ländliches Idyll.


Abb. 6: Der Kupferstich Morgarten, am Aegeri-See (1794) beruht auf einer nicht erhaltenen Zeichnung des Historienmalers (Johann) Heinrich Füssli und wurde von Heinrich Meyer radiert.


Abb. 7: Das Haus auf der kolorierten Radierung Morgarten au lac d’Ageri / Canton de Zug (1797) von Heinrich Füssli (Zeichner) und Achilles Benz (Radierer) entspricht laut Rolf E. Keller dem realen Haus Schranggen am Ägerisee.162 Beide Radierungen erschienen in Publikationen, die sich an eine touristische Käuferschaft richteten.


Abb. 8: Der Kupferstich des französischen Malers Nicolas Perignon erschien als Illustration im Buch Tableaux topographiques von Beat Fidel Anton Zurlauben von 1780.


Abb. 9: In der dreizeiligen Legende zu seiner Schlachtdarstellung von 1788 beschrieb Lorenz Ludwig Midart die «Bataille de Morgarten» als doppelten Sieg der drei Waldstätte über den Herzog Leopold «Duc d’Autriche». Dieser sei sowohl in Morgarten als auch bei Alpnach geschlagen worden, wobei er 1500 Männer verloren habe, während die Sieger – nur 1300 an der Zahl – 51 Tote zu beklagen gehabt hätten. Den Schlachtverlauf erzählt Midart nach Ägidius Tschudi, so erwähnt er 50 Steinwerfer an einer engen Wegstelle neben dem Ägerisee.

Auch auf einem Stich, den der französische Hofmaler Nicolas Perignon vor 1780 herstellte, erscheint Morgarten als ländliches Arkadien. Perignons Stich zeigt eine hügelige Voralpenlandschaft ohne Bezug zur Region – nicht einmal das Hauptmotiv von Morgarten, ein See, ist abgebildet. In der Bildlegende wird die Kapelle St. Jakob an der Schornen erwähnt, die aber nirgends zu sehen ist. Wiederum sitzen hingegen die Besucher mitten in der Landschaft und markieren über ihre Schultern die Ansicht. Am Horizont der idyllischen Landschaft ist die Alpenkette zu sehen.164

Schlachtfelder seien immer auch imaginierte Räume, die von Literatur, Kunst und anderen Medien «nicht mimetisch abgebildet, sondern konstruiert» werden, betonte der Historiker Bernd Hüppauf.165 Seit dem Mittelalter hat die europäische Malerei die Schlacht als Bildmotiv überhöht und das Schlachtfeld in ein «ästhetisches Gefilde», eine schöne Landschaft, eine «klassische Stelle» verwandelt.

Nicht das zeitgenössische Morgarten, sondern die Ereignisse von 1315 zeichnete der Künstler Lorenz Ludwig Midart (1733–1800). Midart war ursprünglich Advokat am Parlament von Metz, lebte ab 1772 als Sprachlehrer in Solothurn und war später Pagenhofmeister am Hof des Fürstbischofs von Basel im jurassischen Pruntrut. Ab den 1770er-Jahren stellte Midart in Solothurn Radierungen, Stadtveduten und Pläne her. Zwischen 1779–1788 fertigte er sechs Schlachtdarstellungen zur mittelalterlichen «Befreiungsgeschichte» der Schweiz an, darunter eine grossformatige kolorierte Radierung zur Schlacht am Morgarten, die als Einzelblatt verkauft wurde.166 Midarts Stich zeigt ein räumlich und zeitlich ausgedehntes Bild der Schlacht, eine Art Panoramaversion der Schlacht.167 Links im Bild rollen Männer Steine und Baumstämme auf die habsburgischen Ritter. Einige Ritter versuchen mit ihren Pferden durch den See zu fliehen, andere ertrinken im Wasser. Auf einer Wiese am See prallen zwei von Lanzen gekränzte Gruppen aufeinander, im Vordergrund finden Zweikämpfe statt. Im Hintergrund ist der Letziturm mit einem angebauten Tor gezeichnet, durch das eine Kolonne von Kämpfern mit Lanzen und zwei Fahnen strömt. Noch weiter im Hintergrund ist die Kapelle in der Schornen sichtbar. Herzog Leopold ist nicht eindeutig auszumachen, möglicherweise ist er einer der Reiter am Seeufer am linken Bildrand.

Diese bildnerischen Darstellungen von Morgarten um 1800 lassen sich mit dem Konzept des Pittoresken deuten. Dessen Idee wurde in den 1820er-Jahren formuliert, wobei die Landschaftsmalerei des 18. Jahrhunderts eine grosse Rolle spielte.168 Laut James Buzard verlange das Pittoreske nicht eine Szene, die «wie» ein Gemälde aussehe, sondern eine harmonische Szene (oder einen Schauplatz) aus einem bestimmten Blickwinkel. Bei pittoresken Bildern werden Alltagshandlungen und die Bevölkerung weggelassen. Woher wusste Midart, wie er die Schlacht zeichnen sollte, damit sie als Schlacht am Morgarten erkannt wurde? Was waren mögliche Vorlagen?

Rückblende: Morgarten in den Bilderchroniken

Die drei ältesten bildlichen Darstellungen der Schlacht am Morgarten, die überliefert sind, wurden für spätmittelalterliche Chroniken gezeichnet. Die früheste bildliche Darstellung findet man in Benedikt Tschachtlans und Heinrich Dittlingers Berner Chronik von 1470. Die beiden Angehörigen von führenden Berner Ratsfamilien stellten für ihre Familien eine illustrierte Chronik her, die als erste Bilderchronik in der Eidgenossenschaft gilt – ein Format, das im Spätmittelalter viele Nachfolger fand.169 Möglicherweise hat Tschachtlan selbst die 230 farbigen Bilder gemalt.

Auf der Tschachtlan-Zeichnung ist der See im Vordergrund ein schmales Gewässer in einem Geländeriss. Zu sehen sind wenige Menschen auf einer abschüssigen Wiese. Aus dem Wald treten die mehrheitlich berittenen Habsburger, einige von ihnen ertrinken jedoch bereits im See. Herzog Leopold ist an seinem dekorierten Helm und Pferd sowie am rot gekleideten Hofnarr an seiner Seite zu erkennen. Die Habsburger tragen ihr rot-weisses Wappen mit sich und sind einzeln mit einem roten Kreuz auf Brust oder Helm gekennzeichnet, die Schwyzer tragen ein hoch aufragendes rotes Wappen mit einer Jesus-Kreuzigung in der oberen rechten Ecke mit sich und auf ihren Kleidern und Helmen ein weisses Kreuz.172 Zentrales Geschehen ist die Konfrontation zwischen dem vordersten, schwerttragenden Habsburger und dem selbstbewusst wirkenden Eidgenossen mit einer roten Feder am Helm, der die Spitze seiner Hellebarde seinem Widersacher auf die Brust gesetzt hat, direkt auf das dort angebrachte rote Kreuz. Die beiden Gegner unterscheiden sich weder durch Kleidung, noch durch Bewaffnung, einzig die Pferde traben nur von Habsburgerseite herbei.


Abb. 10: Das älteste Morgartenbild: Benedikt Tschachtlans Berner Chronik von 1470 zeigt die Schlacht am Morgarten in einer Art stilisierten Verkleinerung.170


Abb. 11: Der Illustrator der Spiezer Chronik von 1483 – es ist umstritten, ob es ihr Schreiber Diebold Schilling selbst war171 – malte die Schlacht am Morgarten in einer ähnlichen Landschaftskomposition, aber mit mehr Figuren und Details als bei Tschachtlan.

Vergleicht man diese Zeichnung mit den weiteren zahlreichen Schlachtbildern in der Tschachtlan-Dittlinger-Chronik, so fällt auf, dass diese bühnenartige Geländedarstellung mit Wald, leicht abschüssiger Wiese und Protagonisten in ähnlicher Kleidung ein häufig verwendetes Modell ist. Die Chronikbilder sind schematisch aufgebaut und sehen einander sehr ähnlich. Eigentümlich am Bild der Morgartenschlacht ist nur der kleine See. Dennoch habe, so schreibt der Kunsthistoriker Michael Tomaschett, Tschachtlans Illustration einen «Bildtopos» geschaffen, der von zwei weiteren Bilderchroniken adaptiert worden sei.173 Worin besteht der Bildtopos von Morgarten?

Die Tschachtlan-Dittlinger-Chronik wurde bis 1787 privat aufbewahrt und kam nur einem kleinen Kreis von Familie und Gästen zu Gesicht. Quasi gleichzeitig, 1483, und ebenfalls in Bern, womöglich sogar im Austausch mit Tschachtlan, 174 verfasste der Schreiber Diebold Schilling der Ältere im Auftrag des Altschultheissen Rudolf von Erlach die Spiezer Chronik.175 Wie mit seinen drei früheren Chroniken war es Schillings Anliegen, Geschichte für moralische Belehrung zu nutzen und als politische Rechtfertigung für eine antiburgundische Politik Berns darzustellen.176 Schillings Chroniken beeinflussten das Geschichtsbild der frühen Neuzeit stark.

Die Spiezer Chronik zeigt vorne einen See mit ertrinkenden Rittern, dahinter eine abfallende grüne Wiese und auch hier einen dichten Wald, diesmal allerdings am rechten Bildrand. Die Habsburger nähern sich wieder von links, Leopold wiederum zu Pferd und von seinem Hofnarren begleitet, der ein Musikinstrument spielt. Die Habsburger werden wiederum durch ihre Fahnen, diesmal sind es vier, gekennzeichnet. Eine Burg in der oberen linken Bildecke soll vermutlich die Herrschaft der Habsburger darstellen. Die Gegner der Habsburger sind bei Schilling in der Unterzahl. Es sind zwei Gruppen, die die Habsburger angreifen. Die Gruppe im Bildhintergrund ist ähnlich gekleidet und bewaffnet wie die Habsburger und trägt drei Fahnen von Uri, Schwyz (mit fahnenfüllender Kreuzigungsdarstellung) und Unterwalden mit sich.177 Eine zweite Gruppe von Eidgenossen im Vordergrund trägt weder Rüstungen noch Helme, stattdessen farbige Kleider und rote Kopfbedeckungen, die mit je einer roten und einer weissen Feder geschmückt sind. Es könnte die Gruppe der Verbannten sein. Einer von ihnen ist mit einem weissen Kreuz auf der Rückseite des roten Oberteils gekennzeichnet. Auch wenn einige dieser Gruppe Schwerter und Hellebarden in der Hand tragen, werfen sie Steine auf ihre Angreifer. Einer der Steinewerfer im Bildvordergrund sinkt gerade, von einer Lanze getroffen, auf den Boden nieder. Vorgestreckte Lanzen markieren das Zusammenprallen der beiden Kampfgruppen, eine häufige Darstellungsweise auf den Schlachtenbildern in Schillings Chroniken, die mit der zeitgenössischen Bewaffnung von 1315 nichts gemein hat.

 

Das dritte der bekannten Chronikbilder der Schlacht am Morgarten stammt aus der Gemeiner loblycher Eidgenossenschaft […] Beschreibung des reformierten Theologen Johannes Stumpf, die dieser erstmals 1547/48 in Zürich drucken liess. Das heute einfachheitshalber «Reformationschronik» genannte Werk war mit vielen Holzschnitten ausgestattet, die grösstenteils der deutsche Illustrator Heinrich Vogtherr der Ältere im Auftrag des Zürcher Buchdruckers und Verlegers Christoph Froschauer angefertigt hatte.178

Vogtherrs Holzschnitt in Stumpfs Chronik zeigt wiederum einen See im Vordergrund – allerdings grösser als in den Vorgängerwerken und umringt von Häusern, Kirche, Kapelle und Zaun. Zwei Ritter in Rüstung schwimmen mit ihren Pferden durch den See. Ein einzelner Ritter mit geschmücktem Pferd reitet am Seeufer vom Kampfgeschehen weg, den Blick auf die schwyzerischen Kämpfer gerichtet – möglicherweise ist dies der fliehende Herzog Leopold.179 Auf dem Hang hinter dem See werfen Männer, die mit Kreuzen auf dem Rücken kenntlich gemacht sind, Steine in Richtung der mehrheitlich schon fliehenden Habsburger in Helm und Rüstung. Bei Stumpf ist die Flucht stärker betont als die Kampfhandlung.180 Die schwyzerischen Kämpfer tragen einheitliche Kleidung und eine leichte Rüstung mit Helm ohne Gesichtsvisier. Die Habsburger tragen viele kleine und grosse Fahnen mit sich, von denen jedoch alle blank sind. Ein habsburgischer Ritter und sein Pferd liegen im unteren Bereich des Schlachtfelds. Rechts am Bildrand, wo die Landschaft zerklüftet und felsig ist und Tannen statt Laubbäume wachsen, steht ein Turm, vermutlich der Schornenturm. In der rechten oberen Bildecke sind eine Kirche und ein Haus zu sehen, womöglich das Dorf Sattel.